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Theodor Herzl und sein Programm vom Judenstaat

Der ungarisch-jüdische Schriftsteller Theodor Herzl veröffentlichte 1895 sein berühmtes Buch "Der Judenstaat", das zum Manifest für die jüdische Selbstbestimmung in einer eigenen Nation wurde. Mit diesem Buch verschaffte er der zionistischen Idee auch außerhalb des Judentums weltweite Anerkennung.

Rüdiger Achenbach im Gespräch mit dem jüdischen Publizisten Günther Bernd Ginzel |
    Rüdiger Achenbach: Ein besonderer Impuls – wir haben den Namen schon angesprochen – für die Bewegung des Zionismus ging dann zweifellos von Theodor Herzl aus. Obwohl er aus einer völlig assimilierten Umgebung kam, wie Sie sie ja auch beschrieben haben, aus der die meisten jüdischen Intellektuellen in dieser Zeit kamen, wird er sozusagen zum organisatorischen Motor.

    Günther Bernd Ginzel: Auch er ist natürlich in unserm Kontext ungeheuer typisch. Wo wird er geboren? In Budapest. Was spricht man? Deutsch! Was ist man? Österreichisch! Sie sehen: dieser Kosmopolitismus, der ja einmal in Europa auch weitgehend zu Hause war. Allein durch die so großen Reiche, etwa der Habsburger und so weiter, und bei Herzl war es dann auch der Antisemitismus in seiner eigenen schlagenden Verbindung, und vor allen Dingen: das Leben im Mutterland der europäischen Freiheitsbewegung in Frankreich, im Mutterland der Emanzipation, wo sozusagen die europäische Kultur-Elite versammelt war, in diesem Frankreich kommt es zum sogenannten Dreyfus-Skandal. Es wird von dem dortigen Militär ein jüdischer Hauptmann beschuldigt, und zwar verlogen – gefälschte Dokumente vorgelegt – eine klassische antisemitische Intrige – er habe eben Frankreich an Preußen verraten.

    Achenbach: Er wird angeklagt des Spionageverdachts, und man sieht dahinter eine große jüdische Verschwörung.

    Ginzel: Eine jüdische Verschwörung! Und er ist dabei. Theodor Herzl steht auf dem Appellplatz. Er sieht die Degradierung nach der Verurteilung von Dreifuss, er sieht die Verzweiflung dieses jüdischen französischen Patrioten, der als letztes ruft: "Es lebe Frankreich! Ich bin unschuldig!" Herzl wird krank, Herzl wird krank in dieser Situation. Er hat nur ein Gefühl, der assimilierte Jude: Ich muss was tun für die Juden! In diesem ganzen Pathos, was daraus klingt: So ist es! Er taucht ab, er beschäftigt sich, er schreibt Bücher, er schreibt Theaterstücke, ungeheuer pathetisch, wo dann im Endeffekt Juden sich sozusagen selbst aus dem Ghetto befreien, und er mündet in diese Bewegung, die damals eben in der Tat schon durchaus aus den Anfängen herausgewachsen war, wenn auch nicht organisatorisch strukturiert, mit dem Ruf: Wir müssen eine Basis schaffen für eine neue, kollektive Ehre, die wir nur in Zion aufbauen können.

    Achenbach: Er verfasst ja dann 1895 sein berühmtes Buch "Der Judenstaat", das sozusagen zum Manifest für die jüdische Selbstbestimmung in einer eigenen Nation werden sollte. Herzl entwirft hier ein Programm, in dem er nun einen Staat für Juden, aber keinen jüdischen Staat haben will. Das heißt also, für ihn steht allein die nationale Frage im Vordergrund, vor allen anderen Fragen.

