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Staatliche Überwachung
Befallen vom Überwachungsvirus

Die Überwachungen durch staatliche Organe im Internet machen krank, meint Friedemann Karig in Essay und Diskurs. Sie wirken genauso wie ein Virus, gegen den sich die Bürger schützen müssen - und können. Es komme darauf an, die Wunder des Netzes zu nutzen, um seine Rettung voranzutreiben.

Von Friedemann Karig | 04.01.2015
    Ein Mann arbeitet an der Tastatur eines Laptops.
    Staatliche Geheimdienste überwachen ungehemmt die Bürger. (dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
    Stellen wir uns für einen Moment vor, Überwachung wäre ein Virus. Eine gefährliche Krankheit, von einer Regierung gegen fremde oder gar ihre eigenen Bürger eingesetzt, mit furchtbaren Auswirkungen.
    Was wäre die Folge? Statt einer trägen Gleichgültigkeit befiele uns kollektives Entsetzen. Auf den Straßen marschierten Demonstranten, die Börsen stürzten ab, der Notstand wäre nah. Zum Glück ist Überwachung kein Virus. Zum Glück ist es nicht so schlimm.
    Oder nein: Es ist viel schlimmer. Wir merken es nur noch nicht.
    Denn anlasslose Massenüberwachung, wie sie Geheimdienste heute ausüben, wirkt auf uns und unsere Demokratien genau wie eine Krankheit. Sie macht uns schwach. Wie ein Virus steckt sie einen nach dem anderen an. Die Analogie stimmt bis ins Detail: Entfesselte Geheimdienste, eigentlich dazu da, uns und unsere Werte zu verteidigen, sind wie eine Autoimmunerkrankung, bei der sich das Immunsystem gegen den Organismus wendet, den es schützen soll.
    Höchste Zeit, das Virus unters Mikroskop zu legen. Und mit den Mitteln des missbrauchten Netzes einen ebenso viralen Impfstoff zu entwickeln: neue, mächtige Argumente, Metaphern und Geschichten gegen Überwachung. Bevor es zu spät ist.
    Bis heute wissen wir aus den Enthüllungen des ehemaligen NSA-Agenten Edward Snowden, dass amerikanische und britische Geheimdienste Überwachungsprogramme betreiben, die ihnen per Mausklick den Zugriff auf quasi alle verfügbaren digitalen Daten jedes Menschen der Welt ermöglichen. Keine Mail, kein Netzwerk, kein Smartphone ist vor diesem Zugriff sicher. Kein Gericht, keine Aufsicht zügelt ihn.
    Snowden-Plakate in Köln, 2014
    Snowden-Plakate in Köln, 2014 (picture-alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Wir wissen, dass auch der BND auf vielerlei Arten unsere Grundrechte bricht, indem er mit anderen Diensten wie auf einem Basar unsere persönlichsten Geheimnisse tauscht und verkauft - oder ihnen direkt Zugang zu den Leitungen des Frankfurter Internetknoten gewährt.
    Geheimdienste lenken Steuergelder in Überwachungsmanie
    Die Geheimdienste - mächtige Staaten im Staat - leben dank digitaler Möglichkeiten und hunderter Milliarden Steuergelder eine Überwachungsmanie aus, wie sie die Menschheit noch nicht kannte. Unsere Politiker haben diese wahnwitzigen Grundrechtsbrüche über Jahre und Jahrzehnte mitgetragen, mitgewusst oder mindestens beflissen weggeschaut. Und sie tragen heute, da Totalüberwachung nicht mehr als Verschwörungstheorie abzutun ist, die "Überwachung mit Fassung", wie Bundestagspräsident Norbert Lammert, protokollarisch der zweite Mann im Staat, es noch 2014 im Plenum ausdrückte.
    Warum stürzen darüber, wie der FDP-Politiker Gerhard Baum fragte, keine Regierungen? Warum trat die ADAC-Führung zurück wegen gefälschter Auto-Rankings, aber kein Politiker wegen der NSA-Enthüllungen? Hat uns das Virus der Überwachung schon geschwächt, politisch paralysiert?
