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Türkischer Kurs in Syrien
"Völkerrechtlich fragwürdig"

Die Angriffe der türkischen Armee ohne Zustimmung der syrischen Regierung seien "hart an der Grenze", sagte der Friedens- und Konfliktforscher Jochen Hippler im Deutschlandfunk. Dass sich die USA hinter Ankara stellten, zeuge vom Scheitern der westlichen Politik in Syrien.

Jochen Hippler im Gespräch mit Dirk Müller |
    Jochen Hippler, Politologe und Friedensforscher an der Universität Duisburg
    Jochen Hippler, Politologe und Friedensforscher an der Universität Duisburg (Imago / Metodi Popow)
    Washington stelle inzwischen sogar in Frage, Kurden im Kampf gegen die IS-Terrormiliz einzusetzen. Im Syrien-Konflikt ist Hippler zufolge der Westen inzwischen auf Moskau angewiesen: "Man kommt an Russland nicht mehr vorbei."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Was machen die Türken in Syrien? Konkreter: Was macht die türkische Armee in Syrien? Kämpft sie gegen die Terrormilizen des Islamischen Staates, oder gegen die Kampfverbände der Kurden? - Gegen beide! Das bedeutet, dass Ankara auch Luftschläge fliegt gegen Verbündete des Westens und gegen Verbündete von NATO-Staaten. Die Türkei ist auch Mitglied der NATO. Amerikaner und Deutsche halten das für legitim; inzwischen ist das jedenfalls so. Um das genauer noch zu fassen: Die amerikanische Regierung und die deutsche Regierung halten das für legitim, offiziell zumindest. - Türkische Angriffe in Syrien.
    Die türkische Armee gegen den IS und gegen die syrischen Kurden - unser Thema jetzt mit Konfliktforscher und Nahost-Kenner Professor Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag!
    Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Müller.
    "Eine Grauzone, wo man mit ein paar guten Juristen das noch hinbiegen kann"
    Müller: Herr Hippler, führen die Türken einen legitimen Krieg?
    Hippler: Es sind ja zwei Kriege sozusagen, wie auch bereits geäußert worden ist. Einerseits sind es Angriffe auf Positionen des sogenannten Islamischen Staates, andererseits welche auf die Kurden-Organisation in Nordsyrien, und beides ist sehr stark auch mit der türkischen Innenpolitik und nicht nur mit der Lage in Syrien verknüpft. Da kann man sehr unterschiedliche Meinungen zu haben.
    Müller: Ich will ja Ihre Meinung hören. Ist es legitim?
    Hippler: Legitim? - Ich glaube, es ist verständlich. Völkerrechtlich zum Beispiel ist es fragwürdig. Völkerrechtlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, legitim Gewalt anzuwenden in internationalen Beziehungen: Einerseits man wird angegriffen; das ist nicht tatsächlich passiert. Zweitens: Es gibt einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates nach Artikel 51 der UNO-Charta; den hat es auch nicht gegeben. Insofern ist das so eine Grauzone, wo man mit ein paar guten Juristen das noch hinbiegen kann. Aber ob es klug ist, ist die andere Frage, und da glaube ich schon, dass es ein paar ganz gute Gegenargumente gibt.
    Müller: Sie haben ganz kurz gesagt Völkerrecht. Das liest man auch immer wieder in den Analysen, in den Tageszeitungen, im Internet ganz, ganz, ganz viel. In Zeiten der asymmetrischen Entwicklung, in Zeiten des Terrorismus, in Zeiten des IS, gerade auch in dieser Region, ist das Völkerrecht dann in irgendeiner Form noch adäquat beziehungsweise noch auf der Höhe der Zeit?
    Hippler: Na ja, das ist immer eine Frage, die aus der Situation entschieden wird. Aber das Recht gilt natürlich schon erst mal, bevor eine neue Situation entsteht. Ich kann ja auch schlecht argumentieren, dass ich das Recht habe, Banken zu überfallen, weil ich gerade pleite bin und Geld brauche. Das heißt, die Notwendigkeit, die Weiterentwicklung des Rechts zu diskutieren, die hindert einen ja nicht daran, dass man das Recht, soweit es noch besteht, erst mal beachten muss und dann diskutieren und dann sich anders verhalten kann.
    "Angriffe ohne die Zustimmung der syrischen Regierung sind hart an der Grenze"
    Müller: Und was machen jetzt die Türken? Beachten sie das Recht oder brechen sie das Recht?
