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TV-Experiment "Terror"
Ethisches Dilemma zur Primetime

Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Heute Abend sendet die ARD eine Verfilmung des Theaterstücks "Terror", in dem es genau um diese Frage geht. Ein Kampfpilot, der ein Flugzeug mit Terroristen an Bord abgeschossen hat, steht vor Gericht. Die TV-Zuschauer dürfen live abstimmen: Freispruch oder Verurteilung?

Von Eric Leimann | 17.10.2016
    Der Schauspieler Timo Weisschnur steht bei einer Fotoprobe zum Stück "Terror" von Ferdinand von Schirach im Deutschen Theater in Berlin auf der Bühne.
    Ferdinand von Schirachs Drama „Terror“ - hier eine Inszenierung des Deutschen Theaters in Berlin - gilt seit seiner Premiere im Jahr 2015 als meist gespieltes Theaterstück Deutschlands. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Es ist ein perfides moralisches Dilemma, das uns Ferdinand von Schirach da auftischt. Darf man eine deutlich kleinere Anzahl von Menschen töten, um eine weitaus größere zu retten? Das Bundesverfassungsgericht sagt: Nein. Ein Jahr nachdem 2005 die damalige Schröder-Regierung noch unter dem Eindruck von 9/11 das sogenannte Luftsicherheitsgesetz verabschiedet hatte - das solche Not-Abschüsse erlaubt - wurde es von höchster juristischer Warte wieder gekippt. Begründung: Menschenleben dürfen nicht gegen Menschenleben aufgewogen werden, die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber:
    "Wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind. Wir haben es uns nicht ausgesucht, aber wir können es nicht ändern. Und Kriege, auch wenn es heute niemand mehr hören will, gibt es nun mal nicht ohne Opfer." - Zitat aus "Terror - Ihr Urteil", Lars Eidinger als Strafverteidiger -
    Lars Eidinger spielt den Anwalt des angeklagten Kampfpiloten, der wiederum wird von Florian David Fitz verkörpert wird - einem der beliebtesten deutschen Schauspieler. Seine Rolle: Ein intelligenter, besonnener Familienvater und Elite-Pilot, sicher kein Möchtegern-Held oder Haudrauf. Der erste Reflex bei diesem Stück - bevor man emotional eingestiegen ist und die Argumente beider Seiten gehört hat - ist die Anwendung des Prinzips des "kleineren Übels" - also der Abschuss. Doch wie wäre es, wenn man selbst Angehörige in der Maschine sitzen hätte. Martina Gedeck, die im Film die Staatsanwältin spielt, sät weitere Zweifel:
    "Hätten die Passagiere den Terroristen doch noch überwältigen können? Hätten Sie die Tür zum Cockpit einschlagen können? Wie weit waren sie? Hätte die Zeit gereicht? Wollte der Pilot die Maschine vielleicht doch noch im letzten Moment hochziehen, um die Menschen im Stadion zu retten? Wir wissen es nicht. Und warum wissen wir das alles nicht? Weil der Angeklagte entschieden hat, dass die Passagiere sterben müssen." – Zitat aus "Terror - Ihr Urteil", Martina Gedeck als Staatsanwältin -
    Schirach will Menschen in ihrem Urteil verunsichern
    Der gelernte Strafverteidiger von Schirach zeigt in "Terror" ein enormes Talent, Menschen in ihrem Urteil zu verunsichern: mit scharfsinnigen, für jeden nachvollziehbaren Argumenten beider Seiten. Auch mit Emotionen - aber das, so sagt der Autor, wäre vor Gericht nicht anders. Die brillant gespielte TV-Inszenierung von Regisseur Lars Kraume hält sich eng an die Vorlage. Sie kommt ohne Musik oder andere Emotionalisierungen aus. Sie wurde als reines Kammerspiel im Gerichtssaal inszeniert. Nach knapp 86 Minuten sagt Schauspieler Burghart Klaußner als Vorsitzender Richter:
    "Meine Damen und Herren, nun ist es an Ihnen. Freispruch oder Verurteilung?" – Zitat aus "Terror - Ihr Urteil" -
    Weniger als zehn Minuten wird es danach dauern, bis das Zuschauerurteil zum TV-Experiment über Telefon und diverse Online-Medien eingeholt wurde. Wie im Theater wird nur die Urteilsversion gezeigt, für die sich eine einfach Mehrheit der Zuschauer entschieden hat. Kritiker wie die ehemaligen FDP-Spitzenpolitiker Gerhart Baum und Burkhard Hirsch werfen von Schirach vor, er bringe mit dem Stück einen gefährlichen Populismus in den Gerichtssaal. Der Autor wehrt sich:
    "Ich inszeniere keine Volksabstimmung über die Schuld oder Unschuld eines Menschen, sondern: Es ist ein Stück, ein virtuelles Stück, in dem ein virtueller Mensch angeklagt ist und wir entscheiden über seine Schuld oder Unschuld und damit beginnt eine Diskussion. Aber es ist kein echtes Gerichtsverfahren!", so Schirach.