    Unsere Passivität gründet sicherlich, wie bei vielen digitalen Themen, im sogenannten "Cultural Lag", deutsch: "Kulturelle Phasenverschiebung". Der Fortschritt lässt uns ratlos zurück. Weil wir noch halbe Affen sind, die Welt aber schon Science Fiction, kommen wir geistig nicht mit.
    Überwachungsvirus lähmt uns
    Andererseits lähmt uns das Überwachungsvirus, eben weil es noch nahezu unsichtbar ist. Weil es uns zwar befallen hat, wir seine zersetzende Wirkung jedoch noch nicht am eigenen Leib spüren. Weil die Opfer der Überwachung meist weit weg sind, namenlos, rechtlos.
    Vor allem aber schwächen uns die Ausreden und Verharmlosungen, die den Überwachungsdiskurs leider regieren.
    Neben dem notorischen "Ich habe ja nichts zu verbergen" der ewig Gleichgültigen zählt dazu vor allem die vermeintliche Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit, die Ex-Innenminister Friedrich in sein berüchtigtes "Supergrundrecht Sicherheit" steigerte. Dazu die Mär, man sammle nur Metadaten, also keine Kommunikationsinhalte und damit nichts Intimes. Eine weitere gefährliche Relativierung staatlicher Überwachung zeigt sich in der sehr deutschen Kritik an Facebook, Google und Co. Diese sogenannten Datenkraken sammelten ja nicht nur ebenso viele Daten wie die Geheimdienste, sondern bekämen sie von uns Konsumenten gar freiwillig.
    Und dann ist da natürlich noch die Resignation, die in jedem Diskurs, in jeder politischen Problematik irgendwann um sich greift: Man könne ja eh nichts machen, Geheimdienste seien nun mal obskur, die USA in ihrem Sicherheitswahn unbeeinflussbar.
    Sediert von diesen Ausreden protestierten 2013 in einer Petition der ehemaligen Piraten-Politikerin Anke Domscheit-Berg 60.288 Menschen gegen die NSA-Überwachung.
    Aktivierung funktioniert also, aber die gerne dazu benutzten Begriffe sind oft stumpf. Welche Schlagworte fallen, wenn wir von digitaler Souveränität reden? Datenschutz, das klingt nach Adresslisten in grauen Leitz-Ordnern oder wie Artenschutz, als wären die Daten vom Aussterben bedroht.
    Privatsphäre klingt nach dem Mindestabstand zum Postschalter, nach einem räumlich definierbaren Konzept, von der digitalen Realität längst überholt. In einer Welt, in der wir von der Dateninflation profitieren und selbst lustvoll Daten rausschleudern, eine gewisse Datenpreisgabe als Geschäftsmodell des Netzes bewusst dort akzeptieren, wo sie uns nutzt, klingt das Heilsversprechen einer fest definierten Privatsphäre absurd.
    Und auch der gläserne Bürger, vor dem oft gewarnt wird, ist eine schiefe Metapher, weil man durch den gläsernen Bürger ja hindurchschauen und nicht in ihn hineinschauen könnte.
    Dazu waren wir Menschen immer schon ein wenig einsehbar, sind Überwachung und Kontrolle gewöhnt. Ihre Geschichte reicht weit zurück: vom allsehenden, strafenden Gott über seine irdische Überwachungstechnik der Beichte bis hin zu Gesundheitsdaten auf Chipkarten.
    Suche nach Impfstoff gegen Überwachungsvirus
    Wir müssen also auf der Suche nach einem argumentativen Impfstoff vielleicht noch einen Schritt zurücktreten. Denn auch wer niemals konkretes Überwachungsopfer wird, wer nicht in einer wie auch immer gearteten Dystopie lebt, hat etwas zu befürchten: die Schere im Kopf, wissenschaftlich auch "Chilling Effect" genannt.
