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Ferdinand von Schirach: "Die Würde ist antastbar"
Klar, pointiert - aber unentschlossen

Nach den Erzählbänden "Verbrechen" und "Schuld" sowie den Romanen "Der Fall Collini" und "Tabu" gehört der Autor und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach zu den erfolgreichsten Schriftstellern des Landes. Nun legt er eine Sammlung von Essays vor, die im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zwischen 2010 und 2013 veröffentlicht wurden. "Die Würde ist antastbar" heißt der Band.

Von Ralph Gerstenberg | 16.01.2015
    Ferdinand von Schirachs Erzählungen und Romane kreisen um Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne sowie um die damit verbundene Frage, welche moralischen Wertvorstellungen und welches Menschenbild sich hierzulande in geltendem Recht und Gesetz offenbaren. Bereits der Titel seiner Essaysammlung "Die Würde ist antastbar" zeigt, dass der gestandene Jurist seinem Themenfeld auch in seinen Aufsätzen treu bleibt. Wie ist es um unsere Demokratie bestellt, wenn bereits Artikel 1 des Grundgesetzes, die in Stein gemeißelte Unantastbarkeit der Menschenwürde, von Politikern nicht mehr als absolut bindendes Regelwerk ernst genommen wird?, fragt von Schirach in seinem titelgebenden Eingangstext. Und was ist das eigentlich - die Würde? Die Antwort gibt er selbst:
    "Die Idee geht auf Kant zurück. Der Mensch, sagte Kant, könne sich seine eigenen moralischen Gesetze geben und nach ihnen handeln, das unterscheide ihn von allen Wesen. Er erkenne die Welt, er könne über sich nachdenken. Deshalb sei er Subjekt und nicht Tier oder ein Stein, bloßes Objekt. Kant nennt ihn, den vernünftigen Menschen, (...) dem allein Würde zukomme. (...) Der Verfassung reicht es hingegen, wenn der Mensch ein Mensch ist. Schon dadurch ist er Subjekt und besitzt Würde. Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann, wenn also über seinen Kopf hinweg entschieden wird, wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Der Staat kann ein Leben niemals gegen ein anderes Leben aufwiegen. Keiner kann wertvoller sein als ein anderer."
    Menschenwürde mit Füßen getreten
    Heute, meint von Schirach, werde vielfach gegen diesen Grundsatz verstoßen. Wenn Barack Obama den Befehl gebe, Al-Qaida-Chef Bin Laden zu liquidieren, wenn in Guantanamo Menschen ohne Prozess und Urteil gefangen gehalten werden, wenn die Bundesregierung dabei zusehe, wie die NSA die offenbar unter Generalverdacht stehende deutsche Bevölkerung ausspioniert, oder wenn hierzulande darüber diskutiert werde, ob die Anwendung von Folter beim Polizeiverhör unter bestimmten Umständen zulässig sei, dann werde die Menschenwürde nicht nur angetastet, sondern mit Füßen getreten. Der Terrorismus feiere letztendlich Triumphe, indem er über unsere Demokratie entscheide. Denn, so von Schirach:
    "Die westliche Welt, ihre Freiheit und ihr Selbstverständnis, wird nicht an Autobahnmaut, Steuererhöhung oder Pflegeversicherung entschieden – sie entscheidet sich am Umgang mit ihrem Recht."
    Terrorismus entscheidet über unsere Demokratie
    Auch der Umgang mit dem Urheberrecht treibt von Schirach um. Er verstehe nicht, warum Selbstvermarktung und kostenlose E-Book-Tauschbörsen, wie von Urheberrechtgegnern behauptet, für Autoren gut sein sollen, bekennt er und beginnt, von seinem eigenen Autorendasein zu berichten. Davon, wie er angefangen hat, in schlaflosen Nächten bei Zigaretten und Kaffee Geschichten aus seinem Anwaltsleben niederzuschreiben. Rasch fand er einen Agenten und schwuppdiwupp einen Verlag. Nach seinem Erscheinen wurde das Buch ein Bestseller, es galt Interviews zu geben – von August bis Weihnachten. Danach Presseauftritte im Ausland. Dieselbe Prozedur beim zweiten Buch. Beim dritten wurde die Doppelbelastung als Anwalt und Schriftsteller zu viel. Nach einem Zusammenbruch reduzierte er die Juristerei auf ein Minimum und konzentrierte sich auf das Schreiben. Denn das sei schließlich die Hauptaufgabe eines Schriftstellers.
    "Der Vorschlag, Schriftsteller sollten sich selbst auch noch um die Verwertung kümmern, ist absurd. Sie sollen schreiben, ihre Bücher müssen andere verkaufen. Und selbst wenn man so verrückt wäre, es selbst zu versuchen – was hier vielleicht noch mit viel Mühe vorstellbar ist, ist im Ausland undenkbar. Wie soll ein deutscher Schriftsteller seine Bücher in Japan „verlegen" oder in den USA oder in Korea? Wie soll er Lektoren finden? Wie soll er dort Pressetermine vereinbaren? (...) Ich bin von E-Books begeistert, es gibt fantastische Lesegeräte, ein iPad liegt auf meinem Schreibtisch (...) Aber ich möchte mich niemals um die Vermarktung meiner Bücher kümmern."
