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"Überhangmandate sind die Quelle dieses Übels"

Drei Jahre hatte der Gesetzgeber Zeit, das von Karlsruhe verworfene Wahlrecht zu verändern. Geschehen ist bisher nichts. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm warnt, dass die nächste Bundestagswahl annuliert werde, wenn sich nichts ändere.

Dieter Grimm im Gespräch mit Friedbert Meurer | 16.06.2011
    Friedbert Meurer: Dieter Grimm war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, und das Bundesverfassungsgericht hat in seiner letzten Entscheidung 2008 gesagt, bis zum 30. Juni muss das Wahlrecht reformiert werden. Guten Morgen, Herr Grimm!

    Dieter Grimm: Guten Morgen!

    Meurer: Was wäre, wenn das Wahlrecht für die Bundestagswahl nicht bis zum 30. Juni reformiert wird, wovon alle ausgehen?

    Grimm: Dann ist zunächst mal gar nichts klar, dann haben wir das alte verfassungswidrige Wahlrecht nach wie vor. Nun steht ja nicht sofort am 1. Juli oder im August oder September eine Neuwahl an, also es bleibt immer noch Zeit. Es ist nicht schön, wenn die Politik eine Frist des Bundesverfassungsgerichts überschreitet, zumal die Frist ja sehr großzügig bemessen war. Drei Jahre hatte man dem Parlament eingeräumt. Aber das ist nicht mit einer Rechtsbeuge verbunden. Wenn es bis rechtzeitig vor der nächsten Wahl nicht zu einem geänderten Gesetz gekommen ist, dann riskiert der Gesetzgeber allerdings, dass die nächste Wahl annulliert wird.

    Meurer: Wie viel Fristüberstreichung, wie viel Verlängerung der Zeit ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gewillt zu akzeptieren?

    Grimm: Das Bundesverfassungsgericht wird mit der Sache ja nur befasst, wenn ein neuer Antragsteller oder Kläger sich meldet. Das Verfassungsgericht hat nicht gesagt, mit dem Ablauf der Frist tritt das alte Gesetz außer Kraft. Also wenn der Bundestag rechtzeitig – rechtzeitig heißt so, dass eine geordnete Vorbereitung der nächsten Wahl nach dem neuen Gesetz möglich ist -, also wenn er in diesem Sinne rechtzeitig mit dem Gesetz fertig wird, dann hat diese Fristüberschreitung keine weiteren Konsequenzen.

    Meurer: Nun haben wir allerdings auch schon einige Male erlebt in der Geschichte, 1982 und 2005, dass es zu vorzeitigen Bundestagswahlen gekommen ist. Wird das Recht des Parlaments auf Selbstauflösung beschnitten, indem das Wahlrecht nicht im Sinne von Karlsruhe reformiert wird?

    Grimm: Das würde ja rechtlich keine vorzeitige Auflösung des Bundestages verhindern. Aber wenn man weiß, es müsste dann nach einem für verfassungswidrig erklärten Wahlgesetz gewählt werden, und wenn man davon ausgehen könnte, dass die Wahl dann nachher annulliert würde, dann übt das natürlich einen faktischen politischen Druck aus, jetzt nicht zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages zu schreiten. Also insofern hat das ein Gewicht, aber das ist ein tatsächlicher Druck, der von den Verhältnissen, von den Zeitverhältnissen ausgeht. Das ist kein rechtlicher Druck.

    Meurer: Die Grünen, Herr Grimm, haben schon gesagt, wir gehen nach Karlsruhe, wenn das nicht bis zum 30. Juni passiert, die SPD überlegt es sich noch. Wenn Karlsruhe sich noch mal damit befassen würde, ist es dann denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht selbst eine Wahlrechtsreform ausformuliert?

    Grimm: Das Bundesverfassungsgericht ist natürlich nicht der Gesetzgeber, sondern ist die Instanz, die Gesetze überprüft. Also dass das Verfassungsgericht selbst für eine Zwischenzeit, für eine Übergangszeit gesetzgeberisch tätig geworden ist, das ist in der 60-jährigen Geschichte vielleicht zwei- oder dreimal vorgekommen. Es ist zum Beispiel beim Abtreibungsrecht vorgekommen, dass das Verfassungsgericht Normen geschaffen hat, die für die Übergangszeit, bis der Gesetzgeber mit seiner Neuregelung fertig war, gegolten haben. Also es ist nicht leicht vorstellbar, dass in einem solchen Fall, beim Wahlrecht, das Verfassungsgericht zu diesem Mittel greifen würde. Es ist im Gegenteil höchst unwahrscheinlich.