    Dieses psychologische Momentum, das auch als Selbstbeschränkung oder vorauseilender Gehorsam definiert ist, wurde zum ersten Mal 1975 nachgewiesen. In einer Studie namens "The Chilling Effects of Surveillance: Deindividuation and Reactance" wurden Studenten zur Legalisierung von Marihuana befragt. Damals waren die Meinungen hierzu etwa 50:50 verteilt. Der Konsum wurde jedoch mit Gefängnis bestraft.
    Das Ergebnis: Je eher die Probanden sich überwacht fühlten, beispielsweise durch eine Videokamera oder Zuschauer, desto weniger gaben zu, für die Legalisierung zu sein. Aus Angst vor Konsequenzen verhielten sie sich vermeintlich konform. Es bestätigte sich eine Deindividualisierungsthese: Fühlen wir uns überwacht, versuchen wir uns in der Herde zu verstecken. Wir orientieren unser Verhalten an dem unserer Umwelt, sprechen eher in der dritten als ersten Person, schränken Körpersprache und Mimik ein. Und: Je stärker überwacht, desto aggressiver, unwilliger und kälter wurden die Probanden gegenüber der Studie und den Ausführenden. Das Fazit der Forscher lautete schon damals: Überwachung ist eine psychologische Verletzung der Meinungsfreiheit.
    Diese Ergebnisse wurden mehrmals bestätigt und aktualisiert. Nutzer in elf Ländern - darunter die USA und Deutschland - suchen seit den Snowden-Enthüllungen signifikant weniger nach intimen und potenziell politisch riskanten Begriffen wie beispielsweise Abtreibung oder Explosion. Sie kühlen im Sinne des Chilling Effects ihre Kommunikation ab. Sie haben die Schere im Kopf.
    In einer zweiten wichtigen Studie zum Konformitätsdruck wurde jeweils vier vierjährigen Kindern das Bild eines Tieres gezeigt. Einem Kind davon ein anderes Bild als den ersten dreien. Das vierte Kind, das sich selbst in der Minderheit sieht, lügt bei der Abfrage der Bilder ganz bewusst, um sich nicht von den anderen abzuheben. Je öffentlicher und überwachter seine Antwort, desto unehrlicher wird es.
    Ohne ganz ähnlich klingende Erfahrungen von Zeitzeugen eines Überwachungsstaates wie der ehemaligen DDR heranzuziehen, lernen wir: Überwachung macht uns konformistisch, ängstlich, aggressiv und depressiv. Es ist bewiesen, dass Überwachung messbaren, merkbaren, objektiven Schaden an der geistigen Gesundheit des Einzelnen und der sozialen Atmosphäre der Gemeinschaft verursacht. Von ihrem Missbrauchspotenzial ganz zu schweigen.
    Und genau deswegen hat das Bundesverfassungsgericht schon 1999 erkannt:
    "Die Befürchtung einer Überwachung kann schon im Vorfeld zu einer Befangenheit in der Kommunikation, zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen, hier insbesondere zur Vermeidung bestimmter Gesprächsinhalte oder Termini, führen."
    Heute leben wir in einem anderen, einem digitalen Zeitalter. Der Treibstoff aller digitalen Systeme sind Daten. Daten sind definiert als aufgezeichnete Unterscheidungen. Eins oder null. Sie oder ich. Schuldig oder unschuldig.
    Jede Bewegung wird zu Daten
    In einem vollständig technisch medialisierten sozialen Raum wird jede unserer Bewegungen, jede Äußerung und jede Interaktion potenziell zu aufgezeichneten Unterscheidungen, also zu Daten. Damit können prinzipiell auch alle Handlungen sinnhaft beobachtet, aufgezeichnet und ausgewertet werden: Wie lange man vor einem Schaufenster steht und was man sich ansieht, welche Zeitungsartikel man nur überfliegt oder genauer studiert, welche Webseiten man ansteuert. Seit dem Aufkommen von sozialen Netzwerken werden diese Informationen noch ergänzt durch Beziehungsdaten: Wer kennt wen und warum? All diese Unterscheidungen erlauben wesentlich mehr Erkenntnisse über die Nutzerinteressen, politische Einstellungen, Pläne als in der Offline-Welt, wo nur Transaktionsdaten, etwa einzelne Bezahlvorgänge, erfasst werden.
