Samstag, 11. Mai 2024

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Thierse: Aufarbeitung des DDR-Unrechts noch lange nicht beendet

Das jetzt aufgefundene Dokument zum Schießbefehl an der Mauer belegt nach Ansicht von Wolfgang Thierse, dass die Aufarbeitung des DDR-Unrechts noch lange nicht beendet ist. Eine Verharmlosung dieses Unrechts durch ehemalige SED-Funktionäre dürfe nicht zugelassen werden, sagte der Bundestags-Vizepräsident. Überlegungen, die Birthler-Behörde aufzulösen und die Unterlagen im Bundesarchiv einzulagern, kritisierte er als verfrüht.

Moderation: Bettina Klein | 13.08.2007
    Bettina Klein: 13. August 2007 - 46 Jahre Mauerbau. Ausgerechnet an diesem ungeraden Jahrestag sorgt ein Dokument für Aufsehen, das einen Schießbefehl für eine bestimmte Einheit an der innerdeutschen Grenze belegt. Dass es einen solchen schriftlichen Befehl gegeben habe, hatten Vertreter der SED-Führung stets bestritten. Am Telefon begrüße ich jetzt Wolfgang Thierse, einer der Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages. Guten Morgen Herr Thierse!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen Frau Klein.

    Klein: Was bedeutet es für die historische Aufarbeitung, dass wir diesen Befehl jetzt kennen?

    Thierse: Ach wissen Sie angesichts des Streits darum, ist das ein neuer Fund oder ein alter Fund, fällt mir nur ein: So viele Menschen sind an der Grenze gestorben. Sie wurden erschossen, ermordet, nur weil sie die DDR verlassen wollten. Da gibt es Leute, die immer noch die Existenz einer Anweisung, eines Befehls zum Schießen bestreiten, als ob die jungen Männer an der Grenze, die Grenzsoldaten aus freiem Willen, aus Jux und Dollerei Menschen ermordet hätten. Das ist absurd und das ist schlimm, dass nach wie vor wie Herr Krenz, aber auch nicht wenige andere diese Art Schönfärberei, ja Lüge betreiben. Insofern ist ein solches Papier wichtig, damit es denen ein bisschen schwerer fällt, ihre lügnerischen Behauptungen aufrecht zu erhalten, egal ob der Fund zehn Jahre alt ist oder nur drei Tage.

    Klein: Ist es aus Ihrer Sicht schon wichtig, dass solche Belege für einen schriftlichen Befehl auftauchen, oder müssen wir ohnehin davon ausgehen, dass es diese Befehle gegeben hat, schriftlich fixiert, auch wenn wir sie heute nicht mehr finden?

    Thierse: Wir müssen davon ausgehen, dass es diese Befehle, diese Anweisungen gegeben hat, denn wie gesagt Grenzsoldaten, 18-, 20-Jährige, haben nicht aus freiem Willen geschossen, sondern weil sie angewiesen worden sind. Und nicht wenige Grenzsoldaten sind ja auch geflohen, weil sie diesen moralischen Druck nicht mehr ausgehalten haben, genau das nicht wollten, auf ihre Landsleute schießen. Dieses Dokument belegt ja, dass die Stasi selber Grenzsoldaten observiert hatte, sich dort untergemischt hatte, um zu verhindern, dass Grenzsoldaten selber abhauen. Insofern ist das ein nicht unwichtiges Dokument und es beweist noch einmal, dass wir noch lange nicht fertig sind mit der Aufarbeitung von DDR-Geschichte, von SED-Unrecht.

    Klein: Der Befehl galt - wir haben es mehrfach heute Morgen angesprochen - einer Eliteeinheit innerhalb der Grenztruppen, die also zur Stasi gehörte. Ist das Dokument dennoch aussagekräftig über die Praxis, die an der Grenze auch darüber hinaus betrieben wurde?

    Thierse: Es ist jedenfalls ein Beleg für das, was wir ja tatsächlich wissen. Wir wissen es anhand der Opfer. Wir wissen es aus vielen Berichten von Flüchtenden. Wir wissen es aus vielen Berichten von Grenzsoldaten. Als DDR-Bürger wusste man doch auch, selbst wenn man jede Einzelheit nicht kannte, was das für ein Grenzregime war. Es geht immer nur darum, dass wir begründet und entschieden denen widersprechen, die dieses SED-Unrecht verharmlosen und beschönigen, wie es jetzt noch mal Herr Krenz getan hat und wie es ja nicht wenige andere aus der SED oder ihrer Nachfolgepartei immer noch tun.

