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Über den Schriftsteller Dogan Akhanli
"Jemand, der immer wieder zum Miteinander aufruft"

Der Schriftsteller Dogan Akhanli schlage in seinen Romanen einen Bogen über die gesamte türkische Geschichte und mache uns klarer, was in der Türkei eigentlich heute passiert, sagte der Chefdramaturg des Schauspiel Köln Thomas Laue im Dlf. Akhanli sei jedoch niemand, der zu einem offenen Widerstand aufrufe - er plädiere stattdessen immer wieder für Versöhnung.

Thomas Laue im Gespräch mit Antje Deistler |
    Dogan Akhanli bei einer Pressekonferenz in Madrid am 21. August 2017
    Dogan Akhanli bei einer Pressekonferenz in Madrid am 21. August 2017 (imago stock&people)
    Antje Deistler: Tag zwei nach der Verhaftung des deutschen Schriftstellers Dogan Akhanli in Spanien auf Betreiben türkischer Behörden. Alle Medien berichten darüber, wir hier im Büchermarkt auch. Allerdings möchte ich den Fokus auf sein Werk richten. Auf seine in türkischer Sprache geschriebenen Romane, von denen zwei auf Deutsch erschienen sind, vor allem aber auch seine aktuellen Texte und Schriften, unter anderem für das Kölner Schauspiel. In der Inszenierung "Istanbul" geht Dogan Akhanli dort nämlich auch selbst auf die Bühne, das Stück steht weiterhin auf dem Spielplan.
    Thomas Laue, Chefdramaturg am Schauspiel Köln, kennt die auf Deutsch erschienen Bücher von Dogan Akhanli, und er hat am Schauspiel Köln eng mit ihm zusammen gearbeitet. Jetzt bin ich an seinem Urlaubsort mit ihm verbunden. Guten Tag, Herr Laue.
    Thomas Laue: Hallo!
    Erster Roman über den Genozid an den Armeniern 1915
    Deistler: Lassen Sie uns zunächst über Dogan Akhanlis Romane sprechen. Auf Deutsch erhältlich ist "Die Richter des Jüngsten Gerichts", bei uns 2007 erschienen. Das Buch gilt als der erste Roman überhaupt, der sich mit dem Genozid an den Armeniern von 1915 befasst. Wie erzählt Dogan Akhanli diese Geschichte?
    Laue: Es hat natürlich schon ein paar Vorläufer gegeben, die sich mit dem Genozid befasst haben, aber es ist der erste wirklich große türkische Roman, der aus der Türkei heraus veröffentlicht wurde und dieses Thema so direkt angesprochen hat. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, mit der Dogan Akhanli nach seiner Gefangenschaft in der Zeit des Militärputsches versucht hat, mit seiner eigenen politischen Vergangenheit umzugehen, also was es bedeutet, in den 70er- und 80er-Jahren politisch aktiv zu sein, das sind die ersten beiden Bände. Und dann schlägt er einen größeren Bogen in die Geschichte der Türkei und greift dort dieses Tabuthema des Völkermordes auf.
    Er tut das auf eine recht verwobene und geschickte Art und Weise, indem er mehrere Ebenen verbindet, er versucht es nämlich von heute aus zu erzählen. Es ist eine Ich-Figur, die ihre armenische Identität entdeckt und sich auf die Suche macht und dann viel erzählt bekommt von Opfern, von Überlebenden, und sich dann über seine eigene Identität in das, was er beschrieben bekommt als Erlebtes, sozusagen hineinfantasiert, hineinsteigert. Und parallel dazu erzählt er wie in einer Art sozusagen historischem Roman halb fiktive, halb dokumentarische Geschichten von Akteuren, sagen wir mal: Architekten dieses Genozids von 1915 und 1916.
    "In der türkischen Gegenwart brisant"
    Deistler: Sie haben es gesagt, "Die Richter des Jüngsten Gerichts" ist der dritte Teil einer Trilogie, der sogenannten Meerestrilogie von Dogan Akhanli. Die ersten beiden Bände wurden nie übersetzt. Kann man dieses Buch - gerade wir als deutsche Leserinnen und Leser - trotzdem verstehen und mit Gewinn lesen?
    Laue: Ja klar. Also, das sind ja drei Bücher, die für sich stehen. Ich glaube, was noch besonders ist - und das gilt grundsätzlich für die literarische Arbeit von Dogan Akhanli da, wo er politisch aktiv ist -, ist, dass er versucht, Zusammenhänge herzustellen. Er beschreibt einerseits diesen sehr konkreten, sehr klaren Völkermord von 1915/1916, er greift aber auch zurück in die historische Entstehung dieses Völkermordes, in Pogrome, die bereits im 19. Jahrhundert stattgefunden haben, und mit dem Wissen um diese Pogrome man das, was 1915/1916 passiert ist, viel besser verstehen kann.
