Dienstag, 19. März 2024

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Solidarität mit Russland
"Hier geht es nicht um Putin, sondern um die Menschen"

Bei seinem Besuch in St.Petersburg habe er nur sehr schwer erklären können, warum nach dem Anschlag das Brandenburger Tor in Berlin nicht aus Solidarität in den russischen Farben angestrahlt worden sei, sagte der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, Matthias Platzeck, im DLF. Das nähre das Gefühl, dass die russischen Toten nicht so viel Wert seien wie Opfer in Paris, Brüssel oder London.

Matthias Platzeck im Gespräch mit Dirk Müller | 05.04.2017
    Platzeck lächelt vor einer weißen Wand in die Kamera.
    Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident, Matthias Platzeck (SPD), aufgenommen am 13.10.2016 in Potsdam (Brandenburg). (dpa / Ralf Hirschberger)
    Dirk Müller: Zwei Tage nach dem Bombenanschlag kämpfen viele der Opfer noch um ihr Leben. Mindestens 14 Tote melden die Behörden in St. Petersburg, rund 50 Verletzte. Ein Attentat, das offenbar auf islamistische Kreise aus dem Kaukasus zurückgeht. Der verdächtige Täter stammt aus Kirgistan.
    Ein Attentat ins Herz einer großen europäischen Metropole, eine Stadt voller Charisma, voller Kunst, voller Architektur, voller Geschichte, ähnlich wie Paris, wie London und auch wie Brüssel. Doch St. Petersburg liegt nicht im Westen, sondern in Russland. So haben viele in den sozialen Netzwerken den Eindruck, dass die Anteilnahme, die Solidarität nicht vergleichbar ist mit den Terroranschlägen zuvor, dass die Politik, die Medien, die Bürger mit diesem Terroranschlag nicht so verfahren wie zuvor. Der Senat in Berlin hat beispielsweise abgelehnt, das Brandenburger Tor in den russischen Nationalfarben auszuleuchten. Begründung: St. Petersburg ist keine Partnerstadt von Berlin.
    Am Telefon ist nun Matthias Platzeck, Vorstandsvorsitzender des deutsch-russischen Forums. Guten Morgen!
    Matthias Platzeck: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Platzeck, ist Russland nach wie vor etwas völlig anderes?
    "Das Brandenburger Tor ist ein nationales Symbol"
    Platzeck: Auf jeden Fall ist es uns scheinbar etwas ferner, etwas fremder, und leider müssen wir auch konstatieren, dass diese Entfernung und Entfremdung in den letzten Jahren – das hat verschiedene Ursachen, das wissen wir – gewachsen ist. Ich habe gestern Morgen – ich komme gerade aus Moskau – mit anderen zusammen Blumen niedergelegt am Gedenkstein Leningrad, der Heldenstadt Leningrad, dem heutigen Petersburg, und dabei sind wir natürlich auch ins Gespräch gekommen.
    Und das von Ihnen erwähnte nicht anstrahlen des Brandenburger Tores war dort in Russland, vorsichtig formuliert, nur sehr, sehr schwer zu erklären, weil man natürlich in Russland die Sprache der Bilder als mächtig – das wissen wir – über die letzten Jahre wahrgenommen hat. Die britischen Farben, die französischen, die belgischen hat dieses Tor gesehen, und jetzt sind russische Menschen zu Tode gekommen und da waren die russischen Farben nicht zu sehen. Das konnte man nicht mit einer Berliner Verwaltungsvorschrift erklären, sondern das Brandenburger Tor gilt ganz klar als ein nationales Symbol. Und da kam wieder dieses Gefühl, sind denn Opfer, sind denn Tote, wenn es unsere sind, bei euch nicht so viel wert, und das ist eine schwierige Debatte gewesen in diesen Stunden und Tagen nach dem Anschlag.