    Klein: Egon Krenz wird heute zitiert in einer Zeitung mit den Worten, es hat einen Tötungsbefehl oder wie Sie es nennen Schießbefehl nicht gegeben. "Das weiß ich nicht aus Akten; das weiß ich aus eigenem Erleben." Was ist aus Ihrer Sicht ein angemessener Umgang mit dieser Einschätzung der Geschichte?

    Thierse: Man muss widersprechen und selbst wenn es einen schriftlichen Schießbefehl nicht gegeben hat, möglicherweise weil die SED-Oberen aus der Nazi-Zeit gelernt haben und gesagt haben, man darf nicht so viel hinterlassen von den eigenen Untaten, so geht es wirklich darum, dieses nicht zuzulassen, die Verharmlosung von SED-Unrecht. Deswegen ist es wichtig, dass die DDR-Geschichte in all ihren inneren Widersprüchen und sehr differenziert, aber auch hinsichtlich des Unrechts Gegenstand des Schulunterrichts in Deutschland wird, auch in der Öffentlichkeit wach gehalten wird. Wir brauchen diesen Teil unserer Geschichte als Gegenwart, um zu begreifen wie kostbar Demokratie und Freiheit sind und wie gefährdet sie auch immer wieder sein können.

    Klein: Ein einziges Dokument erregt jetzt so viel Aufsehen. Viele andere sind vermutlich vernichtet worden in der großen Aktion der Stasi zum Jahreswechsel 1989/1990. Es stellt sich schon die Frage, wie nahe wir eigentlich an der Wahrheit dran sind, an dem was schriftlich niedergelegt wurde über Befehlsstrukturen und dergleichen. Wie beurteilen Sie unseren Kenntnisstand angesichts der Tatsache, dass viele Akten vernichtet wurden, die jetzt auch mühsam wieder zusammengesetzt werden müssen?

    Thierse: Erstens muss man sagen, die Wahrheit steckt nicht nur in den Akten. Geschichtsforschung kann sich ja nicht nur auf Akten beziehen, zumal nicht nur auf Stasi-Akten. Mindestens so wichtig sind die Erfahrungen, die Erlebnisse der Betroffenen, der Beteiligten. Da ist allerhand aufgearbeitet worden, aber ich glaube, dass wir noch lange nicht am Ende sind und es ist auch nicht unwichtig - das will ich ausdrücklich betonen -, dass wir jedenfalls den Versuch machen, zerstückelte Akten wieder zu rekonstruieren. Es ist eben denkbar und nicht unwahrscheinlich, dass in diesen zusammengesetzten Akten der Stasi dann doch sich noch mancher Fund verbirgt, der hinsichtlich der Struktur, der Mechanismen, aber auch der persönlichen Verantwortlichkeiten Aufklärung ermöglicht.

    Klein: Es entstand etwas Verwirrung am Wochenende um den neuen Fund. Sie haben es vorhin gerade angedeutet. Zunächst hieß es neu und sehr brisant. Dann räumte die Behörde von Marianne Birthler ein, dass schon vor zehn Jahren ein Papier ähnlichen Inhalts entdeckt wurde, allerdings versteckt eigentlich in einer wissenschaftlichen Arbeit. Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb das damals nicht so an die Öffentlichkeit gelangte wie heute?

    Thierse: Da müsste man über die deutsche Öffentlichkeit sinnieren. Wenn etwas in einem dicken Buch steht, das 500 oder 700 Seiten stark ist, welchen Journalisten gibt es, der sich die Mühe macht, so viel zu lesen. Dass es jetzt erst richtig Aufmerksamkeit erzeugt, das kann man ja nicht der Birthler-Behörde oder ihrem Außenstellenleiter vorwerfen, sondern nur denjenigen, die sich etwas ausführlicher damit befassen, dass ihnen nicht alles immer präsent ist. Ich sage das ohne Vorwurf weiter, aber es ist halt so. Die kurze Schlagzeile, die deftige Information, die erzeugt Wirkung, nicht die differenzierte Darstellung, in der dann auch präzise Dokumente enthalten sind. Das ist halt so in unserer Art von Aufmerksamkeitsstrukturen.