    Und - und das macht vermutlich dieses Buch auch in der türkischen Gegenwart so brisant - er deutet auch an oder beschreibt auch eben in dieser Auseinandersetzung dieser Ich-Figuren mit ihrer eigenen Geschichte, dass der Umgang mit diesem historischen Ereignis eben nicht vorbei ist, dass es auch den modernen türkischen Staat, der ja einen ganz anderen Gründungsmythos sich mal so gegeben hat, auch noch betrifft und er dort - dieser Völkermord - quasi weiter seine Wirkung hat, in anderen Verfolgungen von verschiedenen Minderheiten, welche auch immer das dann sind.
    Politische Motive, verbunden mit einer großen Liebesgeschichte
    Deistler: Wie schätzen Sie die literarische Qualität dieses Romans ein?
    Laue: Das Tolle an ihm, es gibt ja noch einen zweiten Roman, der auch auf Deutsch veröffentlicht worden ist, "Tage ohne Vater", da kann man auch mal sehen, was der Autor macht, wenn er ein bisschen weiter weggeht von dem rein politischen Schreiben. Dogan Akhanli - und das sieht man in beiden Romanen, die auf Deutsch erhältlich sind - ist ein großer Meister des Verwebens von verschiedenen Erzählebenen, das ist unglaublich raffiniert und toll und manchmal auch fast nicht auflösbar.
    In "Tage ohne Vater" zum Beispiel beginnt er seinen Roman mit einem Prolog, in dem eine Lektorin einen Brief von einem bis dahin unbekannten Autor namens Dogan Akhanli erhält, der ihr ein Buch zur Veröffentlichung empfiehlt. Diese Lektorin heißt Polaris und stellt fest, dass dieses Buch von diesem Autor, von dem sie bis dahin nichts gehört hat, eigentlich ihre eigene Geschichte erzählt, nämlich die Geschichte, wie sie sich in einen türkischen Musiker verliebt, Mehmet Nazim, der aus der Türkei fliehen musste aus politischen Gründen. Und da verbindet Dogan Akhanli sehr geschickt autobiografische und politische Motive mit einer großen Liebesgeschichte, mit einer sehr emotionalen, aber auch manchmal fast mystisch anmutenden Liebesgeschichte, und verschränkt die Ebenen so sehr, dass man sich irgendwann wie in einem Roman von Kafka fast gar nicht mehr auskennt.
    Das hat dann auch einen unglaublichen Humor, weil dieser Mehmet Nazim, der fliehen muss oder der sich in der Türkei verstecken muss, weil er eben politisch aktiv ist - da erkennt man sehr deutlich das Alter Ego des Autors -, der muss sich dann verstecken und gibt sich einen falschen Namen. Und er wählt den Namen Dogan Akhanli, weil er gehört hat, dass ein gewisser Dogan Akhanli bereits im Gefängnis sitzt, und er sich denkt: Wenn dieser Dogan Akhanli schon verfolgt wird oder schon im Gefängnis sitzt, dann wird man nicht noch mal nach ihm sucht, denn es macht ja gar keinen Sinn, dass es zwei Dogan Akhanlis gibt! Und so weiter und so weiter. Und am Ende wird das dann eben so weit verschränkt, dass man es nicht mehr auflösen kann. Das macht sehr viel Spaß, hat einen großen Humor und ist natürlich immer politisch aufgeladen, auch in Bildern, ist immer auch eine Verarbeitung der eigenen politischen Biografie dieses Autors, der da jetzt gerade unschuldig in Spanien festsitzt.
    Akhanli schlägt Bogen über gesamte türkische Geschichte
    Deistler: So viel zu den beiden Romanen. Jetzt aber zu Ihrer gemeinsamen Arbeit an der Inszenierung "Istanbul" am Kölner Schauspiel! Erzählen Sie uns davon! Dogan Akhanli hat dafür Texte geschrieben. Was erzählt er darin?
