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Sachbuch von Gunnar Hindrichs
Revolution philosophisch betrachtet

Philosophische Kategorien wie Recht, Gewalt, Macht oder Schönheit haben immer eine Rolle gespielt in historischen, politologischen oder soziologischen Werken zur Revolution. Doch der in Basel lehrende Philosoph Gunnar Hindrichs ist überzeugt: Eine "Philosophie der Revolution" hat bis jetzt gefehlt - deswegen hat er sie selbst vorgelegt.

Von Uli Hufen | 15.12.2017
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    Bisher wurde in der Philosophie der Kern der Revolution noch nicht beleuchtet (dpa/picture-alliance/Stringer)
    Anfang April 1917 begegneten sich bei einem Bankett in Petrograd das Alte und das Neue. Zar und Monarchie waren schon gestürzt, aber darauf, dass im Herbst desselben Jahres die Bolschewiki an die Macht kommen würden, hätte selbst Lenin keinen Rubel gewettet. Das Alte repräsentierte an diesem Abend Iwan Bunin, 46 Jahre alt, feinsinniger Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts und später erster russischer Literatur-Nobelpreisträger. Das Neue, das war Wladimir Majakowski, 23, Sohn eines Försters, König der Futuristen.
    "Ich saß bei Gorki und dem finnischen Künstler Gallen. Es fing damit an, dass Majakowski, ohne dass wir ihn dazu aufgefordert hätten, zu uns trat, einen Stuhl zwischen uns schob und von unseren Tellern zu essen und aus unseren Gläsern zu trinken begann.
    Gallen starrte ihn an, wie er wahrscheinlich ein Pferd angestarrt hätte, wenn man es in diesen Bankettsaal geführt hätte. Gorki lachte schallend. Ich rückte ein Stück zur Seite. Majakowski bemerkte das."
    "Hassen Sie mich sehr?", fragte er mich munter.
    Völlig unbefangen erwiderte ich, nein, das wäre zu viel der Ehre für ihn.
    Bunin hat diese Szene in seinem Revolutionstagebuch "Verfluchte Tage" verewigt, aber man liest leicht über sie hinweg. Es passierte genug Schlimmeres und Erstaunlicheres in Russlands Schicksalsjahr 1917. Wenn man die Szene allerdings genauer betrachtet, landet man schnell bei Begriffen und Kategorien, die zu verstehen helfen, was sich in Russland 1917 abgespielt hat und was eine Revolution eigentlich ist. Da ist der Regelbruch, den Majakowskij begeht. Da ist irgendwo im Hintergrund offenbar eine Macht am Werk, die diesen Regelbruch deckt. Da ist Majakowskijs jugendlicher Enthusiasmus. Da ist eine neue Freiheit und da ist andererseits der Schock, den deren freche Vorführung bei Bunin auslöst. Und über allem liegt spürbar eine Ahnung von Gewalt.
    Philosophische Kategorien wie Recht, Gewalt, Macht oder Schönheit haben immer eine Rolle gespielt in historischen, politologischen oder soziologischen Werken zur Revolution. Doch der in Basel lehrende Philosoph Gunnar Hindrichs ist überzeugt: Eine "Philosophie der Revolution" fehlt bis heute:
    "Zunächst mal hat mich eigentlich dazu bewogen, dass die Philosophie selber zur Revolution schweigt. … Es wird zwar gerne die radikale Geste beschworen, aber es wird eigentlich kein Begriff von der Revolution versucht zu entwickeln. Das wollte ich nachholen. Aus zwei Gründen, einmal um einen blinden Fleck der politischen Philosophie zu füllen und zum zweiten auch um das Selbstverständnis unserer Zeit und einen Begriff dieser Zeit zu finden."
    Der Kern der Revolution
    Anders als ein Historiker, der versuchen muss, die vielgestaltige Realität von 1789 oder 1917 zu beschreiben, versucht der Philosoph Hindrichs, der Revolution beizukommen, indem er sie auf ihren Kern reduziert. Den findet Hindrichs im Begriff des revolutionären Handelns. Revolutionäres Handeln bedeutet für Hindrichs, die allgemein anerkannten und geteilten Handlungsregeln einer Gesellschaft zu brechen, um selbst neue aufzustellen. Ziel ist mit den Worten von Hannah Arendt: "die Gründung von Freiheit".
    "Im Grunde ist das eine Umformulierung des Begriffs 'Autonomes Handeln'. 'Autonomes Handeln' heißt ja: "Selbst-Gesetz-gebendes Handeln". Das revolutionäre Handeln ist im strengen Sinne selbst-Gesetz-gebend."
    Es geht ums Verstehen
    Hindrichs agitiert und moralisiert nicht, er ruft zu nichts auf und er verdammt auch nicht. Es geht kühl und konsequent ums Verstehen. Dabei gelangt der Philosoph vom Begriff des revolutionären Handelns zunächst zum Recht, dann zu Macht und Schönheit und schließlich zur Religion. Schritt für Schritt, streng logisch, ebenso ein- wie erleuchtend.
