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Thomas Steinfeld
Marx - Herr der Gespenster

Hatte Marx recht? Jahrzehntelang war das eine viel debattierte Frage. In dieser pauschalen Weise diskutiert man über Glaubenssätze, nicht über sozialwissenschaftliche Thesen, schreibt der Journalist Thomas Steinfeld. Detailliert nimmt er sich Marx' Überlegungen vor.

Von Michael Kuhlmann |
    Der Philosoph Karl Marx
    Thomas Steinfeld betrachtet in seinem Buch Karl Marx aus der deutschen Perspektive von 2018 (imago stock&people)
    Schon in seiner Einleitung räumt Thomas Steinfeld mit dem ersten Vorurteil auf: Dieses Vorurteil grassiere besonders heute - in einer Zeit, in der die liberalisierte Marktwirtschaft als Maß aller Dinge gilt. Zitat:
    "Von Karl Marx ist ein Bild geblieben. Nicht das Bild eines Denkers, sondern das eines Kämpfers und Moralisten. Diese Vorstellung hat weit mehr mit dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu tun als mit einem Wissen, das aus dem 19. Jahrhundert übernommen worden wäre."
    Denn Marx sei eben kein Moralist gewesen, sondern Wissenschaftler und Analytiker. Erst spätere Epigonen hätten den Marxismus als Heilslehre verstanden. Auf jene Theorie aus dem 19. Jahrhundert richtet Thomas Steinfeld seinen Blick: in 16 Einzelabschnitten wirft er Schlaglichter.
    Es geht um Marxsche Kernbegriffe wie das Geld, das Kapital, die Arbeit, die Ware, die Krise und die Revolution; es geht daneben um Marx' Umgang mit der Sprache und um seine Aktivität als politischer Publizist.
    Thomas Steinfeld betrachtet Karl Marx aus der deutschen Perspektive von 2018 - in einer Epoche immer neuer Beschäftigungsrekorde. Aber, so der Autor: "Tausende von Möglichkeiten gibt es, sich wachen Verstandes darüber hinwegzutäuschen, dass man nur deswegen Arbeit hat, weil andere damit Geld verdienen. Die gewöhnlichste dieser Möglichkeiten ist gewiss der Gedanke, die von anderen gesetzten Bedingungen als eigene Chance zu verstehen, weshalb man sich nur zu bewähren habe - und weshalb Erfolg oder Misserfolg schließlich nur in die eigene Zuständigkeit fielen."
    Marx ahnte heutige Trends
    Anders als Karl Marx behaupte, sei die Ausbeutung der Arbeitnehmer also nicht offen und für jeden erkennbar. Thomas Steinfeld legt allerdings dar, wo sich Trends entwickeln, die Marx erahnte: Besonders gilt das für die Dynamikquelle der Ökonomie - das Kapital.
    Im Marxschen Sinne ist Kapital mehr als nur Geld, das man irgendwo rentabel angelegt hat. Es ist die alles antreibende Kraft, die sich aus sich selbst heraus immer weiter verstärkt. Den Weg freigemacht hat besonders die Entfesselung der Finanzmärkte in den letzten 35 Jahren - übrigens kein Naturereignis, sondern ein menschengemachter Trend.
    Thomas Steinfeld beobachtet: "Das Finanzkapital wirkt gegenüber der vorhandenen Wirtschaft nicht nur wie die Mobilisierung all ihrer Momente, sondern auch als Vervielfältigung der Möglichkeiten. Systematisch prüft es die Geschäftstätigkeiten, sucht deren Potential, fördert, wo immer es halbwegs begründete Erwartungen auf größeren Gewinn gibt. Alles erscheint möglich: Zugang zu Investitionen in bislang unrealistischer Größenordnung, Eroberung neuer Märkte, Rationalisierungseffekte."
    Da ist ein bestimmter Typus von Akteuren gefragt. Welcher - diese Frage kann der US-Präsident Donald Trump beantworten. Wenn er vor seinem Publikum steht und ihm seinen jüngsten Sohn präsentiert: "Er ist stark, klug, knallhart, bösartig und gewalttätig. Alles Eigenschaften, die man als Unternehmer braucht. Und am allermeisten hoffe ich, er ist intelligent!"
    Auch Marx zufolge geht es im Kapitalismus eben nicht um den fairen Austausch zum allseitigen Nutzen. Wer deshalb von einem gebremsten Wachstum träume, so fährt Steinfeld fort, habe das Wesen dieser Wirtschaftsform nicht verstanden.
    Jede Wirtschaftskrise bedeute zwar eine gigantische Geldvernichtung - und damit eine Enteignung in großem Stil - aber eben zugunsten von Profiteuren der Krise. Das blenden nach Steinfelds Beobachtung alle Akteure gern aus.
    Und alle miteinander verdrängen die Erkenntnis, dass das ökonomische System heute mehr denn je auf Verheißungen basiert: "Zum Kapitalismus gehört eine unendliche Zukunft. Letztere wird umso größer, je mehr Zahlungsversprechen durch immer weitere Zahlungsversprechen gesichert werden sollen. Das bedeutet zum einen, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form als Veranstaltung für die Ewigkeit angelegt ist - zum anderen, dass diese Zukunft immer schon verpfändet ist - und zum dritten, dass diese lange Zukunft unendlich große Wirkungen in der Gegenwart zeitigt. Denn das Geld der Zukunft ist ja schon da: in Gestalt der Gewinne, die durch Zahlungsversprechen auf Zahlungsversprechen und die Antizipation der entsprechenden Gewinne entstehen."
    Werkzeuge einer scharfsinnigen Analyse
    Einen Ausweg aus diesem immer schneller rotierenden Hamsterrad allerdings weist Steinfeld nicht. Und offenkundig genügt es ihm, vor allem den Analytiker Marx zu behandeln, nicht den Revolutionär. Thomas Steinfeld hat zentrale Thesen dieses Analytikers in einer essayistischen und kurzweiligen Form unter die Lupe genommen, mit einem konsequenten Gegenwartsbezug.
    Seine Konzentration aufs Essenzielle bedingt, dass landläufig weniger bekannte Schriften nur am Rande vorkommen: etwa Marx' hellsichtiges Maschinenfragment, in dem er das skizzierte, was heute als Industrie 4.0 und künstliche Intelligenz heraufdämmert.
    Davon muss man in diesem Bücher-Frühjahr anderswo lesen - etwa in der dreimal so dicken Marx-Biographie von Jürgen Neffe. Und auch über die Nachwirkungen der Marxschen Schriften - wie sie Christina Morina kürzlich beschrieben hat - schweigt sich Steinfeld weitgehend aus.
    Doch in diesem Buch geht es um etwas anderes: Steinfeld skizziert, wo Karl Marx Trends aufgespürt hat, die die Weltwirtschaft von heute mitprägen. Er verschweigt nicht Marx' gedankliche Lücken, Fehlprognosen und Widersprüche. Doch indem er seinen Protagonisten vom Sockel herunterholt, auf den ihn spätere Marxisten gestellt haben, macht er es möglich, einzelne Thesen zu akzeptieren, auch wenn man andere verwirft.
    Und da zeigt Thomas Steinfeld, dass Karl Marx das eine oder andere Werkzeug zu einer scharfsinnigen Analyse der Marktwirtschaft liefern kann.
    Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx
    Carl Hanser Verlag, 288 S., 24 Euro