    Laue: Na ja, er hat nicht nur Texte geschrieben, er spielt selber mit! Das ist eine Arbeit, die der Regisseur Nuran David Calis am Schauspiel Köln bereits seit mehreren Jahren macht. Man muss dazu wissen, dass das Kölner Schauspiel im Moment in einer Interimsspielstätte in Köln-Mülheim zu Gast ist oder zu Hause ist, und diese Interimsspielstätte befindet sich Luftlinie ungefähr 100 Meter von der Kölner Keupstraße entfernt, das ist diese türkisch geprägte Straße, die 2004 Opfer eines Nagelbombenanschlags des Nationalsozialistischen Untergrunds wurde. Und das Schauspiel ist seit 2013/2014 dort beheimatet und Nuran Calis hat mit dem Ensemble gemeinsam und mit den Leuten von der Keupstraße ebenfalls eine Trilogie entwickelt, wo Schauspieler gemeinsam mit Menschen aus der türkischstämmigen Community, vornehmlich aus der Keupstraße, auf der Bühne stehen und verschiedene Aspekte ihrer Geschichte aufarbeiten. Dazu gehört einmal die Geschichte dieses Nagelbombenanschlags oder ein religiöser Aspekt, und als Drittes ging es um Istanbul. Und als wir das damals angekündigt haben, sollte das eigentlich eine eher freundliche Auseinandersetzung mit den Herkunftssehnsüchten dieser Menschen sein, die dort leben.
    Und dann kam der Putsch letztes Jahr dazwischen und jetzt ist es eine Auseinandersetzung mit der Frage geworden: Was bedeutet eigentlich das, was da in der Türkei gerade passiert, für die türkischstämmige Community hier? Und neben Schauspielern des Ensembles steht dort Dogan Akhanli auf der Bühne und Anwohner und Geschäftsleute aus der Keupstraße, die genau dieser Frage nachgehen. Und Dogan Akhanli erzählt dort sehr eindrücklich seine persönliche Geschichte, erzählt davon, wie er in den 80er-Jahren unter dem Regime des Militärputsches in Haft gesessen hat, dort wurde er gefoltert, er erzählt von dieser Zeit, von diesen Folterungen.
    Und - und das ist das Besondere - er schlägt aber auch einen Bogen, da schließt sich ein bisschen der Bogen zu seinem Werk, er schlägt einen Bogen über die gesamte türkische Geschichte, in der er zeigt, dass es eigentlich immer die Bürger dieses Staates waren, die unter diesem Staat zu leiden hatten. Das heißt, dass ein Staat nicht nach außen aggressiv wird, sondern nach innen, dass er immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen - das ist ja eine ganz andere Geschichte in den 80er-Jahren gewesen als heute - die eigenen Bürger oder eigene Gruppierungen innerhalb des eigenen Landes verfolgt. Davon berichtet er und macht dadurch sehr viele klarer oder verständlicher für uns, die wir die türkische Geschichte nicht so kennen, und macht uns klarer, was dort eigentlich heute passiert.
    Inszenierung als Auslöser? "Das wäre ein großes Paradox"
    Deistler: Es ist ein Stück, in dem es um Rede und Gegenrede geht, da werden auch Erdogan-freundliche Töne laut, um das auch mal zu sagen. Aber die Erdogan-kritischen Töne überwiegen in dem Anteil, den Dogan Akhanli hat. Denken Sie, dass "Istanbul", diese Inszenierung am Schauspiel Köln, der Auslöser gewesen ist für die erneute Verhaftung von Dogan Akhanli jetzt in Spanien?
    Laue: Ich hoffe, nicht, beziehungsweise wenn es so wäre, wäre das sehr absurd. Denn dieses Stück ist eine sehr sorgfältig abwägende - Sie haben es gesagt - Rede/Gegenrede, es ist deutlich die Aufforderung zum Dialog. Und dieses ganze Stück, anderthalb Stunden dauert es, ist eigentlich ein einziges Miteinander-Reden von Menschen, die vielleicht sonst eher Schwierigkeiten hätten, aufeinander zuzugehen, die sich aber auch gegenseitig anhören auf dieser Bühne, was der andere zu sagen hat. Um Erdogan selbst geht es dort eigentlich nur am Rande, es ist dann auch eher ein deutscher Schauspieler, der die Erdogan-kritischen Töne so explizit anspricht, indem er sich fragt, wie das denn eigentlich alles sein kann, was da jetzt gerade passiert, und sich darüber aufregt, dass dort bei einigen der Akteure zu wenig Unbehagen oder zu wenig Widerstand formuliert wird.
    Und Dogan Akhanli - und das macht ihn eben so besonders - ist ja jemand, der zwar sehr dezidiert von dem erzählt, was passiert, aber es ist kein Agitator, es ist keiner, der jetzt die lauten Töne anschlägt und zu einem offenen Widerstand aufruft. Sondern es ist jemand, der die Dinge benennt, aber immer wieder auch zur Versöhnung und zum Miteinander aufruft. Also, sollte es tatsächlich ein Teil dieses Theaterstücks gewesen sein, was jetzt da wieder den Zorn der türkischen Regierung auf ihn gelenkt hat, dann wäre das ein großes Paradox.
    Deistler: Herzlichen Dank, Thomas Laue, für dieses Gespräch!
    Laue: Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.