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Terrorbekämpfung in Deutschland
"Gerne wird verschwiegen, dass Fahndung nach Amri auf Sparflamme lief"

Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, Clemens Binninger, sieht im Fall Anis Amri die politische Verantwortung bei Nordrhein-Westfalens Innenminister Jäger. Im DLF forderte der CDU-Politiker zudem eine zentrale Zuständigkeit auf Bundesebene zur Gefahrenabwehr.

Clemens Binniger im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 30.03.2017
    Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Clemens Binninger, spricht in Mikrofone. Bildunterschrift Geben Sie eine individuelle Bildunterschrift ein oder lassen Sie das Feld leer, um die Bildunterschrift aus der MediaDB/Bildbrowser zu überne
    Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Clemens Binninger, hat im DLF NRW-Innenminister Jäger vorgeworfen, im Fall Amri sei eine "Fahndung auf Sparflamme" durchgeführt worden. (imago / Christian Ditsch)
    Es seien überwiegend die Behörden von Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) mit Amri beschäftigt gewesen, sagte der CDU-Politiker Clemens Binninger im Deutschlandfunk. Jäger mache es sich viel zu leicht, wenn er die Verantwortung von sich wegschiebe.
    Das Parlamentarische Kontrollgremium hat gestern über den Abschlussbericht zum Fall Amri beraten. Darin benennen die Abgeordneten keinen Alleinverantwortlichen für Fehleinschätzungen im Fall des Weihnachtsmarktattentäters. Sie forderten aber bundesweit einheitliche Maßnahmen im Kampf gegen islamistische Gefährder. Amri hatte am 19. Dezember einen Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gesteuert und zwölf Menschen getötet.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Wie konnte Anis Amri den Behörden durch die Lappen gehen? Die Antwort auf diese Frage ist wohl komplex, allein schon deshalb, weil ziemlich viele Behörden in dieser Sache mit Anis Amri beschäftigt waren, auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen. In Düsseldorf beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags mit dieser Sache und in Berlin hat das Parlamentarische Kontrollgremium eine Task Force zu dem Thema angesetzt. Gestern wurde der Bericht übergeben und darüber möchte ich jetzt mit Clemens Binninger sprechen. Er sitzt für die CDU im Parlamentarischen Kontrollgremium. Guten Morgen, Herr Binninger.
    Clemens Binninger: Guten Morgen, Frau Büüsker.
    Büüsker: Auf Basis der Lektüre dieses geheimen Berichts, zu welchen Schlüssen kommen Sie? Wo hat es im Fall Anis Amri gehakt?
    Binninger: Wir haben ja gestern eine öffentliche Bewertung dazu abgegeben, was wir dürfen in solchen Fällen, wenn wir es beschließen, und wir haben zum einen strukturelle Fehler in der Arbeitsweise festgestellt, aber natürlich auch sehr konkrete Fehler im Einzelfall Amri.
    Vielleicht zunächst zu den strukturellen Problemen.
    Sie hatten es ja gerade angedeutet. Viele staatliche Stellen hatten mit Amri zu tun. In der Zeit, in der er hier war, in den eineinhalb Jahren waren es rund 50 staatliche Stellen, Nachrichtendienste, Polizeidienststellen, Staatsanwaltschaften bis hin ja zum Innenministerium von Herrn Jäger auch selber. Das beschreibt diese Zuständigkeitsvielfalt, zum Teil überlappend, zum Teil nacheinander. Und wir haben im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum, wo solche Fälle wie Amri, amtsbekannte Gefährder ja nahezu monatlich bewertet werden, wie sich die Lage entwickelt, auch eine vielfache Zuständigkeit und am Ende keine klaren Verantwortlichkeiten für einen Fall, dass man sagen könnte, alles ausländerrechtlich Thema Abschiebung, Thema Terrorermittlungen, Thema Ermittlungen wegen anderer Straftaten ist gebündelt in klarer Verantwortlichkeit.
    Das sind die strukturellen Probleme, dass wir hier eine Vielfachzuständigkeit haben von Bund und Landesbehörden, die bei Terrorgefährdern so nicht bleiben kann.
    Büüsker: Herr Binninger, lassen Sie mich da kurz einhaken. Zu den persönlichen Dingen können wir später noch kommen. Wenn Sie jetzt die strukturellen Fehler benennen, die ja offensichtlich vielfältig sind, welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Ansicht nach daraus?
