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Selbstvergewisserung ohne Prunk

Der Bankier Wagener verfügte 1861, dass seine 262 Gemälde «neuerer Kunst» als Schenkung an den preußischen König gehen sollten. Seine Sammlung war der Grundstock für die Alte Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel. Jetzt wird sie wieder ausgestellt - mit Werken von Karl Friedrich Schinkel und Caspar David Friedrich, aber auch mit vielen unbekannten.

Von Carsten Probst |
    Man hätte dieses Jubiläum auch ganz anders feiern können, sagt Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann, und damit hat er recht. Man hätte die Berühmtheiten der Sammlung Wagener, die Gemälde Caspar David Friedrichs und Schinkels, nehmen und darum herum eine festliche Ausstellung anderer berühmter Zeitgenossen gruppieren können, um den Gründungsmythos der Nationalgalerie repräsentativ zu überhöhen. Friedrich August Stülers Tempel-Architektur der Alten Nationalgalerie, zu der man auf ihrem hohen Sockelgeschoss immer aufschauen muss, und ihre ursprüngliche antikisierende Innenausstattung entsprechen dem Zeitgeschmack der Heroisierung ja auch, und vor noch nicht allzu langer Zeit haben die Staatlichen Museen Berlin unter ihrer alten Führung durchaus gern auf heroisches Pathos zurückgegriffen, um die eigene Bedeutung für Deutschland und die Welt in aller Bescheidenheit darzustellen.

    Dass das heute so ganz anders ist, ist wohl der markanteste Gewinn der bisherigen Amtszeit unter Udo Kittelmann. Er nimmt anstelle von Prunk und Pathos das Jubiläum zum Anlass einer, wie er sagt, Selbstvergewisserung der Sammlung, die ganz nüchtern betrachtet eigentlich jedes Museum von Zeit zu Zeit vornehmen sollte. Kittelmann weiß, dass so etwas gleichwohl höchst selten geschieht, dass Museen um der Publikumszahlen Willen lieber nur mit ihren kanonisierten Schätzen prunken und die weniger bekannten Künstler auf ewig in den übervollen Depots versauern lassen.

    Die Sammlung des Bankiers Johann Heinrich Wilhelm Wagener, die Keimzelle der heutigen Bestände der Alten Nationalgalerie, besteht zum Großteil aus solchen kaum einmal gezeigten Werken. Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten, Kittelmann bekennt gar: manchmal seit über hundert Jahren nicht mehr aus den Depots gekommen. Zur offiziellen Gründung der Nationalgalerie im Jahr 1861 und wenig später bei der Eröffnung des Hauses an seinem heutigen Standort auf der Museumsinsel waren sie das, was man heute als Gegenwartskunst bezeichnet. Denn die Nationalgalerie mit ihrer Sammlung Wagener verstand sich zu ihrer Zeit, wie auch die kurz zuvor eröffnete Neue Pinakothek in München, als erstes Museum für Gegenwartskunst.

    Wer außer einigen wenigen Experten für die deutsche und französische Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennt noch die Namen von Johann Wilhelm Preyer, August Kubisch, Christian Köhler oder Max Emmanuel Ainmiller? Die Liste der heute Unbekannten in dieser Sammlung ließe sich um einiges verlängern. Der Gang durch die Ausstellung konfrontiert den Besucher unverhohlen mit den abgelegten Moden des Blicks, den Adaptionen der niederländischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts, den Heroismus der Schulen Anselm Feuerbachs und Peter Cornelius', den Landschaften, Porträts, Genre- und Straßenszenen des Biedermeier.

    Mit dem besonderen Anlass des Jubiläums im Rücken macht diese Ausstellung ihre Besucher nicht bloß zu Claqueuren, sondern sie macht sie zu Forschern in eigener Sache. Selten haben Werke, die heute als nicht mehr zeitgemäß gelten, so liebevolle und interessierte Zuwendung erfahren, wie man es am Eröffnungsabend beobachten konnte. Wer erwartet hätte, dass sich alle im Friedrich-Saal drängeln, sieht sich getäuscht. Interessant ist hier der zweite Blick; zum einen wegen der Würdigung der handwerklichen Meisterschaft aller gezeigten Werke: Preyers geradezu fotorealistische Stillleben, Köhlers dynamische, fast abstrakte Antikendarstellung, Kubischs Sumpflandschaft mit Sonnenuntergang, deren übernatürliche Farben auf Mark Rothko vorauszudeuten scheinen.

    Der zweite Blick betrifft nicht zuletzt die politischen Hintergründe der Sammlung Wagener, die verhaltenen Metaphern demokratisch gesinnten Widerstandes im Kontext der Revolution von 1848, die sich hinter manchen Sujets verbergen. Vor allem aber fällt der zweite Blick wie in einem Spiegel auf das Publikum zurück und hinterfragt die Bildbeurteilung selbst. Es ist eine mutige Ausstellung, die eher einer Installation gleicht und den alten Bestand der Alten Nationalgalerie auf unverhoffte Weise aktualisiert.