    Hippler: Ich glaube, die Angriffe ohne die Zustimmung der syrischen Regierung, die es ja nicht gibt und die es auch nicht geben wird, sind hart an der Grenze. Man kann juristisch argumentieren, dass es durch den IS Angriffe auf das türkische Staatsgebiet gegeben hat. Dann wären die Angriffe legitim. Damit impliziert man aber, dass der IS ein völkerrechtliches Subjekt ist, und das wollte man ja eigentlich nicht zugestehen. Und ähnliche Argumente könnte man natürlich bei PKK-Angriffen vortragen. Auch das würde dann natürlich indirekt juristisch implizieren, dass man der PKK einen völkerrechtlichen Status geben will, und das ist das Letzte, was Herr Erdogan natürlich möchte.
    Müller: Aber steht das denn, Herr Hippler, in Zweifel, dass es Terroranschläge des IS gegeben hat in der Türkei?
    Hippler: Nein, keinesfalls. Aber stellen Sie sich vor zum Beispiel den 11. September. Die Terroranschläge sind teilweise ja aus den Studentenwohnheimen in Duisburg und Mülheim mit vorbereitet worden, oder aus Hamburg, und das hat natürlich der USA nicht das Recht gegeben, jetzt Duisburg oder Hamburg zu bombardieren.
    Müller: Aber Afghanistan.
    Hippler: Ja. Das ist natürlich eine Sache gewesen, die auch juristisch ein bisschen heikel gewesen ist. Es gab dann sogar ja den Beistandsbeschluss der NATO auf Artikel fünf des NATO-Vertrages. Aber es gab einen UNO-Sicherheitsratsbeschluss, der das dann noch mal ratifiziert hat. Den werden wir sicher zu Syrien nicht bekommen.
    "Tendenz, Völkerrecht dadurch weiterzubrechen, dass man es bricht"
    Müller: Sie sagen juristisch heikel. Das sagen ja viele, juristisch umstritten, vielleicht sogar juristisch nicht legitim. Spielt das in der Politik noch eine Rolle?
    Hippler: Im Moment nicht mehr. Wir haben ja, seitdem wir die Präsidentschaft Bush gehabt haben, auch vom damaligen US-Präsidenten Äußerungen bekommen, dass wenn die UNO als höchste völkerrechtlich Recht stiftende Instanz einfach die falsche Politik machen würde, dass man sie ignorieren sollte. Seitdem haben wir so ein bisschen, wie mal der Kollege Brock aus Frankfurt das formuliert hat, die Tendenz, Völkerrecht dadurch weiterzubrechen, dass man es bricht. Da sind wir so ein bisschen schmerzfreier geworden inzwischen.
    Müller: Wir sind auch schmerzfreier in dem Aspekt dann zumindest geworden, dass wir jetzt nicht mehr Zustimmungen von Moskau oder von Peking brauchen.
    Hippler: Ja! Ich meine, völkerrechtlich, wenn es darum ging, die Formalitäten einzuhalten, und man will einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates haben, um militärisch eingreifen zu dürfen, dann geht das natürlich nicht ohne die Zustimmung der beiden, weil das setzt voraus, dass kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates dagegen stimmt. Das heißt, das wird im Moment ein bisschen gedehnt. Aber wir müssen ja auch sehen, dass gerade in Syrien die russische Rolle jetzt wesentlich stärker geworden ist. Die westliche Politik in Syrien - das zeigt ja jetzt auch diese schwierige mehrfache Kehrtwende von Herrn Biden in der Türkei -, die westliche Politik ist im Moment wirklich relativ vor die Wand gefahren, klingt etwas unhöflich, aber funktioniert nicht mehr. Die alten Politiken sind gescheitert und die russische Politik ist im Wesentlichen gestärkt worden. Insofern unabhängig davon, ob man das jetzt rechtlich braucht, kommt man an Moskau in Syrien, in der Syrien-Krise einfach nicht mehr vorbei, und das weiß natürlich auch die amerikanische Regierung sehr gut.
    "Das ist kein Zeichen für eine funktionierende Politik des Westens in Syrien"
    Müller: Vielleicht trifft das, Herr Hippler, genau den Punkt, wenn Sie sagen, vor die Wand gefahren. Höflich brauchen wir aber auch hier nicht immer zu sein im Interview. Ich möchte da jetzt noch einmal nachfragen: Sie sagen, Biden geht jetzt nach Ankara, nach Istanbul und so weiter und revidiert im Grunde die amerikanische Haltung, die jetzt monatelang gegolten hat. Sie kennen sich ja ein bisschen aus. Hat Barack Obama jetzt eine türkische Tageszeitung gelesen und kommt dann zu dem Schluss, wir müssen es jetzt ab heute anders machen? Gibt es eine Erklärung?