    Müller: Ich frage das noch einmal zu dem Punkt, Herr Platzeck. Haben Sie gerade noch mal gesagt. Brandenburger Tor, das haben gar nicht so viele mitbekommen. Da mussten wir auch noch einmal nachlesen. In Berlin hat das eine große Rolle gespielt, aber in vielen anderen Landesteilen ist das gar nicht groß ventiliert worden. In Russland hat man das durchaus wahrgenommen und dann dementsprechend auch enttäuscht kommentiert?
    "Hier geht es nicht um Putin, sondern um die Menschen"
    Platzeck: Ja, und auch in den sozialen Netzen ist das sehr wohl - gerade in den letzten Stunden habe ich das so wahrgenommen – auch bei uns debattiert worden. Es gibt ja in Berlin – ich weiß, dass das eine schwierige Frage auch ist, ab wann macht man diese Anstrahlung, wann macht man es nicht – die Regel, Partnerstädte und Städte mit besonderer Bedeutung beziehungsweise besonderem Bezug. Und dann taucht natürlich die Frage auf, ist denn Petersburg, das ehemalige Leningrad nicht eine besondere Stadt, die im Zweiten Weltkrieg am meisten von allen Städten gelitten hat. Die deutsche Blockade hat damals in den Jahren 41 bis 44 über eine Million Tote gefordert, Menschen, die dort förmlich verreckt sind, weil deutsche Truppen sie haben verhungern lassen. Und ich finde, das ist schon ein sehr besonderer Bezug, und wenn in einer solchen Stadt Menschen zu Tode kommen durch ein Attentat, hätte man vielleicht diese besondere Bedeutung, die diese Vorschrift hergibt, auch hervorholen können und sagen, wir tun es. Aber gut, das ist jetzt passiert. Ich bin trotzdem dankbar, dass die Senatsspitze ja ihr Beileid vor der russischen Botschaft gestern bekundet hat. Aber das Anstrahlen des Tores hätte den russischen Menschen auf jeden Fall – hier geht es ja nicht um Putin oder um irgendwie die Regierung, sondern es geht um die Menschen – ein Gefühl der Nähe, der Solidarität und des Mitfühlens durchaus vermitteln können.
    Müller: Ist da was dran, Herr Platzeck, wenn jetzt einige sagen, gerade mit Blick auf die jüngsten Terroranschläge – wir haben ja gesagt, London gehörte dazu, dann Paris und Brüssel und jetzt eben St. Petersburg -, es gibt eine Hierarchisierung der Opfer? Ist da was dran?
    Platzeck: Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage, Herr Müller. Ich beschäftige mich schon lange mit dieser Frage. Ich will es mal von einer anderen Seite beleuchten, ein Stück weg vom aktuellen Terroranschlag. Wir haben ja in den vergangenen Jahren Gedenkmöglichkeiten genügend gehabt durch das Ende des Zweiten Weltkrieges. Dann haben Staatsbesuche stattgefunden in Oradour in Frankreich, in Lidice in Tschechien. Das sind Dörfer, die von deutschen Truppen ausradiert, vernichtet wurden, alle Menschen getötet wurden. Die sind Thema des Geschichtsunterrichts. Im Umkehrschluss sind diese Ortsnamen in aller Munde. Der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin waren da. Auf russischem Territorium gibt es Dutzende, ja Hunderte vergleichbare Orte, die im Vernichtungskrieg von 1941 bis 1945 genauso behandelt wurden von SS und deutschen Wehrmachtstruppen, und kein Mensch kennt sie. Und da komme ich auf Ihre Frage: Da ist schon etwas vorhanden, ich will das gar nicht klassifizieren, was mir auf jeden Fall ein erhebliches Problem macht. Ich bin auch im Kuratorium des Johannes-Rau-Begegnungszentrums in Weißrussland, in Minsk. Wir haben dort, wir machen dort Gedenkpolitik, 629 Orte ausgemacht, in dem kleinen Belarus allein 629 Orte, die dasselbe Schicksal wie Lidice und Oradour erlitten haben. Aber kein Mensch kennt bei uns die Namen, und das ist eigentlich schon eine Teilantwort auf Ihre Frage.