    Ferdinand von Schirach als Bestsellerautor
    Dass Ferdinand von Schirach als Bestsellerautor aus einer sehr privilegierten Sicht heraus argumentiert, ist durchaus verständlich. Etwas seltsam wird es nur, wenn man feststellt, dass er sich dessen überhaupt nicht bewusst zu sein scheint. Für die Mehrheit der Schriftsteller gehört das Bemühen darum, dass ihr Buch, wenn es denn erschienen ist, auch wahrgenommen wird, zum Berufsalltag. Kleinere Verlage sind auf Marketing- und Verwertungsaktivitäten ihrer Autoren geradezu angewiesen. Andere Autoren erreichen über das Selfpublishing überhaupt erst ihre Leser. Einige von denen wiederum sind inzwischen ebenfalls Bestsellerautoren geworden. Von Schirachs Erläuterungen zeigen vor allem, dass er von der Entstehung und Vermarktung von Büchern keine Ahnung hat, nur von der Entstehung und Vermarktung von Bestsellern.
    Auseinandersetzung mit dem Großvater
    In dem Essay "Du bist, wer du bist" setzt sich Ferdinand von Schirach mit seinem Großvater auseinander. Baldur von Schirach war als führender Nationalsozialist unter anderem für die Deportation der Wiener Juden verantwortlich, die er als seinen persönlichen Beitrag zur europäischen Kultur betrachtete. Als bekannter Autor sieht sich Ferdinand von Schirach immer wieder irritierenden Fragen ausgesetzt.
    "Man will wissen, ob mein Leben ohne diesen Namen anders verlaufen wäre, ob ich einen anderen Beruf gewählt hätte, ob ich mich seinetwegen mit Schuld beschäftige. Solche Fragen müssen wohl sein. Die Journalisten bleiben höflich, aber sie finden es auch ein wenig seltsam, wie ich mich verhalte: Ich sage Termine ab, wenn ich glaube, es gehe zu sehr um ihn. Sie denken, ich wiche aus – und sie haben damit recht. Ich kann keine Antworten geben: Ich kannte ihn nicht, ich konnte ihn nichts fragen, und ich verstehe ihn nicht. Deshalb dieser Text. Es ist das erste Mal, dass ich über ihn schreibe, und es wird das letzte Mal sein."
    Die Sache mit dem Euro
    Man glaubt von Schirach sein Unbehagen und seine Ratlosigkeit angesichts der Verbrechen seines Großvaters. Sein Text hat allerdings eher den Charakter einer Presseerklärung als den einer wirklichen Auseinandersetzung. Und man fragt sich, ob er geschrieben wurde, damit der Autor künftig nicht mehr mit derartigen Fragen behelligt wird. Apropos Fragen! In dem Text "Verstehen Sie das alles noch?", der ein wenig an Bertolt Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters" erinnert, stellt der schreibende Jurist "Fragen an die Wirklichkeit":
    "Verstehen Sie die Sache mit dem Euro? Werden die Griechen aus der Währungsunion austreten? War der Euro vielleicht nur ein Versehen? Wer hat sich das alles ausgedacht? Was machen heute eigentlich Herr Verheugen und sein Erweiterungskommissariat? Gibt es Pläne für ein Verkleinerungskommissariat? Sind Verträge wirksam, die man nicht kündigen kann? Beunruhigt Sie der Begriff "effiziente Bankenaufsicht"? Ist es Zufall, dass Frau Merkel wichtige Entscheidungen gern zwischen Fußballspielen mitteilt? Trug sie in Berlin den blauen Blazer wegen Europa? Was zieht die Kanzlerin in der Uckermark an?"
    Journalistische Essays
    Literarische Essays haben seit Montaigne eine gewisse Tradition. Man erwartet als Leser, an einem Reflexionsprozess beteiligt zu werden, das Bilden der Gedanken eines Autors verfolgen zu können. Ferdinand von Schirachs hier versammelte Texte sind eher journalistische Essays - Glossen, Kolumnen, teilweise mit Reportage-Elementen, auch eine Buchbesprechung ist dabei. Ihr Ursprung als Zeitschriftenartikel ist ihnen deutlich anzumerken. Die Verletzung von Recht und Menschenwürde zieht sich durch viele der Texte. Und stilistisch bleibt sich von Schirach treu.
    Wie gewohnt bevorzugt er kurze Hauptsätze und knappe Sentenzen. Das wirkt oft klar und pointiert. Das Aus- und Abschweifen, Vertiefen, Relativieren und Hinterfragen ist seine Sache nicht. Leider! Denn gerade wenn es anfängt, interessant zu werden, zum Beispiel in einem Beitrag über von Schirachs Jugend im Jesuiten-Internat, in dem später Fälle von Kindesmissbrauch bekannt geworden sind, begnügt sich von Schirach mit einer Pointe. Insgesamt macht diese Sammlung einen eher unentschlossenen Eindruck: Das engagierte politische Statement steht neben nettem Beiwerk, das persönliche Bekenntnis neben publizistischem Kalkül. Der Erfolg ist diesem Buch allerdings gewiss. Denn, wie gesagt, Ferdinand von Schirach weiß, wie man Bestseller macht.
    Ferdinand von Schirachs Essays sind unter dem Titel "Die Würde ist antastbar" im Piper Verlag erschienen. 144 Seiten kosten 16,99 €.