Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Sarajevo 2014
Eine Stadt kämpft um ihre Zukunft

Wenigstens kurz blickt Europa in diesem Jahr wieder auf Sarajevo: Auf dem Programm stehen Gedenkfeiern zum Attentat auf Franz Ferdinand vor 100 und zu den Olympischen Winterspielen vor 30 Jahren. Eher ausgeblendet wird hingegen die Gegenwart der Stadt: Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, viele suchen ihr Glück im Ausland.

Von Ralf Borchard | 21.04.2014
    Dunkler Rauch steigt über brennenden Polizeiautos in Sarajevo auf.
    Feuer im Regierungsviertel von Sarajevo: Im Februar entlädt sich der Ärger der Bevölkerung über Armut, Korruption und Privatisierungen (picture alliance / dpa - Dzenan Krijestorac)
    "Mit Sarajevo im 20. Jahrhundert verbindet man weltweit drei Dinge: das Attentat von 1914, das den Ersten Weltkrieg auslöste, die Belagerung Sarajevos im Bosnien-Krieg 1992-95, und die Olympischen Winterspiele von 1984. Die Olympischen Winterspiele sind das einzig positive."
    "Für viele Bosniaken und Kroaten war Gavrilo Princip nicht nur ein Attentäter, sondern ein Terrorist. Und für viele Serben war er ein Held. Alles kreist um diese Frage, ob Gavrilo Princip das eine oder das andere war, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, ohne die historischen Hintergründe von 1914 zu betrachten. Das ist so bis heute."
    "Sarajevo ist nicht sehr schwer zu verstehen. Also wenn Sie nach Sarajevo kommen, spüren Sie es. Sie spüren die Stadt. Sie spüren die Leute, die gemischte Kultur sozusagen. Ich glaube, diese Stadt hat etwas, was andere Städte nicht haben."
    Genau hier ist es passiert - am Ende der Lateiner Brücke, einer Fußgängerbrücke, die über den Fluss Miljacka führt, an dieser unscheinbaren Straßenkreuzung, über die gerade eine blaue Straßenbahn der Linie 3 fährt. Hier ist es passiert, das Attentat von 1914. Hier erschoss der junge bosnische Serbe Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand:
    "Die Lateiner Brücke, eine osmanische Steinbogenbrücke - zuerst hatte sie fünf Bogen, jetzt sind es vier. Zu Zeiten von Jugoslawien nannte man sie Gavrilo-Princip-Brücke. Früher war da ein Denkmal, heute ist es nur eine Bank. Schade. Also, an diesem Ort ..."
    Belma Dzeko ist 21, muslimische Bosniakin, sie studiert in Sarajevo Marketing. Geboren 1992, in dem Jahr, in dem der Bosnien-Krieg begann. Wie viele Kinder damals kam sie als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Und blieb dort acht Jahre. Sie zeigt von der Brücke über die Straße in Richtung eines kleinen Museums, das über das Attentat von Sarajevo informiert. Das Museum hat zwar einige interessante Exponate, besteht aber nur aus einem einzigen Raum, wirkt geradezu winzig im Vergleich zur historischen Dimension des Attentats. Und draußen auf der kleinen Kreuzung fließt normaler Verkehr. Hier soll sich Weltgeschichte ereignet haben? Ja.
    "Also der Attentäter, Gavrilo, stand gegenüber auf der anderen Seite der Straße. Und wartete, dass Franz Ferdinand und seine Frau Sophia kämen. Er war Student, der Gavrilo. Die Geschichte hat so viele Hintergründe. Und keiner weiß den genauen Hintergrund."
    Vera Katz beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Hintergründen des Attentats. Die bosnische Historikerin sagt: vieles war vor 100 Jahren ähnlich wie heute. Die ethnische Teilung in bosniakische Muslime, katholische Kroaten und christlich-orthodoxe Serben etwa.
    "Wenn man sich ansieht, wie die bosnische Gesellschaft, das bosnische Parlament am Anfang des 20. Jahrhunderts ausgesehen haben, und betrachtet, wie die Verhältnisse heute sind, stellt man fest, dass es die ethnischen Teilungen schon damals gab, dass es heute die gleichen ungelösten Probleme sind."
    Katz sitzt im Café des Hotels Europa, einem Kaffeehaus, in dem man sich in die Zeit der Habsburger zurückversetzt fühlt. In diesem Café spürt und schmeckt man das Erbe der K-und-K-Zeit geradezu.