    Binninger: Für die kleine, aber ja für unser Land sehr gefährliche Gruppe von islamistischen Gefährdern und sonstigen relevanten Personen – da dürften wir über einen Personenkreis von etwa 1.000 reden -, können wir es uns nicht leisten, dass wir die Zuständigkeit von 37 Landes- und Bundesbehörden haben, je nachdem wo der seinen Wohnsitz hat, und dass die Zuständigkeiten wechseln, je nach Reiseverhalten eines Gefährders. Hier im Beispiel war es ja so: Dieses Pendeln zwischen NRW und Berlin hat zu ständig wechselnden Zuständigkeiten geführt. Dann müsste eine zentrale Zuständigkeit auf Bundesebene vorhanden sein für Terrorermittlungen - das haben wir heute schon bei der Generalbundesanwaltschaft -, aber auch für die Bündelung anderer Strafverfahren – damit hätte man Amri auch in Haft nehmen können – und auch für das Thema Abschiebung – das könnte die Bundespolizei sein. Wir brauchen hier eine Konzentration, dass man sagt, nicht 40 staatliche Stellen sind für Gefährder zuständig, sondern vielleicht maximal vier.
    "Für diese Fälle von Terror muss es eine Konzentration geben"
    Büüsker: Das würde aber bedeuten, weniger Föderalismus.
    Binninger: Ja. Das bedeutet in diesem Punkt, so eine Bedrohungslage, die ja immer auch internationale Bezüge hat und für die unsere föderale Sicherheitsagentur nie ausgelegt war, für diese Fälle von Terror muss es eine Konzentration geben. Ich glaube nicht, dass wir uns noch lange diese Vielfachzuständigkeiten erlauben können, und im Fall Amri hat sich gezeigt, dass hier der Föderalismus und seine Sicherheitsarchitektur sehr schnell und sehr deutlich an ihre Grenzen gekommen sind.
    Der zweite Punkt, den ich noch ganz kurz nennen will, den wir strukturell festgestellt haben, neben den Versäumnissen im Einzelfall, ist, dass man in diesem Terrorabwehrzentrum, ich will mal sagen, sehr formalistisch die Sachverhalte bewertet, aber nicht die Gefährlichkeit der Person. Das hat dazu geführt, dass man bei Amri ein bestimmtes Szenario, Hinweise hatte. Dieses Szenario hat sich nicht bestätigt aufgrund Telefonüberwachung und anderer Dinge. Und dann hat man den Sachverhalt als wenig wahrscheinlich eingesetzt und damit auch etwas herabgestuft. An der Gefährlichkeit der Person hat sich aber dadurch ja nichts geändert, und deshalb sagen wir, solche Bewertungen dürfen nicht nur an einem denkbaren Terrorszenario festmachen, sie müssen immer auch die Person, die ja noch da ist, die ja noch gefährlich ist, mit in den Mittelpunkt stellen.
    "Innenminister Jäger macht es sich viel zu leicht"
    Büüsker: Müssen für diese Fehler, die festgestellt wurden, konkrete Personen zur Verantwortung gezogen werden?
    Binninger: Wissen Sie, die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit stellt sich in so einem Fall natürlich immer. Und wenn jetzt zum Beispiel Herr Jäger das permanent von sich wegschiebt, obwohl – und das ist nun mal ein Fakt – seine Behörden, das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (das war die federführende Polizeidienststelle beim Thema Terror), die Ausländerbehörden (das waren die Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen), bis hin zu seinem Ministerium, das ja selber auch mal die Entscheidung getroffen hat, nachdem Amri festgenommen war Anfang August, nein, man muss ihn wieder freilassen, wir kriegen ihn nicht in Abschiebehaft, dann ist die Verantwortlichkeit, glaube ich, schon klar. Aber das muss Herr Jäger für sich selber verantworten, ob er die übernimmt oder nicht. Ich finde nur, er macht es sich viel zu leicht, indem er die Verantwortung von sich wegschiebt.
    Büüsker: Sehen Sie mit diesem Bericht, den die Task Force jetzt vorgelegt hat, den Fall Anis Amri ausreichend aufgeklärt, oder braucht es vielleicht darüber hinaus doch noch so etwas wie einen Untersuchungsausschuss?
    Binninger: Wir haben ja eine Untersuchung in Berlin durch einen Sonderermittler, der jetzt seine Arbeit beginnt. Wir haben den Ausschuss in Nordrhein-Westfalen. Und wir hatten ja auch ein bisschen die Aufgabe, vor allen Dingen uns auf die Bundesbehörden zu konzentrieren, natürlich auch die Schnittstellen zu den Landesbehörden. Da haben wir mit unseren neuen Instrumenten, mit unserer Task Force, glaube ich, jetzt in zwei Monaten eine wirklich gute und solide Untersuchung abgeliefert, wo ich jetzt keinen Bedarf sehe, dass man weiterführend noch Erkenntnisse gewinnen könnte über das hinaus, was wir jetzt gewonnen haben. Und ich glaube auch, dass die eigentlichen Befunde ja auf dem Tisch liegen, Unterschätzung der Gefährlichkeit, man hat ihn nicht in Abschiebehaft genommen, obwohl es rechtlich gegangen wäre, diese strukturellen Probleme, man hat die Nachrichtendienste (diesmal war es anders herum) nicht ausreichend genutzt und eingebunden von Polizeiseite her, wie wir gestern festgestellt haben. Die Befunde liegen jetzt auch auf dem Tisch. Von daher, glaube ich, wird jetzt eine weitere Untersuchung keinen neuen Erkenntnisgewinn bringen.
    Büüsker: Aber, Herr Binninger, diese Befunde liegen ja nur auf Ihrem Tisch. Will sagen, nur das Parlamentarische Kontrollgremium kann tatsächlich auch den ganzen Bericht lesen. Die Bevölkerung bekommt ja nur eine abgeschwächte Variante zu sehen?
    Binninger: Na ja, ich kenne die Debatte, Frau Büüsker. Aber das ist jetzt ein bisschen immer sich im Kreis drehen. Alle wissen, dass unser Gremium aus guten Gründen immer grundsätzlich geheim arbeitet, weil es auch um brisante Informationen geht, aber dass wir das, was wir ja gestern gemacht haben, in besonderen Sachverhalten auch eine öffentliche Bewertung abgeben können, wo wir auch den Sachverhalt schildern, wo wir auch Dinge nennen können, dass man es einordnen kann.
    Und wir werden auch sicher eine öffentliche Fassung des Sachverhalts machen mit einer Bewertung, die dann auch dem Parlament zugeht, die natürlich nicht jedes Detail enthalten kann, aber wo ich auch klipp und klar sage, für eine Bewertung und für die notwendigen Schlussfolgerungen, da reicht dieser Befund, wie ich finde, allemal aus. Viele Details und Fragen richten sich an Landesbehörden. Das würde unsere Zuständigkeit dann nicht mehr erfassen. Das machen die Kollegen im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Und dann gibt es den Sonderermittler in Berlin.
    Ich glaube, in Summe dieser drei Untersuchungsgremien gibt es dann auch ein hinreichend stabiles öffentliches Bild, wo ich sage, der Grundbefund ist ja schon da. Beim Thema Abschiebehaft gab es Fehler bei Amri.
    Binninger: Verantwortung für Abschiebung hatte nun mal Nordrhein-Westfalen
    Übrigens wenn Herr Jäger immer sagt, man hätte ihn nicht festnehmen können, sehe ich das bei den rechtlichen Gründen anders. Aber es gibt natürlich tatsächliche Gründe. Man hat ja nach ihm gar nicht gesucht. Er war ja weg! Das wird immer gerne verschwiegen, dass die Fahndung nach Amri, als man kein Terrorverfahren eröffnen konnte, wirklich auf absoluter Sparflamme lief in Nordrhein-Westfalen. Man hat dreimal seine Adresse überprüft, da war er dann nicht, und dann ließ man es dabei bewenden. Man hat einmal noch das Handy geortet und dann war man froh, dass das nicht in Nordrhein-Westfalen anschlägt, sondern in Berlin-Brandenburg, aber das ist natürlich keine Fahndung nach einer so gefährlichen Person. Und die Verantwortung für die Abschiebung - das war die Vereinbarung im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum - hatte nun mal Nordrhein-Westfalen.
    Da, glaube ich, liegen in Summe die Befunde auf dem Tisch, sodass man jetzt darüber nachdenken kann, wie müssen wir auch im Interesse der Sicherheit unseres Landes die Arbeit der Sicherheitsbehörden neu ordnen, ein neues Gefährder-Management, weil – davon bin ich zutiefst überzeugt – für diese kleine Gruppe islamistischer Gefährder, alle mit internationalen Bezügen, können wir keine Nebeneinanderzuständigkeit von 37 Polizeien und Nachrichtendiensten uns weiter leisten. Das wird nicht funktionieren.
    Büüsker: So die Einschätzung von Clemens Binninger, Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, CDU-Mitglied. Vielen Dank, Herr Binninger.
    Binninger: Danke, Frau Büüsker.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.