    So werden wir durchleuchtet, bis am Ende ein Abbild von uns entsteht, ein Modell aufgrund unserer Merkmale. Oder besser: Bis wir zu einem Modell passen, in eine Kategorie oder ein Cluster. Die Kategorien werden unterschiedlich behandelt. So entstehen Flugverbotslisten der USA genauso wie das Kreditscoring der Schufa oder die personifizierte Werbung im Internet. Der Überwachungssoziologe David Lyon hat dies als digitale Diskriminierung oder soziales Sortieren bezeichnet.
    Sanktionen können jeden treffen: Ein Mann namens Osama Abdelalim bekam kein Konto bei der Kreissparkasse Bad Ditzenbach - wegen seines Vornamens. Ein gewisser Nelson Mandela stand bis 2008 auf einer Terrorliste der USA und bedurfte special clearance, um einzureisen.
    Peinlicher Einzelfall? Wohl kaum: Wenn die EU Ernst macht mit ihrem geplanten transatlantischen Datenschutzrahmenabkommen, dann haben die USA bald Zugriff auf europäische Polizeidatenbanken, um Einreisende automatisiert in Gefahrenklassen zu stecken und ihre Daten jahrelang zu speichern, ohne ein Recht auf Widerspruch. Dabei steht doch im Artikel 3 unseres Grundgesetzes:
    Datenknoten werden systematisch ausgespäht.
    Datenknoten werden systematisch ausgespäht. (picture alliance / ZB / Jan Woitas)
    "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."
    Und dann ist da noch das Problem der Probabilität: Selbst wenn die Datenbasis für statistische Annahmen groß genug ist, ist sie noch nicht fehlerfrei. Nur weil man in einem Viertel mit geringem Durchschnittseinkommen lebt, muss man nicht wenig Geld haben. Es mag zwar eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehen, dass die Prognose zutrifft. Mehr jedoch nicht. Während eine gewisse Streuung über die Zielgruppe hinaus bei Werbesendungen noch leicht zu verkraften ist, haben fehlerhafte Einschätzungen im repressiven Bereich staatlicher Sicherheitspolitik für die Betroffenen ernste Konsequenzen.
    Ein Beispiel für einen deutschen Überwachungsexzess ist der Sozialwissenschaftler Andrej Holm. Er war Fahndern des BKA aufgefallen, weil er im Internet nach bestimmten Stichworten gesucht hatte, die auch eine militante linksextreme Gruppe in ihren Bekennerschreiben benutzte. Darunter Begriffe wie Gentrification oder Prekarisierung, zu denen Holm forschte. Diese Verbindung reichte den Ermittlungsbehörden für eine fast einjährige Observation, für Videoüberwachung der Hauseingänge und einen Lauschangriff. Bis sie ihn schließlich, nachdem die Überwachung keine Ergebnisse gebracht hatte, in eine mehrwöchige Untersuchungshaft steckten.