    Klein: Wie beurteilen Sie denn, Herr Thierse, vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse die Sorge, dass die Birthler-Behörde geschlossen werden könnte, die Akten an das Bundesarchiv übergehen würden und damit wären Personenakten wohl für 25 Jahre unter Verschluss? Zeigt das Dokument jetzt auch, wie manche meinen, dass dies auf gar keinen Fall geschehen darf, sondern dass die Birthler-Behörde weiter gebraucht wird?

    Thierse: Unabhängig von diesem Fund und der Aufregung darum bin ich der Meinung, dass die Überlegungen, die Birthler-Behörde zu schließen, die Akten zu überführen in das Bundesarchiv, dass das viel zu früh ist. Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat noch so viele wichtige Aufgaben, Aufklärungsarbeit, Aufarbeitung der Geschichte, aber vor allem Akten, Informationen den Opfern zugänglich zu machen. Mein Vorschlag, unser Vorschlag, der Vorschlag der SPD ist die zeitliche Perspektive bis zum Jahr 2019. Das ist dann entsprechend 30 Jahre nach dem Mauerfall. Das entspricht etwa der Dauer der Geltung des Solidarpakts. Das ist ein politisch vernünftiger Zeitraum und dann haben wir Zeit genug, darüber zu diskutieren, in welcher institutionellen Form welche Aufgabe, die die Behörde jetzt leistet, dann weiter getan werden kann. Also nicht zu früh die Behörde schließen. Das wäre ein fataler Sieg derer, die ohnehin die ganze Vergangenheit abschließen wollen.

    Klein: Wir wollen uns noch einem anderen Schauplatz zuwenden, Herr Thierse, an diesem 13. August 2007, der nämlich beinahe auch der Anfang vom Ende des Weltkulturerbetitels für Dresden geworden wäre. Heute sollte offiziell Baubeginn sein für die Waldschlösschen-Brücke über die Elbe. Ein Gericht hat vergangene Woche dann das ganze vorerst gestoppt, um zu prüfen, ob eine Fledermausart dadurch in Gefahr ist. Der eine oder andere fordert nun von den Brückenverfechtern, die Zeit zu nutzen, um vielleicht doch noch eine Alternative zu finden, die einerseits Dresdener Verkehrsprobleme löst und gleichzeitig nicht zur Aberkennung des UNESCO-Titels führt. Sie, Herr Thierse, gelten als einer der vehementesten Brückengegner, zumindest einer Brücke in der geplanten Form. Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, dass die kleine Hufeisennase den Welterbestatus jetzt rettet für Dresden?

    Thierse: Dass die kleine Fledermaus die Stadt Dresden und das Land Sachsen vor der Peinlichkeit bewahrt, ausgerechnet am 13. August mit einem Bauwerk zu beginnen, das ist eine ganz hübsche Pointe. Aber Spaß bei Seite: Dieses Urteil des Dresdener Verwaltungsgerichts eröffnet noch einmal die Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen, einen Kompromiss zu suchen zwischen denen, die vehement eine Brücke befürworten, die sich auf einen Bürgerentscheid beziehen, und denjenigen die sagen, es gibt Alternativen, es ist eine andere Brücke möglich im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens, oder es ist sogar eine Tunnel-Lösung möglich. Verkehrsminister Tiefensee hat angeboten, etwaige Mehrkosten einer Tunnel-Lösung durch den Bund übernehmen zu lassen. Also ich kann nur appellieren, vor allem an Herrn Milbradt, seine sture Haltung zu überwinden und sich jetzt noch einmal endlich einzulassen auf Kompromisssuche. Das würde der Stadt Dresden, dem oberen Elbtal gut tun. Es geht insgesamt auch um das Ansehen des Kulturstaates Deutschland, denn die Sturheit würde dazu führen, Dass zum ersten Mal in Europa einem Land, einer Stadt der Weltkulturerbetitel aberkannt werden würde. Diesen Schaden vom Kulturstaat Deutschland, den sollte man vermeiden.