    Müller: Sie haben eben auch die sozialen Netzwerke erwähnt. Da wurde in der Tat ja das Brandenburger Tor viel heftiger diskutiert als vielleicht in den konventionellen Medien. Es wurden aber auch viele Bilder gezeigt, das auch im Fernsehen, auch in der Tagesschau, von Lukaschenko und von Wladimir Putin am Montag, am Tag des Geschehens, am Tag des Attentats, in St. Petersburg beratend, beide auf Sesseln sitzend, und dort haben sie auch diese Nachricht dann bekommen. Da gab es dann auch Kommentare zu lesen – es ist mehr ja ein Gefühl als eine rationale Analyse -, die dann da lauten, die dann zu interpretieren sind, na ja, das geschieht diesen beiden recht. Gibt es so was, die fehlende Unterscheidung zwischen dem, was tatsächlich passiert ist, und diesen Politikern es heimzuzahlen?
    "Insgesamt eine sehr komplizierte Zeit für Russland"
    Platzeck: Genau, und ich habe eben deshalb ja auch bewusst gesagt, es geht hier nicht um Putin oder irgendwen anders, sondern hier geht es um russische Menschen, die zu Tode gekommen sind, und die anderen, die Gefühle haben, die die Trauer haben, und an die müssen wir uns wenden. Alles andere wäre wirklich zynisch.
    Für Russland selber ist dieser Terroranschlag in eine sehr, sehr schwierige Zeit gekommen, die übrigens auch für den russischen Präsidenten eine sehr komplizierte Zeit in den nächsten Monaten werden wird. Ich sage mal, das ist so. Dieser Terroranschlag umreißt und beschreibt eigentlich ein Dreieck von erheblichen Problemen, mit denen Russland und auch die russische Gesellschaft und insbesondere die Regierung im Moment konfrontiert sind. Das ist der Terror, der zunimmt. Übrigens dieser Anschlag ist in einer Kette von bei uns nicht so bekannten, teilweise auch verhinderten, aber eben versuchten Terroranschlägen. Gerade in Petersburg hat es vor einer Weile ein Feuergefecht gegeben, wo vier mutmaßliche Terroristen ums Leben gekommen sind. Da ist insbesondere auch natürlich aus den südlichen Randrepubliken heraus wie jetzt ja auch der Attentäter ein erhebliches Gefahrenpotenzial gewachsen.
    Wir haben die Jugendproteste seit einigen Wochen in Russland, die sehr deutlich sich artikulieren und ja übers ganze Land gegangen sind. Und wir haben die zunehmend schwieriger werdende wirtschaftliche Lage. Das Wachstum dieses Jahres, was zu erwarten ist, wird überhaupt nicht ausreichen. Ein Schwellenland wie Russland braucht drei, vier, fünf Prozent Wachstum und nicht ein bis anderthalb Prozent. Das ist insgesamt eine Mischung, die eine sehr komplizierte Zeit für Russland bedeuten wird, und das alles kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft und kurz vor der Präsidentschaftswahl. Es ist eine riesige Herausforderung, daraus vernünftig Politik noch zu gestalten.
    Müller: Wird die russische Regierung das jetzt nutzen können, mehr Sicherheit einzufordern, einzuklagen, mehr Repressionen nach innen auch umzusetzen, um unter anderem auch diese neue Protestbewegung dann wieder stärker an die Leine zu bringen?