    Daten dienen zur Gesellschaftssteuerung
    Wie Facebook in einem viel beachteten Experiment im Frühjahr 2014 nachwies, lassen sich Einstellungen, Emotionen und damit letztlich auch Verhalten von ganzen Gesellschaften umso leichter steuern, je mehr Zugriff man auf ihre Daten und Kommunikation hat. Dieses behavorial nudging, zu deutsch etwa Verhaltensanstoßen, ist mithilfe weitreichenden Datenzugriffs der wahr gewordene Traum der Kybernetik, der Wissenschaft von der Steuerung komplexer Systeme. Wie die Hebel dieser sozialen Physik missbraucht werden können, vermag man sich heute noch nicht auszumalen. Viele westliche Regierungen wie beispielsweise die britische unter David Cameron beschäftigen seit Jahren Psychologen aus diesem Bereich. Das Vertrauen, dass staatliche Stellen diese manipulativen Instrumente, die im digitalen eine immense Hebelwirkung entfalten können, nur zu unserem Wohl einsetzen, ist längst erschüttert. Sascha Lobo schrieb dazu:
    "Wer ganze Länder vollständig ausforscht, wer Millionen hosenloser Bürger ohne jeden Verdacht heimlich per Webcam fotografiert, wer mit absurd hoher Fehlerquote Daten sammelt, um namentlich nicht bekannte, vermeintliche Vielleichtterroristen samt Umstehender per Drohne zu ermorden - der schreckt vor nichts zurück."
    Wie sollen angesichts dieser monströsen neuen Möglichkeiten ehemals mächtige, nun aber hoffnungslos überholte Dystopien wie "1984", "Brave New World" oder auch "Das Leben der Anderen" noch wirken? Dringend brauchen wir neue Geschichten. Und als Vorstufe müssen wir zuerst die alten Narrative, die fünf großen Ausreden erledigen.
    Als allererstes: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Dieser Mythos impliziert, dass ein juristisch unbescholtener Bürger von Überwachung keinen Schaden, sondern nur Nutzen hat. Er setzt totales Vertrauen in die Obrigkeit, und schreitet damit zurück in vormoderne Zeiten. Nicht umsonst wird unsere Strafverfolgung und Rechtsprechung von vielen "Checks and Balances" abgesichert. Der Staat ist keine fehlerfreie Maschine, sondern ein komplexes Gebilde aus irrigen Menschen, die jeweils eigene Agenden verfolgen. Deshalb hat fast jeder Bürger schon einmal einen Irrtum der Staatsmacht, eine falsche Anschuldigung, ein zu hohes Bußgeld, einen irrenden Beamten erlebt. Die Fallhöhe dieser Fehler muss stets begrenzt bleiben. Es braucht keine Diktatur für einen Missbrauch von staatlicher Macht. Auch in Demokratien finden sich Beispiele für missbräuchliche Verwendung der Daten. Wie in Italien, wo ein kriminelles Netzwerk unter Beteiligung von Geheimdienstmitarbeitern zahlreiche prominente Persönlichkeiten erpresst haben soll. Aus den USA sind Fälle belegt, in denen NSA-Mitarbeiter die Überwachungsinstrumente nutzten, um Personen in ihrem privaten Umfeld auszuspionieren.
    Hinzu kommt: Jeder Mensch hat etwas zu verbergen. Geheimnisse haben und brauchen wir alle. Nackt zu sein, körperlich wie psychologisch, ist heute nicht mehr natürlich. Verbergen hingegen ist menschlich. Nur Narzissten mit einem ungesunden Verhältnis zur Öffentlichkeit machen sich komplett öffentlich. Wir anderen verschweigen instinktiv vieles über uns: Einkommen, Krankheiten, Vorlieben, Liebschaften. Selbst den bravsten Spießbürger träfe eine Veröffentlichung dieser privaten Routinen ins Mark. Das gesammelte Wissen über eine Person verleiht auch dann Macht über diese, wenn keine justiziablen Geheimnisse darin stecken. Jeder ist erpressbar.
    Und: Was heute harmlos erscheinen mag, kann morgen lebenswichtiges Geheimnis werden. So hatten die Niederlande in den 1930er-Jahren umfangreiche Bevölkerungsregister aufgebaut, in denen auch die Religionszugehörigkeit erfasst war. Diese Akten wurden 1939 von der Gestapo sichergestellt und ausgewertet. Als Ergebnis hatten die niederländischen Juden mit 73 Prozent die höchste Todesrate von allen Juden in den besetzten Ländern Westeuropas.
    Wissen ist Macht. Und Wissen über den Einzelnen ist Macht über den Einzelnen. Wer darf diese Macht haben? Soll man einem Nachrichtendienst vertrauen, der nicht einmal die eigene Bundeskanzlerin schützen kann?