    Meurer: Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, hat sogar davor gewarnt, dass es zu einer Staatskrise kommen könnte. Ein zu dramatischer Begriff, wenn die Reform ausbleibt?

    Grimm: Also was heißt Staatskrise? Was würde geschehen? Es würde geschehen, dass nach dem alten verfassungswidrigen Wahlrecht gewählt würde. Dann würden sich mit Sicherheit Parteien oder auch Wähler melden und würden Wahlprüfungsbeschwerde einlegen. Dann würde wahrscheinlich, wie es in der Regel ist, der Bundestag sagen, die Wahl ist trotzdem korrekt gewesen. Dann käme der nächste Schritt zum Bundesverfassungsgericht. Nun weiß niemand, wie das Bundesverfassungsgericht in einem solchen Fall in Zukunft entscheidet, aber es ist höchst wahrscheinlich, weil ja die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes schon jetzt feststeht, dass dann die ganze Wahl annulliert würde. Das heißt also, wir hätten dann für eine gewisse Zeit keinen Bundestag.

    Meurer: Also eine Staatskrise?

    Grimm: Das könnte man eine Staatskrise nennen. Ich stelle mir unter einer Staatskrise etwas noch Schlimmeres vor. Aber eine Verfassungskrise wäre es allemal, ja.

    Meurer: Das negative Stimmgewicht ist eng gekoppelt mit den Überhangmandaten. Müssen die Überhangmandate abgeschafft, ausgeglichen werden?

    Grimm: Die Überhangmandate sind die Quelle dieses Übels und die Überhangmandate sind eine Konsequenz, die unser Wahlrecht mit sich bringt, das ja mit zwei Stimmen wählen lässt, einmal Direktkandidaten, dann Landeslisten, und dann kann es also vorkommen – das ist ja vorhin auch geschildert worden -, dass eine Partei mehr Direktmandate bekommen hat als ihr nach dem Verhältniswahlrecht zustehen würden. Und die Regelung, die wir im Augenblick haben, sagt, dass diese Überhangmandate der Partei erhalten bleiben und nicht ausgeglichen werden.

    Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man dem entkommen könnte. Die klarste und einfachste wäre, man gleicht die Überhangmandate zu Gunsten der anderen Parteien aus, so dass wieder das Stimmgewicht der Wähler sich adäquat repräsentiert im Parlament.

    Meurer: Einziger Nachteil: das Parlament wird größer.

    Grimm: Genau, das ist der einzige Nachteil. Wir haben eine gesetzliche Mitgliederzahl von 598, und dann kriegen wir vielleicht 30 oder 40 Abgeordnete mehr. Eine andere Möglichkeit wäre, dass man das Verhältnis von Direktmandaten und Listenmandaten verändert. Im Augenblick ist es 50 zu 50, das war nicht immer so. Je weniger Direktmandate es gibt, umso weniger besteht die Gefahr des Überhangmandats.

    Meurer: Das könnten Sie sich vorstellen, weniger Direktmandate?

    Grimm: Man kann sich das vorstellen. Wie gesagt, es ist zu Anfang in der Wahlgeschichte der Bundesrepublik ein anderes Verhältnis gewählt worden als das 50-50-Verhältnis. Das kann man sich vorstellen.

    Meurer: Das geht nur mit weniger Wahlkreisen, oder?

    Grimm: Das geht nur mit weniger Wahlkreisen. Das, denke ich, würde so sein, dass die Zahl der Wahlkreise sich vermindert. Dann hätte man also die Gefahr, die damit verbunden ist, dass das Verhältnis zwischen dem Abgeordneten und der Bevölkerung seines Wahlkreises ungünstiger wird.

    Meurer: Ganz kurz, Herr Grimm: Welche Lösung favorisieren Sie?

    Grimm: Ich würde zu einem Ausgleich der Mandate greifen.

    Meurer: Dieter Grimm, Mitglied des Bundesverfassungsgerichts in den 90er-Jahren, zum Streit um die Reform des Wahlrechts für die Bundestagswahl. Herr Grimm, besten Dank und auf Wiederhören.

    Grimm: Ja, gerne. Auf Wiederhören!