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Türkischer Wahlkampf
Ein Hauch von Aufbruchsstimmung

Der türkische Wahlkampf nimmt überraschend an Fahrt auf. Die Opposition hat einen charismatischen Politiker nominiert, der viele Wähler anziehen könnte. Dazu kommt eine Wahlkampfpanne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die zu einem Twitter-Sturm führte.

Von Karin Senz | 25.05.2018
    Untersützer der prokurdischen Partei HDP halten Plakate mit dem Gesicht des Politikers Selahatiin Demirtas in die Höhe.
    HDP-Spitzenkandidat Selahatiin Demirtas sitzt aktuell im Gefängnis und fordert Präsident Erdogan heraus (AFP / Ozan Kose)
    Viel war von der türkischen Opposition in den letzten Monaten nicht zu hören. Recep Tayyip Erdogans AKP dominierte alles, sagt dieser Kunstlehrer aus Istanbul:
    "Seit 16 Jahren haben wir dieselbe Partei an der Macht. Oppositionelle Geister sind verdrossen, sie denken mittlerweile, das wird immer so weiter gehen, das ist jetzt das Schicksal des Landes. Und trotzdem hat sich bei mir und Gleichgesinnten eine kleine Euphorie eingeschlichen, eine Hoffnung, dass sich doch noch was ändert , so nach dem Motto: Vielleicht klappt es diesmal ja doch."
    Tatsächlich nimmt der Wahlkampf überraschend etwas Fahrt auf. Das hat auch Kristian Brakel, Chef der Heinrich Böll-Stiftung in Istanbul, festgestellt:
    "Es gibt diese Idee: Ja, wir können es schaffen, Erdogan in eine zweite Runde zu zwingen beim Präsidentschaftswahlkampf und das Parlament kriegen wir sowieso. Das muss nicht unbedingt so sein, aber es gibt auf jeden Fall einen Umschwung in der Stimmung."
    Opposition ist über ihren Schatten gesprungen
    Die Opposition ist ein bisschen über ihren Schatten gesprungen. Die linksnationalistische CHP hat 15 Abgeordnete an die neue Iyi Parei abgegeben, eine rechtsnationalistische Partei. Das war ein Überraschungscoup. Und mit ihr und kleineren Parteien hat sie sogar ein Wahlbündnis geschlossen. Außerdem hat der Spitzenkandidat der CHP, Muharrem Ince, der prokurdischen HDP die Hand gereicht, der Partei von Selahatiin Demirtas. Der charismatische Politiker sitzt seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Seine Nominierung als Spitzenkandidat war ein weiterer Coup der Opposition:
    "Er hat natürlich jetzt zusätzlich für viele Leute, zumindest diejenigen, die nicht davon überzeugt sind, dass er der Anführer in spe der PKK ist - er hat natürlich jetzt noch diesen zusätzlichen Märtyrer-Status im Gefängnis. Also da hat ihm die Regierung wahrscheinlich auch noch mal extra einen Dienst erwiesen."
    Tamam-Twitter-Sturm brachte Schub
    Auch der Tamam-Twitter-Sturm hat noch mal einen Schub gebracht. Die Vorlage kam von Erdogan selbst – eine Wahlkampfpanne. Er hatte gesagt, wenn das Volk irgendwann mal Tamam sagt, zu Deutsch 'genug', dann würde er zur Seite treten. Und Hunderttausende sagten im Internet Tamam. Brakel ist allerdings vorsichtig, was den tatsächlichen Effekt angeht:
    "Die Nutzung von sozialen Medien ist immer noch ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft und wir können davon ausgehen, dass er unter Oppositionellen immer noch verbreiteter ist, als unter AKP-Anhängern - auch wenn die AKP versucht, da mit bezahlten Trollen gegenzusteuern. Es gibt dieses Momentum, und ich glaube es ist sehr gut, um auch die Leute zu motivieren, gerade eben auch in der Zivilgesellschaft, dass man den Eindruck hat, es ist noch nicht alles verloren, es gibt auch andere Leute, die so denken wie wir."
    Dazu kommt, dass viele in den letzten Monaten sehr vorsichtig geworden sind, wenn es um Kritik an der Regierung geht, bestätigt auch diese junge Istanbulerin:
    "Die heutige Jugend hat Angst. Selbst beim Twittern überlegt man dreimal, denn man fürchtet, verhaftet zu werden. Es gibt keine Meinungsfreiheit."
    Angst vor Verhaftungen
    Und trotzdem äußert sich ihre Freundin auf der Straße sehr offen:
    "Erst vorhin haben wir darüber geredet. Ich und Freunde aus meiner Clique sind der Meinung, dass dieser Partei-Staat abgeschafft gehört. Und wir denken, dass die Regierung bei den Wahlen keine Chance mehr hat, es sei denn sie wenden Wahlbetrug an. Nur so können sie sich noch halten."
    Diese junge Politik-Studentin zögert mit einer Wahlprognose, wie groß die Chancen sind, dass es einen neuen Präsidenten in der Türkei geben wird:
    "Ich glaube nicht, dass einer der Kandidaten in der ersten Runde die Mehrheit kriegt. Es wird in die zweite Runde geben und dann wird die Prognose schwierig.Wie werden die konservativen Waehler entscheiden? Wie die kurdischen? Also ich sage mal, die Chance liegt bei 52 bis 53 Prozent."