    Wenn revolutionäres Handeln darin besteht, Regeln zu brechen, muss es zunächst um jene Regeln gehen, die am genauesten, nämlich schriftlich formuliert sind und deren Einhaltung Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist: die Gesetze, das Recht. Die Aufhebung von Recht und die Setzung neuen Rechts lässt sich selbst aber nicht mehr mit dem Begriff des Rechts erklären, sondern nur mit Macht und Gewalt.
    Mithilfe von Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie und Kants Idee der Geschichtszeichen geht Hindrichs darum der Frage nach, woraus sich eigentlich die Macht der Revolution ergibt. Seine Antwort ist verblüffend und leichter ex negativo zu verstehen: Die Macht der Revolution ergibt sich nicht, wie meist angenommen, aus der gelungenen Formulierung und Verbreitung von Gruppen- oder Klasseninteressen. Sie ergibt sich auch nicht aus realem Elend, Ausbeutung oder Krieg. All das fällt für Hindrichs unter den Begriff der Kritik der Lebensformen und erlaubt noch keine Erhebung aus der Immanenz des Gegebenen in die Transzendenz des unerhört Neuen.
    "Kritische Praxis und revolutionäres Handeln sind durch einen Sprung geschieden."
    Enthusiasmus und Schönheit der Revolution
    Die Kraft, die den revolutionären Sprung aus dem Üblichen, dem Normalen, aus der "hegemonialen Praxis" hinaus ermöglicht, bezeichnet Hindrichs mit dem durchaus rätselhaften Begriff des "interesselosen Enthusiasmus jenseits von Nutzen und Nachteil". Ein Blick auf die russische Revolution hilft zu verstehen, was damit gemeint ist: Die Millionen Arbeiter und Soldaten, die 1917 in eine neue Welt aufbrachen, hatten nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese Welt aussehen würde. Aber sie haben ihre Zeit und ihre Welt, die Kantschen "Geschichtszeichen" als Aufruf zum Aufbruch in einen Nicht-Ort gelesen: in die Utopie. Und auf diesen Aufruf reagierten sie - für uns heutige völlig unvorstellbar - nicht mit Panik, sondern mit Enthusiasmus.
    Und hier macht Hindrichs den nächsten verblüffenden Sprung.
    "Der Enthusiasmus ist gleichzeitig ein ästhetischer Begriff. … Deshalb ist der dritte Begriff, den ich diskutiere der Begriff der Schönheit der Revolution. Da geht es um Fragen wie das Schreckliche, das Erhabene als ästhetische Begriffe, da geht es um Begriffe wie Mythologie der Revolution. Aber vor allem zuletzt und dann positiv um den Begriff des Vorscheins: Etwas scheint vor in der Revolution, ein Kommendes, ein Neues scheint vor."
    Wenn Hindrichs in diesem Zusammenhang vom "Wetterleuchten des Utopischen" und vom "Glänzen des Reiches der Freiheit" spricht, um schließlich eine Art Urform der Revolution im Exodus der Juden aus der ägyptischen Knechtschaft durch die Wüste in ein Gelobtes Land der Freiheit zu skizzieren, beschleicht den Leser zuweilen der Gedanke, der Autor selbst sei einer Art revolutionärem Enthusiasmus erlegen. Aber dieser Eindruck täuscht. Weder übersieht Hindrichs das Problem der maßlosen Gewalt, mit dem bisher noch jede Revolution zu kämpfen hatte, noch mangelt es ihm an Wissen oder Mitgefühl was die Opfer von Revolutionen angeht.
    Die Idee der Revolution scheint diskreditiert
    Wenn die Idee der Revolution in Hindrichs Buch am Ende trotzdem eher attraktiv scheint, dann liegt das vor allem an unserer revolutionsfernen Zeit. Mit dem Scheitern der Revolution von 1917, das spätestens 1989 endgültig war, ist nicht nur dieser eine konkrete Versuch gescheitert, neue Freiheit zu stiften. Die Idee der Revolution selbst scheint diskreditiert. Ob man das bedauert oder nicht, ist eine Frage der politischen Überzeugungen, vielleicht auch des Alters, der Erfahrung und des Temperaments. Majakowski hätte es bedauert. Bunin nicht. In jedem Fall ist das keine Frage, die Gunnar Hindrichs sich als Philosoph stellt. Hindrichs sagt nicht was sein soll, er sagt was ist:
    "Die Option besteht darin, dass wenn wir diesen Horizont aus den Augen verlieren, dass dann im Grunde Handeln reduziert werden könnte auf Regelmäßigkeiten. Und auf nichtautonomes Handeln. Insofern ist die Revolution eine Markierung dieser Möglichkeit des autonomen Handelns. Das bedeutet nicht, dass wir automatisch eine Revolution haben oder wünschenswert finden sollten oder sonst etwas. Es bedeutet nur, dass wir uns darüber klar sein müssen, was fehlt, wenn wir in einer revolutionsfernen Zeit leben."
    Gunnar Hindrichs: "Philosophie der Revolution".
    Suhrkamp Verlag 2017, 896 Seiten, 29,00 Euro.