    "Dieses Image wird noch immer gepflegt. Vor ein paar Jahren wurde ein weiteres Wiener Kaffeehaus in Sarajevo eröffnet, und es war sofort voll. Die Leute mögen das offenbar. Mir persönlich geht es so: Ich war oft in Istanbul, für Konferenzen zum Beispiel. Und immer wenn ich aus Istanbul zurückkomme, kommt es mir vor, als wäre Sarajevo eine osmanische Stadt. Und wenn ich aus Wien zurückkomme, spüre ich das K-und-K-Erbe hier besonders stark."
    Sarajevo ist beides zugleich: Orient und Okzident. Türkisches und österreichisch-ungarisches Erbe greifen ineinander, dazu kommen die sozialistischen Spuren aus der jugoslawischen Zeit. Und was sagt Vera Katz zu dem kleinen Museum am Ort des Attentats? Müsste im Gedenkjahr 2014 nicht alles ganz anders präsentiert werden - größer, eindrucksvoller, touristischer?
    Gedenkfeierlichkeiten sorgen für Streit
    "Ich bin schon froh, wenn es dieses kleine Museum weiter gibt. Dass es überhaupt existiert. Eine Belgrader Kollegin sagte neulich: ihr seid eine schizophrene Gesellschaft - jetzt, 2014, steht Sarajevo im Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit und ihr tut nichts für die Erinnerungskultur. Unsere politischen Eliten sind eben ethnisch-nationalistisch eingestellt und denken überhaupt nicht an das große Ganze, die Gesellschaft insgesamt."
    Auch über die Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Attentats am 28. Juni gibt es Streit, jedenfalls über die große Historikerkonferenz, die kurz zuvor stattfindet und die Vera Katz mit organisiert. Doch viel wichtiger als die Konferenz ist ohnehin das Konzert der Wiener Philharmoniker am 28. Juni in der neu renovierten Nationalbibliothek von Sarajevo. Das frühere Rathaus, das über Jahrzehnte die Nationalbibliothek beherbergt hat, ist jahrelang restauriert worden für diesen Tag, es soll das Schmuckstück der Gedenkfeiern sein. Die Fassade leuchtet geradezu in frischem rot und gelb: erbaut wurde die Nationalbibliothek 1892 im sogenannten neomaurischen Stil. Aber welche Enttäuschung - ein Bauzaun versperrt den Weg ins Innere, grimmig dreinblickende Wärter signalisieren: niemand kommt hier vor Ende Juni rein. Innen ist noch alles Baustelle, heißt es. Bleibt nur der Weg in das aktuelle Ausweichquartier der Bibliothek in einer alten Kaserne am Rand der Innenstadt. Dort hat Bibliotheksleiterin Amra Residbegovic ihr Büro:
    Für Amra Residbegovic bleibt der Brand der Nationalbibliothek im Krieg 1992 das Trauma ihres Lebens. Das wichtigste war, dass sie viele der wertvollen Bücher und Dokumente retten konnte, sagt sie:
    "Schon am 15. Mai '92 hatte das Orientalische Institut gebrannt, da wussten wir, wir müssen etwas tun. Zum Glück haben wir als Vorsichtsmaßnahme die wichtigsten Bücher und Dokumente in den Keller gebracht. So haben wir heute noch 500.000 bis 600.000 Bücher."
    So abwechslungsreich, so strahlend Sarajevo heute wieder an vielen Ecken ist, der Krieg der 90er-Jahre bleibt allgegenwärtig, auch in den Erzählungen der 21-jährigen Belma Dzeko. Zum Beispiel, als wir durch die Schwingtür der überdachten Markthalle zurück in die Sonne treten, und sie von den beiden schlimmsten Granaten-Einschlägen erzählt, 1994 mit 68 Toten, 1995 mit 37 Toten, beide auf dem Markale-Platz:
    "Also hier sind zwei Vorfälle geschehen. Als die Verantwortlichen für das gilt die serbische Armee, also sehr schlimme Massaker. Ich glaube, alle Welt weiß vom Markale-Platz."
    Kurz darauf, am Rande eines Parks, stehen wir vor einer Skulptur aus grünem Glas:
    "Hier sind wir am Denkmal für die Kinder Sarajevos, es zeigt 1600 kleine Kinder, die während des Kriegs 1992 - '95 ermordet worden sind. Und jeden 9. Mai kommen die Mütter und Familien der Kinder, um Blumen zu bringen."