    Hippler: Nein, es gibt zwei Erklärungen. Das erste ist, dass die ursprüngliche Politik der USA ja darin bestand, auch eine eigene militärische Truppe von 5.000 syrischen, arabischen Kämpfern aufzubauen, um dann am Kampf gegen Baschar al-Assad teilnehmen zu können. Diese Politik ist gescheitert, es gibt keinen einzigen von den Amerikanern ausgebildeten und bewaffneten Kämpfer, der teilnimmt. Das bedeutet, dass da erst mal die ursprüngliche Strategie tatsächlich nicht funktioniert hat. Dann hat man versucht, die kurdischen Milizen sozusagen als Ersatztruppe zu rekrutieren, als Bodentruppe der amerikanischen Luftwaffe zu benutzen, mit der Schwierigkeit, dass natürlich die Kurden in großen Teilen Syriens auch als Fremdlinge und nicht als Befreier wahrgenommen werden. Und selbst diese Position, dass man dann die kurdischen Milizen benutzt als amerikanische Bodentruppen …
    Müller: Als Söldner!
    Hippler: Ja das klingt wieder so ein bisschen drastisch. Die haben ja eigene Interessen. Die machen das ja nicht, weil sie bezahlt werden, sondern weil sie selber Interessen haben. Aber selbst diese Politik wird jetzt zumindest gestern in Ankara von Herrn Biden infrage gestellt und zurückgenommen und man versucht, den alten Verbündeten, den kurdischen, jetzt zu sagen, was sie tun und lassen sollen. Das ist kein Zeichen für eine funktionierende Politik des Westens in Syrien.
    "Weder die USA, noch die EU, noch auch Russland oder der Iran es schaffen werden, die eigenen politischen Ziele einfach durchzusetzen"
    Müller: Sie sagen des Westens. Man kann auch sagen der Amerikaner. Gibt es überhaupt noch amerikanische Außenpolitik, die funktioniert, mit Blick auf diese Regierung?
    Hippler: Ich meine, die Lage ist ja auch schwierig. Da würde ich tatsächlich nicht unbedingt das Versagen der Außenpolitik kritisieren, sondern das Hineinbegeben in eine Situation, in der Hunderte von Milizen gegeneinander kämpfen. In Syrien: Wir wissen gar nicht mal, sind es 500, sind es 700, sind es 900 bewaffnete Milizen. Wenn Sie sich da reinbegeben, gleichgültig wie klug Sie sich was überlegen, das ist nun wirklich eine Situation, das hat man in Afghanistan gesehen, das sieht man jetzt in Libyen, im Irak war es auch ein bisschen schwierig. Das sind Sachen, wo auch starke, militärisch starke Mächte trotzdem ziemlich schlechte Karten haben, ihre Ziele durchzusetzen.
    Müller: Jetzt könnten viele Hörer auf die Idee kommen, wenn sie Ihnen folgen, Herr Hippler, zu sagen: Das Beste wäre raushalten.
    Hippler: Ja. Das Beste wäre wahrscheinlich, den Schaden für die Bevölkerung zu begrenzen. Ich glaube, ich kann tatsächlich nicht erkennen, dass weder die USA, noch die EU, noch auch Russland oder der Iran es schaffen werden, die eigenen politischen Ziele einfach durchzusetzen. Insofern: Das sollte man tatsächlich aufgeben. Aber wir haben im Moment eine Situation, wo knapp mehr als die Hälfte der gesamten syrischen Bevölkerung auf der Flucht ist. Fast sieben Millionen fliehen in Syrien irgendwo hin und suchen einen Ort, wo sie sicher sind vor dem Krieg, und fast fünf Millionen sind ins Ausland geflohen von den Syrern, meistens in den Libanon, Jordanien und so. Die Leute brauchen tatsächlich Hilfe. Das Leiden zu mindern, ist sicher Engagement wert. Während die Vorstellung, wir könnten jetzt aus Europa oder den USA Frieden nach Syrien exportieren, wenn im Inneren die Voraussetzungen nicht bestehen, das finde ich doch ein bisschen blauäugig.
    Müller: Der Konfliktforscher und Nahost-Kenner Professor Jochen Hippler bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Einen schönen Tag nach Duisburg.
    Hippler: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.