    Über allen Missbrauchsszenarien steht die sogenannte Schere im Kopf: Wenn alle überwacht werden und alle Angst davor haben, auffällig zu werden, verarmt eine Gesellschaft geistig und emotional. Die Meinungsfreiheit fällt einer inneren, vorauseilenden Zensur zum Opfer.
    Man muss Geheimes verbergen dürfen
    In einer Demokratie ist also nicht wichtig, ob man etwas Geheimes zu verbergen hat, sondern dass man es grundsätzlich darf. Sonst ist es keine Demokratie.
    Zweitens: Die vermeintliche Existenzberechtigung der Überwachung, ihr raison d'être, ist der Terrorismus, der uns ständig bedroht.
    Glücklicherweise blieb Deutschland bisher von Terroranschlägen verschont. Wir können ohne kollektives Trauma analysieren, wie groß die Gefahr wirklich ist - und ob Überwachung dagegen hilft. Rein statistisch gesehen starben in England von 2000 bis 2010 pro Jahr an folgenden Ursachen diese Anzahl Menschen:
    • Terrorismus: Fünf Menschen.
    • Bienenstiche: Fünf Menschen.
    • Ertrinken in der Badewanne: 30 Menschen.
    Der Politikwissenschaftler Andreas Busch schreibt dazu:
    "Als objektive Gefahr ist der Terrorismus als Todesursache schon immer statistisch unbedeutend gewesen, darüber herrscht in der Literatur Einigkeit."
    Terror ist leider real. Seine Bedrohung für unser Leben wird jedoch übertrieben. Das Problem liegt zudem nicht in einem Mangel an Informationen, sondern in einem Mangel an sinnvoller Analyse. Man denke nur an den Rechtsterrorismus des NSU, dessen Verhinderung tragischerweise an vielem scheiterte, aber nicht an einem Mangel an Informationen.
    So hat etwa eine umfangreiche Analyse der New America Foundation gezeigt, dass von 229 identifizierten Terrorverdächtigen in den USA seit dem 11. September 2001 gerade einmal 18 (also 7,8 Prozent) auf Basis der erweiterten NSA-Massenüberwachungsbefugnisse entdeckt wurden. Der mit Abstand größte Teil der Verdächtigen (60 Prozent) wurde durch traditionelle Ermittlungsmethoden wie Informanten und routinemäßige Polizeiarbeit identifiziert.
    Das Supergrundrecht Sicherheit mit der vermeintlichen Dichotomie zwischen Sicherheit und Freiheit ist also eine Täuschung. Doch seine Prediger sind in der politischen Überzahl. Denn es lohnt sich für einen Innenminister immer eher zu überwachen, als nicht zu überwachen. Passiert etwas, und er hat nicht überwacht, wird man ihm das vorwerfen. Passiert nichts, war die Überwachung dennoch richtig, hat vielleicht sogar erst Schlimmeres verhindert. Dass Überwachung sicher macht, gilt also nur für den Job des Überwachers.
    Wir sind jedoch nicht besser: So lange es die anderen trifft und uns eventuell schützt, ist uns fast jedes Mittel Recht. Wir müssen uns aber klar machen: Wir, die Überwachten, sind weder sicher noch frei. Die Umkehr der Unschuldsvermutung macht uns alle zu Verdächtigen. Früher oder später bedeutet eine Stärkung des Sicherheitsstaates nicht mehr, sondern konkret weniger Sicherheit.
    Metadatensammlung ist nicht harmlos
    Dritte Ausrede: Eine weitere Schutzbehauptung der Überwacher ist die von der Harmlosigkeit der gesammelten Metadaten. Der BND hatte im Zuge des NSA-Untersuchungsausschusses sogar die Chuzpe, Metadaten als nicht personenbezogene Daten jenseits der sie schützenden Gesetze zu stellen.