    Um die Ecke liegt das große Einkaufszentrum BBI, auf dem Platz davor wird Neujahr gefeiert in Sarajevo. Hier hat die ganze Stadt auch über die Qualifikation der bosnischen Fußball-Nationalmannschaft für die WM in Brasilien gejubelt, mittendrin: Belma Dzeko – deren Nachname, wie sich auf mehrfaches Nachfragen herausstellt, nicht zufällig Dzeko ist. Sie ist die Cousine des bosnischen Fußballstars, früher in Wolfsburg, heute bei Manchester City:
    "Es ist sehr schön für die jungen Leute, dass noch etwas im Sport geht, sozusagen, ein Vorbild und so weiter."
    Olympische Winterspiele von 1984 - der Geist von Sarajevo
    Belma Dzeko ist ein wenig genervt von den ewigen Fragen nach ihrem Cousin, sie erlebt das ständig. Aber beim Thema Sport bleiben wir doch, denn auch sie sagt: Das wichtigste an diesem Gedenkjahr ist der Rückblick auf die Olympischen Winterspiele von 1984.
    "Ja, ich glaube, der Geist von Sarajevo wird wieder entstehen."
    Wer sich auf die Spur der Olympischen Spielstätten in den Bergen rund um Sarajevo begibt, erlebt manch Frustrierendes. Die Bobbahn auf dem Hausberg Trebevic rostet vor sich hin, wird vom Wald überwuchert, man muss sich in der Umgebung noch immer vor Minen aus der Kriegszeit in Acht nehmen. Auch die Sprungschanzen, auf denen Jens Weißflog zu Gold und Silber abhob, rotten vor sich hin. Und auf den Bergen der alpinen Wettbewerbe, Bjelasnica und Jahorina, kann man zwar wieder wunderbar Skifahren im Winter - zu deutlich günstigeren Preisen als in Deutschland, Österreich oder der Schweiz - doch auch hier bleiben Wermutstropfen: einen gemeinsamen Skipass etwa für die beiden Gebiete auf bosniakisch-kroatischer und bosnisch-serbischer Seite gibt es nach wie vor nicht.

    Die stark heruntergekommene olympische Bobbahn von 1984
    Die stark heruntergekommene olympische Bobbahn von 1984 (picture alliance / dpa)
    Immerhin ist die Eishalle von Sarajevo wieder aufgebaut und im Winter zum Schlittschuhlaufen ein beliebter Treffpunkt. Und sie beherbergt das Olympia-Museum: Niemand verkörpert den Geist der Spiele von Sarajevo besser als Edin Numankadic. Er ist bildender Künstler und Direktor des Olympiamuseums.
    "Ich erlebe immer wieder, welche Nostalgie die Menschen hier empfinden, wenn sie an den Enthusiasmus denken, mit dem damals alle zusammen die Olympischen Winterspiele vorbereitet haben. Die Spiele standen wirklich für Optimismus, Enthusiasmus. Für die ganze Stadt und das ganze Land. Wir waren damals das erste sozialistische Land, das Olympische Winterspiele hatte."
    Dass Numankadic zugleich Künstler und Chef des Olympiamuseums ist, passt deshalb zusammen, weil die Spiele vor 30 Jahren auch ein großes Kulturfest waren:
    "Für das Land und die Stadt war es ein enorm wichtiges gesellschaftliches und kulturelles Ereignis. Wir hatten einiges Geld für Theateraufführungen, Kunstprojekte, Konzerte. Das war eigentlich die größte Chance. Viele erinnern sich an die Olympischen Winterspiele von Sarajevo als eine Kultur-Olympiade. Es war eine Art kulturelle Emanzipation für Sarajevo, Bosnien und das damalige Jugoslawien."
    Bis heute versucht die Stadt, an diese Tradition anzuknüpfen, mit dem Sarajevo Filmfestival im August etwa, oder dem Sarajevo Winter Festival mit Konzerten, Theater, Tanz und Literatur. Prominente Namen, die für Sarajevo werben, bleiben ebenso wichtig und Numankadic denkt beim Stichwort Prominenz auch sofort an die Frau, die in Sarajevo mit Gold zum Weltstar wurde:
    "Katharina Witt war nicht nur wunderschön - die Legende der Winterspiele – ihr Eistanz, ihre Performance war wirklich fantastisch, ich erinnere mich genau. Sie kam vor allem wieder, 2004, als das Olympische Museum hier neu eröffnet wurde mit einer großen Feier. Wir waren sehr glücklich, dass wir sie wieder zu Gast hatten. Katharina Witt ist etwas ganz besonderes."