    Zuschauer können über Schuld oder Freispruch abstimmen
    Tatsächlich wird über eine Webseite detailliert festgehalten, wie sich die Zuschauer einer jeden "Terror"-Aufführung bisher entschieden haben. Dies wird nun auch im TV so sein. Im Theater entschieden sich bisher recht stabil etwa 60 Prozent der Urteilenden für einen Freispruch, was den Piloten in neun von zehn Fällen auf freien Fuß setzte. Laut Ferdinand von Schirach übrigens ein juristisch und moralisch falsches Urteil. Dem Bestseller-Autor geht es jedoch nicht so sehr um das Ergebnis, sondern um die Diskussion über den Fall. Die funktioniert bestens - auch in der Beobachtung von Oliver Berben, der die Filmversion produzierte.
    "Ich weiß nicht, ob Sie mal die Möglichkeit hatten, sich das im Theater anzusehen, aber Sie merken schon während der Vorführung, aber massiv danach, was da für Diskussionen entstehen von Leuten. Das heißt, die Leute gehen aus dem Theater, stehen dort - die gehen nicht nach Hause - und reden. Das haben Sie zu Hause nicht. Sie sind vielleicht sogar alleine", sagt Berben.
    Weswegen es auch Oliver Berben wichtig findet, dass sich dieses emotional und intellektuell sehr wuchtige Fernsehstück nicht in der Stille des Wohnzimmers versendet. In der nachfolgenden Diskussion bei Frank Plasberg sitzen auch Kritiker Gerhart Baum, der ehemalige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung, der das später gescheiterte Luftsicherheitsgesetz auf den Weg brachte sowie ein ehemaliger Kampfpilot und die Theologin Petra Bahr.
    "Terror - Ihr Urteil" ist ein enorm starkes Stück öffentlich-rechtliches Fernsehen: argumentativ brillant von beiden Seiten, intellektuell fordernd, toll gespielt und trotz der Kammerspiel-Anlage extrem spannend. Von Schirachs moralisches Dilemma, das in Zeiten des Terrors so real erscheint, lässt niemanden kalt.
    Komplexe Rechtsphilosophie so spannend wie in einem guten Krimi
    "Auch das führt dazu, dass Sie drüber nachdenken: Möchte ich so leben in Zukunft? Möchte ich alles aufgeben zugunsten der Sicherheit? Es ist nicht der Terror, der die Gesellschaft verändert, es sind wir selber", sagt Produzent Oliver Berben.
    "Nun, das ist der Kernpunkt unseres Verfahrens. Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen? Denken Sie bitte nach! Herr Koch hat 70.000 Menschen gerettet, dafür musste er 164 Menschen töten. Ist das scheußlich? Ja, es ist grauenhaft, furchtbar, erschreckend. Aber wäre es anders gegangen? Nein." - Zitat aus "Terror - Ihr Urteil", Lars Eidinger als Strafverteidiger -
    Die Verfilmung von "Terror" ist alles andere als Demagogie oder Populismus mit Gerichtsfernsehen. Komplexe Rechtsphilosophie und Fragen der Ethik kommen so spannend wie in einem guten Krimi auf die Verhandlungsbank. Dass das Urteil zumeist knapp anders ausfällt, als der Autor es für richtig hält, spricht eher für als gegen die Qualität dieses hochrelevanten Disputs.
    "Terror - ihr Urteil", 17. Oktober 2016, 20.15 Uhr, ARD
    Ab 21.40 Uhr wird in der anschließenden Sendung "Hart aber Fair" über das Urteil diskutiert