    Forscher der Universität Stanford testeten die Macht dieser Informationen: Per Überwachungsapp wurden nur Metadaten von Freiwilligen gesammelt, wie bei einer sogenannten Vorratsdatenspeicherung. Neben tödlichen Herzkrankheiten und Alkoholsucht ihrer Probanden fanden die Forscher auch heraus, dass eine junge Frau mehrmals lange mit ihrer Schwester telefonierte, daraufhin etwas kürzer mit einer Abtreibungsklinik, von der aus sie eine Woche später ihre Mutter anrief. Was sie dort wohl tat?
    Metadaten sind nicht weniger schlimm als andere Daten. Weder in ihrer Aussagekraft noch in ihren Konsequenzen: "We kill people based on metadata", sagte Michael Hayden, ehemaliger Direktor der CIA, über das Drohnenprogramm der USA.
    Dabei sind die Datenkraken aus dem Silicon Valley die wahren Feinde, ihnen geben wir die Daten gar freiwillig! So mahnen besonders diejenigen, deren Branchen von den Netzkonzernen bedroht sind. Und Politiker, die vom Geheimdienstskandal ablenken wollen.
    "Das Paradoxon des Internet ist, dass alle über mangelndes Vertrauen klagen, und doch hemmungslos bei Facebook posten", schrieb CDU-Netzpolitiker Thomas Jarzombek kürzlich auf Twitter. Darin steckt das Missverständnis, dass vor allem junge Leute ihr ganzes Leben, also unverantwortlich viele Daten, freiwillig ins Netz kippen würden, und damit quasi datenvogelfrei wären.
    Sicher sammeln die Internetgiganten massenhaft Informationen, können sie missbrauchen oder an die Geheimdienste weitergeben, so wie sie es offenkundig bis heute tun. Sicher muss man darüber nachdenken, wie man sie in ihre Schranken weist. Womöglich auch, indem man sie nicht mehr nutzt. Oder nur eingeschränkt. Die allermeisten Menschen stellen beileibe nicht ihr komplettes Leben, sondern ein genau gefiltertes ideales Abbild ins Netz. Die Geheimdienste jedoch haben Zugriff auf alle Daten, und niemand kann sich entscheiden, die NSA oder den BND nicht mehr zu nutzen. Zudem kann die Staatsgewalt aufgrund dieser Daten ihr Gewaltmonopol ausüben, sprich mich ins Gefängnis stecken, während Google und Co. mir nur unpassende Werbung schicken.
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    Facebook gilt als Datenkrake. (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    Als Kunde habe ich eine Entscheidung. Als Bürger nicht. Der Staat hat jede Entscheidung über mich. Google nicht. Wer das verschweigt, betreibt eine gefährliche Relativierung staatlicher Überwachung.
    Und dann wäre da noch das Narrativ, das in jedem Diskurs, in jeder politischen Problematik durchscheint: Resignation.
    Wir müssen uns angesichts der Überwachungsattacken daran erinnern, was der Philosoph John Locke vom Staat dachte: Der Staat dient uns. Er ist ein Vertrag mit uns selbst, dessen Inhalte wir bestimmen. Verstößt er dagegen, müssen wir ihn zügeln.
    Oder lässt man sich horrende Steuererhöhungen gefallen? Raffgierige Finanzämter? Willkürliche Polizisten? Nein. Wieso dann außer Kontrolle geratene Geheimdienste?
    Die Müllabfuhr, ebenso von unseren Steuern finanziert, kommt nur, wenn wir es ihr sagen. Und holt den Müll ab, statt ihn zu durchwühlen. Wir müssen die Geheimdienste als das erkennen, was sie sind: Instrumente. Oder, martialischer: Waffen. Zeit für Abrüstung.
    Vor über 30 Jahren schaffte es schon einmal eine Bewegung in Deutschland, Überwachung abzulehnen. Rund 600.000 Befragte, damals fast ein Prozent der Bevölkerung, boykottierten 1983 die landesweite Volkszählung und machten sich strafbar, indem sie ihre Fragebögen einfach nicht abgaben. Das und unzählige Verfassungsklagen, Artikel und Demonstrationen machten es der Regierung unmöglich, an ihren Plänen festzuhalten. Der Virus der Überwachung war vorerst gestoppt.
