Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Schleichender Werteverlust
Wie sich das Gehirn ans Schummeln gewöhnt

Das Gehirn gewöhnt sich ans Schummeln, berichten Verhaltensforscher aus London. In einem Magnetresonanz-Scanner wurden mehrere Probanden beim Lügen beobachtet und der Hirnbereich, der für Emotionen wichtig ist, analysiert. Die Wissenschaftler vermuten, dass ähnliche Mechanismen auch bei der Eskalation gewalttätigen Verhaltens greifen.

Von Michael Gessat | 25.10.2016
    Grafik vom Gehirn; die Amygdala ist rot gekennzeichnet.
    Die Forscher haben die Amygdala beobachtet, während die Menschen logen. (imago/Science Photo Libary)
    Wie wir die Welt wahrnehmen, oder anders gesagt, wie unser Gehirn die Welt interpretiert - das ist keine Sache von absoluten Wahrheiten, sondern eine sehr relative Angelegenheit. Bei vielen Sinneseindrücken ist uns das eigentlich wohlvertraut, obwohl der Effekt immer wieder verblüfft, sagt die Psychologin Tali Sharot vom University College London:
    "Wenn Sie ein neues Parfum kaufen und das zum ersten Mal benutzen, dann riechen Sie es sehr stark. Beim zweiten Mal riechen Sie es schon weniger, und das geht dann so weiter - mit der Zeit nehmen Sie das Parfum praktisch gar nicht mehr wahr und Sie tragen dann solche Mengen auf, dass es andere Leute schon abstößt. Und das passiert, weil sich die Neuronen in Ihrem Riechorgan dem Reiz angepasst haben."
    Probanden erst zu Ehrlichkeit, dann zum Lügen verleitet
    So eine Anpassung, so eine Adaption von Neuronen passiert nicht nur bei externen Sinneseindrücken, sondern auch bei der internen, von Emotionen geprägten Steuerung unseres Verhaltens. Das war die These von Tali Sharot - und ihrem Kollegen Neil Garrett:
    "An unserer Studie haben 80 Versuchspersonen teilgenommen, 25 davon auch in einem Hirnscanner, einem Magnetresonanztomografen. Die Aufgabe war, sich Serien mit 60 Fotos von Glasbehältern anzuschauen, in denen sich jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Penny-Münzen befand. Und bei jedem Foto einem per Computer verbundenen Spielpartner einen Rat zu geben, wie viel Geld insgesamt in dem Glasbehälter enthalten sein könnte."
    Der Partner, so die Instruktionen, müsse anschließend jeweils die Geldmenge einschätzen. Am Ende des Spiels würde per Zufall ein Versuch ausgewählt, und beide, Ratgeber und Einschätzer, würden dann eine Belohnung erhalten, deren Höhe von der erzielten Treffgenauigkeit abhinge. So lauteten die Ausgangsregeln - ein klarer Anreiz also für die Teilnehmer, ihre Ratschläge zunächst so gewissenhaft wie möglich abzugeben. Neil Garrett:
    "In einer weiteren Versuchsserie mit denselben Fotos haben wir die Teilnehmer dann zum Lügen verleitet. Diesmal haben wir ihnen gesagt: Je mehr der Spielpartner die Geldmenge überschätzen würde, umso höher würde ihre eigene Belohnung ausfallen - auf Kosten des Partners, der über diese neue Prämienstruktur nicht informiert würde."
    Amygdala-Reaktion im Gehirn nimmt von Lüge zu Lüge ab
    Tatsächlich lagen die Empfehlungen der Ratgeber nun plötzlich deutlich höher - vor allem aber nahm das Ausmaß der eigennützigen Flunkerei vom Anfang bis zum Ende einer 60-Bilder-Serie kontinuierlich zu: Erst übertrieben die Probanden ein wenig, dann immer ungenierter. Bei den Versuchspersonen im Magnetresonanzscanner konnten die Wissenschaftler dazu passende Aktivitätsmuster messen:
    "Wenn die Versuchspersonen logen, dann haben wir zuerst eine starke Reaktion in der Amygdala registriert, dem Hirnbereich also, der für Emotionen wichtig ist. Aber im zeitlichen Ablauf wurde diese Antwort schwächer und schwächer. Und je schwächer die Amygdala-Reaktionen auf eine einzelne Lüge ausfielen, umso stärker flunkerten die Versuchspersonen anschließend beim nächsten Bildwechsel."
    Verhalten im Labor nicht deckungsgleich mit realem Leben
    Die Forscher sehen hier einen direkten Kausalzusammenhang: Die neuronale Adaption im Gehirn verändert das Verhalten:
    "Wenn Sie das erste Mal lügen, etwa bei der Steuererklärung, dann fühlen Sie sich schlecht, und das hält Sie erst einmal ab und hält Ihre Unehrlichkeit in Grenzen. Beim nächsten Mal haben Sie sich schon etwas daran gewöhnt, die negative Reaktion fällt schwächer aus und Sie lügen vielleicht mehr."
    Dass sich die Laborexperimente nicht eins zu eins auf das reale Leben übertragen lassen, ist den Wissenschaftlern klar. Es wäre zum Beispiel höchst interessant herauszufinden, ob eine zwischenzeitliche Ermahnung eine Testperson beziehungsweise ihre ermattete Amygdala wieder auf den Pfad der Tugend zurückbringen würde, bestätigt Neil Garrett. Brisant sind die Ergebnisse allemal:
    "Der gleiche Mechanismus könnte auch bei eskalierender Risikobereitschaft zugrunde liegen, oder bei der Eskalation von gewalttätigen Verhalten."