    Nach westlichen Standards ist auch das Olympiamuseum in eher traurigem Zustand, manches Exponat hängt schief, manches Vitrinenglas ist blind – und doch lebt die Stimmung von damals wieder auf, etwa durch die Musik der Eröffnungsfeier, die Edin Numankadic ebenfalls in seinem Fundus hat. Eine halb geschmolzene, rußgeschwärzte Goldmedaille erinnert daran, dass auch Exponate aus diesem Museum im Krieg verbrannt sind.
    "Meine ganze Familie ist ethnisch gemischt. Ich bin in einer Straße geboren und aufgewachsen, in der auch jüdische, katholische und christlich-orthodoxe Nachbarn gelebt haben. Wenn man den Krieg, die Belagerung Sarajevos erlebt und durchgemacht hat, weiß man, wie wichtig Frieden ist."
    Klagen über hohe Arbeitslosigkeit
    Vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet im Gedenkjahr 2014 all die aufgestaute Wut der Menschen in Bosnien zum Ausbruch kommt, bei Anti-Regierungs-Demonstrationen seit Anfang Februar. In Tuzla und Sarajevo standen Regierungsgebäude in Flammen, im Februar war von einem "bosnischen Frühling" die Rede:
    "Diebe raus", rufen die Demonstranten in Sarajevo, und meinten ihre gewählten Politiker.
    "Vor zwei Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, aber ich bin arbeitslos. Ich wollte umschulen, damit ich irgendeine Arbeit bekomme, aber nichts ging. In diesem Land gilt nur Vitamin B, nur mit Beziehungen kriegst Du Arbeit. Für uns junge Leute gibt es kein Leben hier. Die einzige Lösung ist, ins Ausland zu gehen. Es geht nichts mehr."
    "Das ist ein Irrenhaus. Was soll ich noch dazu sagen? Den Menschen steht es bis zum Hals. Daran ist vor allem die Arbeitslosigkeit schuld. Das Volk ist hungrig. Irgendwas muss sich ändern."
    "Das musste passieren. Das musste passieren. In den letzten 20 Jahren haben sie nichts gemacht, die Politiker, und wir als Volk haben ihnen erlaubt, uns zu manipulieren. Wir wollen, dass es wenigstens unseren Kindern besser geht. Ich habe zwar Arbeit. Aber davon muss ich meine Eltern und meinen kranken Bruder ernähren. Wenn es nötig ist, demonstrieren wir immer weiter. Es musste passieren."
    Nach einer langen Fahrt mit der Straßenbahn von einem Stadtende zum anderen, nach einem Ausflug auf einen der umliegenden Berge mit fantastischem Blick auf die Minarette, Kirchtürme und Häuser der Stadt, nach einem Bummel durch die Fußgängerzone mit Geschäften wie in jeder anderen europäischen Großstadt, ist eines der Cafés in der Altstadt der richtige Platz, um zu entspannen und nachzudenken. Bei einem Mokka, dem starken bosnischen Kaffee. Am Nebentisch junge Leute, die reden, lachen und Pläne schmieden. Es ist das Sevdah-Café, in dem der bosnische Blues – Sevdah - aus den Lautsprechern dringt, diese zugleich melancholische und intensiv rhythmische Musik, die für Sarajevo steht wie all die anderen Widersprüche dieser Stadt.
    Wird Sarajevo das Jahr 2014 nutzen? Das Jahr, in dem Europa, in dem die Welt wenigstens wieder kurz auf diese Stadt blickt?
    "Es ist eine Chance, die wir, glaube ich, verpassen werden. Wie alle Chancen, die wie bisher hatten",
    sagt der Journalist Mahir Sahinovic. Die Studentin Belma Dzeko ist optimistischer:
    "Ich glaube, Sarajevo kommt wieder zu sich selbst. Ich glaube, die Leute haben es satt, von den Politikern rumkommandiert zu sein, es herrscht ein stärkeres Selbstbewusstsein."