    Platzeck: Herr Müller, das ist überhaupt nicht auszuschließen, und es gibt mit Sicherheit Kräfte auch in der Kreml-Administration, die genau dieses sich vorstellen könnten. Aber wir haben auch sehr, sehr viel anderes Potenzial in den Gesprächen der letzten Tage erlebt, nicht nur bei Menschenrechtsaktivisten, nicht nur bei liberalen und kritischen Menschen wie Babuschkin oder Petotov, sondern selbst bis in die, sage ich mal, man nennt das in Russland Systemopposition hinein, also Parteien, früher in der DDR wahrscheinlich Blockparteien genannt, die in der Duma sitzen und nicht zur Machtpartei, zur Edina Rossija gehören. Wir hatten gestern ein Gespräch mit Menorov, das ist der Vorsitzende von Gerechtes Russland, der in ungewohnter Art gegen die Korruption im Lande gewettert hat, coram publico, und sich dafür eingesetzt hat, diese Jugendproteste ernst zu nehmen. Ich will das nicht überbewerten, weil wie gesagt: es ist eher eine Opposition im Machtgefüge. Aber es ist deutlich wahrnehmbar, dass sehr intensiv nachgedacht wird, dass man diesen Protest von jungen Menschen nicht einfach ignorieren kann, sondern ihn aufnehmen muss und ernst nehmen muss, wenn man eine Zukunft für dieses Land organisieren will. Und ich hoffe sehr, dass die Kräfte sich durchsetzen und nicht die, die Sie eben zurecht auch vermutet haben.
    "Die Brücken zwischen den Zivilgesellschaften müssen wieder entstehen"
    Müller: Sie sind ja Vorstandsvorsitzender, also Chef dieses deutsch-russischen Forums. Da geht es nicht nur um Wirtschaftskooperation auf der hohen Ebene, es geht nicht nur um politische Kooperation, sondern das haben Sie im Deutschlandfunk früher auch gesagt: Wir wollen ja auch die normalen Menschen, vor allen Dingen auch die Jugend zusammenbringen. Ich möchte noch mal auf den Kreml-Chef zurückkommen. Ist das nach wie vor so, meine These, meine Frage, verhindert ein Wladimir Putin, dass Russen und Deutsche sich besser verstehen?
    Platzeck: Auf jeden Fall ist es so, dass die russische Administration vieles nicht tut. Wir haben eben einen Themenkreis besprochen, was sie tun müsste. Ich denke, auch die Wirtschaftskrise geht ja auf erhebliche Versäumnisse zurück der letzten Jahre. Die Wirtschaft ist nicht modernisiert worden. Das sind alles Fragen, die dazu dann führen, dass es auch ein Stück repressiver wird, wenn so was nicht funktioniert, und das wiederum führt dazu, dass wir uns in Teilen nicht näherkommen können. Aber ich glaube ungebrochen daran. Wir haben sehr spannende Debatten in den letzten Tagen gehabt, in Teilen auch sehr offene Diskussionen gehabt, so dass ich ungebrochen daran glaube, dass in der Zivilgesellschaft, die sich in Russland durchaus entwickelt – wir nehmen das nicht so wahr, aber da ist eine erhebliche Entwicklung vorhanden. Und wir kümmern uns im deutsch-russischen Forum vor allen Dingen um diese zivilgesellschaftlichen Kontakte. Wir werden jetzt im Juni die wahrscheinlich größte zivilgesellschaftliche Veranstaltung zwischen Russland und Deutschland in Krasnodar haben, die Städtepartnerkonferenz, die übrigens, was uns natürlich freut, von den beiden Außenministern eröffnet wird, weil auch dort bemerkt wurde, dass hier zivilgesellschaftlich allerhand unterwegs ist. Und es wird zum Anlass genommen diese Konferenz, das deutsch-russische gemeinsame Jahr 2017/18 für kommunale und regionale Partnerschaften auszurufen. Darauf setze ich doch einige Hoffnung, denn wir müssen, wenn es oben nicht so richtig funktioniert, mal etwas salopp gesagt, alles versuchen, damit die Brücken zwischen den Zivilgesellschaften wieder entstehen und begehbar bleiben. Da ist viel, viel Möglichkeit und viel Potenzial für unsere beiden Länder vorhanden.
    Müller: Vielen Dank an Matthias Platzeck, Vorstandsvorsitzender des deutsch-russischen Forums. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Platzeck: Danke! Ihnen auch einen schönen Tag. Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.