    Ginzel: Ja, es steht vor allen Fragen im Vordergrund, die, wie es immer wieder als Schlagwort hieß, – ' die Judennot. Pogrome in Russland, Pogrome in Polen. Das war auch das Bestimmende. Man hatte das Gefühl, dass man nicht mehr viel Zeit hat. Deswegen auch das Entscheidende: wenn wir uns mit den Rabbinen sozusagen einigen müssten, das haut ja nie hin! Da gehen wir den Weg, den andere Völker auch gegangen sind. Nicht das Christentum ist Nation geworden, sondern die Polen, die Deutschen, die Franzosen. Also müssen die Juden das ähnlich machen. Und er hätte jedes Land, wie er später sagen sollte, genommen, um die Judennot zu lösen. Das zeigt auch ein Stückchen, dass auch die Frage des Pragmatismus hier eine Rolle spielte. Und er ist jetzt derjenige, der der zionistischen Idee weltweit Anerkennung verschaffen konnte, und zwar nicht nur im Innerjüdischen, da vielleicht gar nicht so stark, sondern vor allem im Außerjüdischen.

    Achenbach: Herzl ist dann ja auch maßgeblich daran beteiligt, die zionistische Bewegung international zu organisieren, das haben Sie gerade angedeutet, und es kommt dann, 1897, in Basel zum ersten zionistischen Weltkongress, unter seiner Leitung.

    Ginzel: Das war schon einmal einfach eine enorme Leistung. Und es ist ihm gelungen, ein sehr kluges Manifest durchzusetzen, nämlich das von der "jüdischen Heimstatt". Das heißt: gefordert wird nicht ein unabhängiger Nationalstaat – ' es ist auch die Frage, ob das jemals damals hätte durchgesetzt werden können – sondern "eine jüdische Heimstatt im Land der Bibel". Und das war dann für alle Beteiligten, die da versammelt waren, mehrheitsfähig, und das war auch die Basis für seine ganz außergewöhnlichen diplomatischen Aktivitäten, die er nun entwickelte. Denn wem gehörte das heilige Land? Es gehörte ja nicht den Arabern, sondern es gehörte zum Osmanischen Reich, es gehörte den Türken. Deswegen –wenn so viele sagen: ja, warum hat man nicht die Araber gesehen, man hätte ja die arabische Nation sehen müssen! Die gab es ja nicht! Das ist ja alles eine später rückprojizierte Polemik. Damals gab es nicht die Araber als einen ernst zu nehmenden Verhandlungspartner, nicht weil man europäisch arrogant war, – ' das war man vielleicht auch? – ' zumindest waren die Araber für die Europäer keine erkennbaren Verhandlungspartner, wohl aber diejenigen, denen das Land gehörte, und zwar seit 400 Jahren Das war die Hohe Pforte, das war das osmanische Reich, und so kam es, dass Herzl, dass er mit dem Sultan verhandelte, dass er versuchte, ihm schmackhaft zu machen : in seinem Bereich, Provinz Nordsyrien, Region Palästina, doch zuzustimmen, dass die Juden sich ansiedeln dürften, um eine kulturelle Autonomie zu leben.

    Und er hat das gleiche mit den großen Königshäusern in Europa getan; er hat versucht, die Zustimmung der imperialen Mächte zu gewinnen und nicht zuletzt die des Vatikans. Die Gegnerschaft im Vatikan war die entschiedenste. Weil der gesagt hat: Unsere These bedeutet: warum gibt es den jüdischen Staat nicht mehr? Warum leben die Juden in der Verbannung, im Exil? Weil sie gesündigt haben! Weil sie verworfen sind, weil sie verstockt den Ruf Jesu, ihn anzuerkennen als Gottessohn und wahren Messias geleugnet hatten, weil sie's immer noch leugnen. Was also, so der Papst zu Herzl – er schreibt das sehr bewegend in seinen Tagebüchern – wenn die Juden plötzlich wieder einen Staat im Lande Israel bilden? Was ist dann mit unserer Lehre? Haben wir uns dann getäuscht? Kann es denn sein, dass sozusagen die, die aus Strafe verbannt wurden, so die christliche Interpretation, rehabilitiert werden? Und aus diesen Gründen gab's also denn auch sowohl eine christliche Sympathie, vor allem in protestantischen Landen, und eine gewisse Opposition vor allem in katholischen Landen.