    Erster Schritt der Genesung heute: Statt böser Ausreden sollten wir Klartext sprechen.
    Überwachung macht krank wie ein Virus. Überwachung macht verletzlich - den einzelnen wie die Gesellschaft. Überwachung macht kaputt - nämlich unsere Gemeinschaften und unsere Demokratien. Überwachung macht dumm, weil wir uns nicht mehr ehrlich austauschen, sondern - wie das vierte Kind in der Studie - lieber lügen, als aufzufallen. Überwachung macht primitiv, weil wir in Selbstverteidigung statt Kooperation zurückfallen. Überwachung macht unfrei und ohnmächtig, weil der einzelne keine Macht gegen den Überwacher hat, der aber schon über ihn. Überwachung ist unmenschlich, denn sie treibt uns zurück in die Herde.
    Überwachung ist Angriff auf den Bürger
    Überwachung ist keine Politik wie eine Steuererhöhung, die man hinnehmen muss, sondern ein Angriff der Exekutive auf ihre Bürger.
    Meine Daten sind mein Leben, denn in einer vernetzten Welt sind Daten genau so wichtig wie die körperliche Unversehrtheit.
    Daten sind ein Menschenrecht.
    Was kann man nun mit all diesen Ideen gegen Überwachung anfangen? Wie den Impfstoff unters Volk bringen? Der Schriftsteller Günther Hack fordert eine neue Science Fiction. Er schrieb in der FAZ:
    "Wissenschaftler, Programmierer und Schriftsteller müssen und werden gemeinsam ein neues Feld aufziehen, ihre zerbrochene Kultur erneuern, wieder in Resonanz gehen, neuen Code schreiben, oder besser: etwas schaffen, das über das Konzept von Code hinausgeht, neue Horizonte öffnet. Es ist eine Aufgabe von überwältigender Schönheit."
    Aber auch diesseits von fantastischen Erzählungen kann man die Wunder des Netzes nutzen, um seine Rettung voranzutreiben. Auf der Webseite der britischen Fernsehserie "Utopia", einer avantgardistischen Dystopie, lief parallel zur Ausstrahlung das "Utopia Experiment": Der User konnte sein digitales Verhalten und die von ihm benutzten Geräte angeben. Die Seite rechnete ihm aus, wie schnell er von einem korrupten Geheimdienst zur Strecke gebracht werden würde.
    Die Datenvisualisierung des Grünen-Abgeordneten Malte Spitz zeigte schon 2011, wie genau das Bild ist, das Telekommunikationsanbieter mittels unserer Daten von uns zeichnen können. Was also tun?
    • Man startet eine Petition gegen Überwachung oder unterzeichnet eine, die es schon gibt.
    • Man schreibt seinem Abgeordneten eine Mail, indem man sein Lieblingsargument gegen Überwachung präzise darlegt, und fordert ihn auf, sich damit zu beschäftigen.
    • Man teilt diese Sendung oder ein anderes Stück über Überwachung in einem Netzwerk, mit Freunden und Kollegen.
    • Man nimmt an einer Online-Diskussion mit einem Politiker teil und fragt, warum wir überwacht werden.
    • Man organisiert sich online oder auch offline in einer der vielen Gemeinschaften, die gegen Überwachung arbeiten.
    • Man konsumiert bewusst: Nutzt Mail-Anbieter, die standardisiert verschlüsseln, statt mit den Geheimdiensten zusammenarbeiten. Man nutzt Suchmaschinen und Browser, die fair mit Daten umgehen.
    • Und vor allem: Man überkommt die Paralyse des Virus Überwachung.
    Glauben Sie nicht, wenn man ihnen erzählen will, das ginge Sie nichts an. Warten Sie nicht, bis es zu spät ist.