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Troja und Homer, Kilikien und Ilias

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott hat zum Jahreswechsel mit seinen Thesen über den Dichter Homer und die Ilias für Aufsehen gesorgt. In dieser Woche erscheint nun sein Buch "Homers Heimat - der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe", in dem Schrott Details zu seinen Erkenntnissen aufführt.

Moderation: Christoph Heinemann | 07.03.2008
    Christoph Heinemann: Im Anfang war der Text und der hat Raoul Schrott gereizt. Kein Wunder: der Mann ist Schriftsteller und Sprachwissenschaftler und interessiert sich für uralte Schriftstücke. Und so begab es sich, dass er die Ilias, Homers Epos über den trojanischen Krieg, neu übersetzte. Der Deutschlandfunk hat diese Übersetzung in den Weihnachtstagen gesendet.

    Übersetzen heißt auch neu erfinden und dazu muss man wissen was. So tauchte Raoul Schrott ein in die Welt des Epos und als er wieder auftauchte, war er überzeugt: Troja lag nicht dort, wo der deutsche Kaufmann Heinrich Schliemann im 19. Jahrhundert den Kampf, die Helden und das hölzerne Pferd vermutete, nicht am Eingang der Dardanellen, sondern Troja lag in der kilikischen Hauptstadt Karatepe an der türkisch-syrischen Grenze, also rund 800 Kilometer weiter südlich. Homer ist für Raoul Schrott auch kein blinder Dichter aus der Gegend von Smyrna (heute Izmir), sondern ein griechischer Schreiber im Dienst des assyrischen Königs.

    Raoul Schrotts Ilias-Übersetzung wird im Herbst erscheinen. Sein Buch "Homers Heimat - der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe" erscheint morgen in den deutschen Buchhandlungen. - Guten Morgen Raoul Schrott!

    Raoul Schrott: Guten Morgen ebenfalls!

    Heinemann: Herr Schrott, wie begründen Sie Ihre Südverschiebung Trojas? Welches ist Ihr wichtigstes Argument für Kilikien?

    Schrott: Zum einen, dass es dort ein Publikum gab, Danaer, Achaier und Argeier, also jene drei Namen, mit denen die Griechen in der Ilias bezeichnet werden, das dort und nur dort an diesem Ort in Kilikien vorhanden war zu Homers Zeit, nirgendwo anders sonst. Die Landschaftsbeschreibungen, die ein sehr fast fotografisch präzises Portrait Kilikiens zeichnen. Die Realien: die Beschreibung von Waffen, die Beschreibung von Mode, das Schuhwerk, alle möglichen Dinge, die die Lebenswirklichkeit darstellen, mit denen Homer seinen Text versieht.

    Weiterer Punkt wären die literarischen Quellen, auf denen die Ilias aufbaut, um sie dann weiter zu transformieren. Da zeigt sich, dass diese Vielzahl von Quellen, von hethitischen und hurritischen Mythen - das sind zwei Völkerschaften der Türkei des 2. Jahrtausends vor Christus -, die assyrischen eben und alles das, was phönizische Quellen sind, die man dann im Alten Testament wieder findet, all diese Kulturkreise zusammen mit den griechischen überschneiden sich eben nur zu Homers Zeit in Kilikien. Dazu kommt auch noch - und das ist nicht unwesentlich -, dass die zweitwichtigste Stadt im Epos das so genannte kilikische Theben ist. Von dort kommt also die Beutesklavin her, die den ganzen Streit der Ilias auslöst, die ganze Fabel motiviert. Von daher kommt ein sehr berühmtes Pferd. Von daher kommt aber auch die einzige Stelle, wo die Poesie an sich thematisiert wird. Und dieses kilikische Theben ist identifizierbar, liegt also unweit von Karatepe. Und Karatepe als ein weiteres Argument ist das Vorbild für die Beschreibung Homers von seinem mythischen Troja, das ja aus einem alten Sagenstoff übernommen worden ist.

    Heinemann: Und was spricht nun dafür, dass Homer in assyrischen Diensten stand? Um Elemente assyrischer Kultur zu verwenden, muss er ja nicht dort gelebt haben.

    Schrott: Zwei Dinge sprechen dafür. Zum einen die assyrischen Epen, von denen wir wissen, dass sie nur Schulstoff waren, nur zugänglich waren in so genannten Tafelhäusern. Die Ilias zeigt, dass sie eine genaue Kenntnis der Urtexte voraussetzt. Das zeigt sich an den Parallelen, die mit den erhaltenen Urtexten in wirklich verblüffenden Details übereinstimmen, was bedeutet: Da muss jemand Keilschrift gelesen haben können und auf den Text Zugriff gehabt haben. Das geht, so weit man über diese assyrische Schreiberkaste weiß, die ja die damaligen Minister, Staatssekretäre, die versiertesten Intellektuellen der Zeit waren, das geht eben nur in einem offiziellen Rahmen. Unzweifelhaft ist aber auch, dass Homer dort ein Archiv fand, wo die ganzen Siegesberichte vorlagen, die die assyrischen Könige, die jedes Jahr einen Feldzug starteten, losschickten in ihre Provinzen, um zu dokumentieren, welche Regionen sie wieder erobert, wie viel Beute sie gemacht haben. Auch das lässt sich anhand der Ilias zeigen, wo von diesen damaligen Siegesreportagen, Siegesberichten und der Ilias sich wirklich verblüffende Übereinstimmungen finden. Beides ist also die plausibelste Art zu sagen, Homer hat in einer Schreibschule, in einem so genannten Tafelhaus assyrisch lesen und schreiben gelernt, was absolut nichts Ungewöhnliches ist. Von Kilikien sind uns Biographien von Schreibern erhalten, die zwölf Sprachen sprechen, vier Sprachen schreiben können, die in den verschiedensten Ländereien waren. Diese Art von Mehrsprachigkeit verblüfft uns nur heute. Damals war das etwas völlig Normales.

    Heinemann: Weniger verblüfft und gar nicht amüsiert ist die althistorische Zunft über Ihre Thesen. Namhafte Forscher haben Ihnen widersprochen. Die Duisburger Althistorikerin Barbara Patzek bezeichnet Ihr Buch als "schriftstellerisch gekonnte Darstellung einer persönlichen Entdeckungsreise". Ist der Dichter mit Ihnen durchgegangen?

    Schrott: Nein. Es ist natürlich klar: Das ist sehr höflich formuliert. Zum einen darf man aber nicht vergessen: Als Dichter habe ich einen praktischen Zugang zu der Art, wie Bücher entstehen, wie Kreativität funktioniert, wie man mit Quellen umgeht, und als Übersetzer natürlich eine sehr genaue Kenntnis des Textes. Aber das ist hier das Unwesentlichste daran. Ich habe, weil ich auf keine Sekundärliteratur zurückgreifen konnte, die Ilias und Homer mit Kilikien in Verbindung bringt, alle Argumente, die ich fand - und das waren, wenn ich es an den Fußnoten abzähle, über 1000 einzelne Erkenntnisse aus den verschiedensten Fachdisziplinen -, miteinander verbunden, weil sie mir ein schlüssiges, stimmiges Bild von Homer und der Ilias in Kilikien ergeben. Das was ich gemacht habe ist, eine These aufzubauen, sie in den Raum zu stellen, sie zur Diskussion zu stellen und das Ganze dann als Angebot auch der Falsifizierung zu betrachten. Wissen ist ja ein dialektischer Prozess.

    Heinemann: Nun sagen die Althistoriker, dass sie sich im Prinzip der gleichen Methode bedienen. Aber warum kommen Sie zu anderen Ergebnissen?

    Schrott: Das ist natürlich die interessante Frage. Es gibt drei Gründe dafür. Zum einen bin ich habilitierter Komparatist, was bedeutet, dass man da von Berufs wegen über die eigenen Fachgrenzen sieht, was so in unserem Wissenschaftsbetrieb schwer möglich ist. Wenn ein Gräzist sich mit Assyriologie beschäftigt, dann kriegt er sowohl von seinen gräzistischen Fachkollegen als auch von den Assyriologen eins über den Deckel. Das wissen wir alle. Es ist zum anderen aber kein Wunder, dass man sich mit Kilikien in der Literatur noch nicht befasst hat. Die stammt erst aus den letzten paar Jahren, aus 2004/2006. Das Material war wirklich brandneu, auf das ich da gestoßen bin.

    Und dann kommt natürlich hinzu, dass man nicht nur als Dichter, sondern auch als vergleichender Literaturwissenschaftler heute sich sehr gut auskennt oder zumindest glaubt, sehr gut auszukennen mit dem, wie Texte funktionieren, wie Texte entstehen. Da ist natürlich der Blick auf die Ilias ein völlig anderer, weil ich auf den Text gesehen habe wirklich als zeitgenössischer Autor, der an einem zeitgenössischen Homer damals interessiert war, der also nicht an der Heiligenverehrung Homers beteiligt sein wollte. Dass Homer ein poethisches Genie ist, darüber müssen wir nicht diskutieren, aber mich hat er als Autor interessiert, der in seiner Zeit steht.

    Heinemann: Und wie lesen Sie sein Werk, als historischen Bericht oder als episches Kunstwerk?

    Schrott: Als ein absolut episches Kunstwerk, aber Homer ist ein äußerst detailverliebter, manchmal sogar detailversessener Dichter und das Epische an ihm ist seine Welthaltigkeit. Es gibt keine Kampfszene, bei der nicht genauestens detailliert wird, welche Waffen aufeinanderprallen, was sie durchdringen, welche Wunden sie reißen, wo das Blut in welcher Form spritzt. Es gibt keinen Komparsen - es sind ja über 1000 Figuren, die in der Ilias auftauchen -, der nicht mit einer Biographie versehen würde. Es gibt keine einzige Handlung. Die essen also nicht mal nur, um sich den Bauch vollzuschlagen, sondern da wird das Essen bereitet. Dann wird gezeigt, wie das Schaf oder die Ziege geschlachtet wird, auf welche Art und Weise sie auf den Spieß gesteckt wird, wie sie geröstet wird, wie sie abgezogen wird, was die Gebete sind, die dabei gesprochen wurden. Das ist für mich auch das Schöne an diesem epischen Erzählen, das Lebenswirklichkeit und Welthaltigkeit schildert.

    Heinemann: Und die Helden werden vorgestellt: Agamemnon, Achill, Patroklos und Hektor. Was sind das für Typen?

    Schrott: Es sind äußerst spannende Menschen. Zum einen weiß man, dass diese Figuren, die Homer da aus dem alten trojanischen Sagenkreis übernahm, dass das der alte Sagenstoff ist, der im Nachbarland Kilikiens kursierte, in Zypern. Zum anderen ist das Neue aber daran, dass er einfügt, dass er alle diese Figuren mit einer wirklich wunderbar sensiblen, feinfühligen Psychologie versieht. Agamemnon ist nicht nur typisiert als der aufbrausende und letztlich unsichere Heerführer, der den Leuten auch alles aus der Tasche holen will, weil er ein raffgieriger Kerl ist, sondern er wird mit einer unheimlich feinen Feder gezeichnet in all seinen positiven und negativen Aspekten. Das gleiche trifft auf Achilleus zu, der ein tapferer Ritter ist, so wie wir das sowieso wissen, der aber gleichzeitig eben von seinen eigenen Temperamentsausbrüchen übermannt wird und eigentlich selber daran leidet. Es ist eine Gebrochenheit der Charaktere, die so vorher in der Literatur nicht da war. Das ist ein Quantensprung, den Homer da vollzieht, der aber nichts daran ändert, dass er, um diesen Quantensprung vollziehen zu können, ein Trampolin brauchte, und das waren eben eine ganze Reihe von Quellen aus den verschiedensten Kulturkreisen.

    Heinemann: Und das ist bisher offenbar nicht so gesehen worden. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass die historisch kritische Geschichtswissenschaft zu viele Fesseln anlegt? Benötigt die Wissenschaft auch die Freiheit der historischen Fantasie?

    Schrott: Eigentlich wundert es mich selber. Diese ganzen orientalischen Quellen sind schon seit 50, 60 Jahren bekannt. Es wird keinen einzigen Gräzisten geben, der nicht von orientalischen Quellen Homers spricht. Warum man aber der Frage nicht nachgegangen ist, wie Homer zu diesen Quellen kommt, was sie für einen Stellenwert haben, hat glaube ich mehr mit Ideologie als mit Wissenschaft oder mit Fantasie zu tun. Da glaube ich ist es die Idee des Abendlandes, für die Homer als Gründervater und als Pate geradestehen muss, und über diese Idee des Abendlandes ist es auch die Idee Europas und dann vor allen Dingen die Idee Deutschlands. Das deutsche Bildungsbürgertum glaube ich bezieht sich zu einem sehr wesentlichen Teil auf Homer und da wird natürlich ein Dichter sehr schnell zu einer Autorität, die dann mit einer Aura versehen wird, die den Blick auf das eigentliche Werk und auf ihn als Dichter, als Arbeitenden, als Handwerker des Wortes verstellt, weil es letztlich verblendet. Das ist das Gefühl, das man bei ganz vielen Podiumsdiskussionen oft hat, dass es gar nicht mal vorrangig darum geht, über das Werk zu diskutieren, sondern dass man bei jedem Satz dahinter ein ganzes Weltbild weiterdrehen und wegbewegen muss. Man muss da riesige Steine wegrollen, um nur mal an die Sache selbst ranzukommen.

    Heinemann: Sie haben eben in unserem Gespräch gesagt, Sie verstünden Ihre Thesen als Angebot. Könnten Sie mit der Bewertung leben, die Geschichte der Ilias bleibt eine Odyssee?

    Schrott: Ja, natürlich! Wissenschaft ist immer ein dialektischer Prozess, bei dem man nie genau weiß, was wie lange hält. Man formuliert es natürlich so gut und klar wie man es kann, aber trotzdem gibt es dann irgendwann mal doch einen Punkt, an dem man sich einigt, ob sich jetzt die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde dreht. Das glaube ich müsste jetzt langsam nach 300 Jahren so weit sein. Oder vielleicht dauert es noch mal 300 Jahre, aber Sie sehen: ich bin guten Mutes, was meine These betrifft, weil ich wirklich sehr überraschend überzeugt davon bin.