    Achenbach: Auf der diplomatischen Ebene kommt dann ja ein Vorschlag aus Großbritannien, den Herzl, sozusagen als Übergangslösung, eigentlich ganz gerne angenommen hätte: der sogenannte Uganda-Vorschlag.
    Ginzel: Ja, da kamen sie also auf die Idee und haben gesagt: na ja, uns fallen ein bisschen die Zionisten auf den Wecker, die wollen hier die Unterstützung unseres Königshauses haben, Mensch, bieten wir denen doch mal Uganda an. Aber: Nun kommt es zu einem entscheidenden Wendepunkt in der zionistischen Geschichte. Theodor Herzl war – ich muss es einfach noch einmal sagen – tief, tief bestürzt, dass vor der Haustür, in seinem geliebten Europa, nur wenige Hundert Kilometer von Wien entfernt es zu den fürchterlichsten Massakern an Juden kam, sodass er gesagt hat, ähnlich wie vorher schon: Die Judennot ist so groß. Wir nehmen alles. Ich akzeptiere Uganda! Und er bringt diesen Plan in die zionistische Weltorganisation ein und schlägt vor: Lassen wir doch die Siedlungen und unseren Nationalstaat in Uganda verwirklichen!

    Achenbach: Auch wenn es nur eine Zwischenlösung ist.

    Ginzel: Ja, das mit der Zwischenlösung oder Nicht-Zwischenlösung – es war einfach Pragmatismus, das weiß man gar nicht so genau, ob es wirklich ... Denn wenn man einen Nationalstaat in Uganda hat, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die irgendwann geschlossen ihre Koffer packen und in eine andere Region ziehen.

    Nun kommt es zu etwas, was manche Beobachter glauben, dass es Theodor Herzl letztendlich das Leben gekostet hat. Theodor Herzl bringt also diesen Vorschlag ein und er erlebt mit seinem Uganda-Plan die Katastrophe seines Lebens. Denn ausgerechnet diejenigen, für die er sich das auch als Kompromiss– das war ihm schon klar, dass es ein Kompromiss ist, – ' das ausgedacht hat, weil er sich gesagt hat: Mensch, deren Not, deren Verzweiflung ist so groß. Da muss sofort etwas geschehen, und wenn wir nach Zion nicht kommen, dann greifen wir nach diesem Strohhalm! Nehmen wir Uganda! Schaffen wir die Leute dahin, die jetzt vor den Pogromen sich retten können, und retten sie!

    Und es kam zum Aufstand ausgerechnet dieser Armen der Ärmsten in den Gettos, diejenigen, die überhaupt Zionisten waren. Wir müssen auch immer daran denken: Nicht das ganze osteuropäische Judentum war zionistisch, sondern lediglich diejenigen, die sich von der Vormachtstellung der Rabbiner emanzipiert hatten. Die Rabbiner waren ja strikt antizionistisch! Denn für die war Theodor Herzl ein Gotteslästerer. Aber da gab es eben doch noch Tausende und Tausende anderer und deren Delegierte, die sprachen plötzlich von Verrat.

    Theodor Herzl, den, den sie so bewundert hatten, der ist derjenige, der uns in die Freiheit des heiligen Landes führt, und nun kommt der und sagt, wir sollen nach Afrika – nach Uganda gehen! Und die Aufregung, allein über die Tatsache, dass dieser Plan eingebracht wurde, war so groß – Theodor Herzl verzweifelte, Theodor Herzl ist sehr bald gestorben.

    Achenbach: ... im Alter von 44 Jahren!

    Ginzel: ... im Alter von 44 Jahren. Andererseits gab es nun eine weitere Bewegung: die Territorialisten. Das heißt, eine Gruppierung, die nicht unbedeutend war, wenn auch nicht so groß wie jetzt die Zionistische Weltorganisation, die da gerade entstanden war, und die sagten: Stopp! Also, jetzt lassen wir mal dieses ganze romantisierende Theater mit "Zion" und "Jerusalem" und "Land der Bibel". Was ist für uns das Entscheidende? Der Theodor Herzl hat im Prinzip ganz recht. Wir brauchen ein Land, egal welches, ob Argentinien oder Australien, und von denen stammt das Wort: "Wir suchen für ein Volk ohne Land ein Land ohne Volk!" Das ist die Parole der Territorialisten und nie der Zionisten gewesen.

    Die Idee eines jüdischen Staates: Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart