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Ungarn und die EU
"Solidarität ist keine Einbahnstraße"

Den Zaun, den Ungarn gegen Flüchtlinge gebaut hat, soll zur Hälfte die EU zahlen - das fordert Präsident Viktor Orbán. Die EU weist die Forderung zurück. Es könne nicht sein, dass man auf der einen Seite Solidarität fordere und sich auf der anderen Seite weigere, solidarische Maßnahmen einzuhalten, sagte der österreichische Europapolitiker Othmar Karas im Dlf.

Othmar Karas im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Othmar Karas. Für die Österreichische Volkspartei ist er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Guten Tag, Herr Karas!
    Othmar Karas: Guten Tag!
    Dobovisek: Ungarn schottet sich ab gegen Flüchtlinge mit einem millionenschweren Zaun und stellt dafür Europa jetzt eine Rechnung aus. Die EU solle doch, bitte schön, mindestens die Hälfte der Kosten dafür tragen. Das steht in Viktor Orbáns Brief an die EU. Herr Karas, überrascht Sie diese Forderung?
    Karas: Ich habe sie eigentlich im Zuge der Dramaturgie der ungarischen Politik befürchtend erwartet. Sie ist aus meiner Sicht unbegründet, diese Forderung. Für diese Forderung fehlt eine vertragliche Grundlage, fehlt eine Vereinbarung und fehlt eine Rechtsgrundlage.
    Ich sage auch gleich dazu, Ungarn hat bis jetzt 6,7 Millionen Notfallhilfe für die Flüchtlingsbewältigung bereits von der Europäischen Union erhalten. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite Solidarität fordert und sich auf der anderen Seite weigert, Flüchtlinge im Sinne der Beschlüsse der Europäischen Union aufzunehmen.
    "Kuhhandel ist nie ein Kompromiss"
    Dobovisek: Offensichtlich ist das ja so eine Art Kuhhandel, den Orbán da vorhat: Europa zahlt für den Zaun und Ungarn nimmt vielleicht dann im Gegenzug an der Flüchtlingsverteilung teil. Klänge das für Sie nach einem Kompromiss?
    Karas: Nein. Kuhhandel ist nie ein Kompromiss. Erpressung ist auch keine Grundlage für einen Kompromiss.
    Dobovisek: Und was ist das, was Viktor Orbán da gerade macht? Erpressung?
    Karas: Das, was die Europäische Union ist, ist eine Solidaritätsgemeinschaft. Wenn wir vor neuen Herausforderungen stehen - und das tun wir in der Flüchtlingsfrage, das tun wir im Zusammenhang mit der Digitalisierung, das haben wir im Zusammenhang mit der Finanzkrise getan -, dann muss sich die Gemeinschaft auf eine gemeinsame Vorgangsweise einigen. Hier ist die Kommission und sind Mitgliedsstaaten sehr, sehr bemüht. Das kann man nicht mit Briefen, mit Zurufen machen, sondern da muss man sich zusammensetzen und muss schauen, wie ist die Belastung beim einen, wie ist die Belastung beim anderen, was sind die Solidaritätsmaßnahmen und Möglichkeiten des einen, das sind die Solidaritätsmaßnahmen des anderen.
    Ich sage daher noch einmal: Ungarn hat bereits 6,7 Millionen Notfallhilfen bekommen. Diesem Brief fehlt jegliche Rechtsgrundlage und es gibt auch keine Vereinbarung, dass die Mitgliedsstaaten an die Kommission diese Briefe schreiben können. Die Kommission war ohnehin sehr fair. Sie hat gesagt, dass sie im Lichte der Gesamtproblematik diesen Brief prüfen wird.
    "Mit Einzelmaßnahmen lösen wir diese Probleme nicht"
    Dobovisek: Ist Ungarn, um das mal zuzuspitzen, aus Ihrer Sicht unsolidarisch und erpresserisch?
    Karas: Der Punkt ist, dass Ungarn hier an die Solidarität appelliert und auf der anderen Seite sich weigert, Beschlüsse, solidarische Maßnahmen nicht einzuhalten. Solidarität ist keine Einbahnstraße und das ist auch kein Basar, sondern man muss sich zusammensetzen und Dinge regeln. Für diese Vorgangsweise fehlt jegliche Grundlage. Geld von Seiten der EU ist bereits geflossen.
    Und ich sage auch dazu: Dieser Brief zeigt auch etwas anderes, nicht nur was Ungarn betrifft. Wenn man will, dass die Europäische Union den Außengrenzschutz zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit macht - wir wollen das alle -, dann muss man die demokratischen Voraussetzungen dafür schaffen und die budgetären und personellen Voraussetzungen dafür schaffen. Man kann nicht auf der einen Seite ständig sagen, dass die Europäische Union und das europäische Budget nicht um die notwendigen zusätzlichen Aufgaben erhöht wird - das trifft viele Mitgliedsstaaten -, aber auf der anderen Seite Briefe an die EU schreiben, dass sie Geld dafür herzugeben hat.
    Man muss diese Fragen im Zuge einer Vertragsreform, was den Außengrenzschutz betrifft, und im Lichte der finanziellen Vorausschau, die der Kommissar Oettinger beginnt zu verhandeln, einbauen. Das muss ein Gesamtpaket werden; mit Einzelmaßnahmen lösen wir diese Probleme nicht und mit Briefen, denen die Vertragsgrundlage fehlt, auch nicht.
    "Das Fatale in Ungarn ist der Widerspruch"
    Dobovisek: Das ist das Grundsätzliche, was Sie einfordern, auf demokratischer Grundlage. Das ist natürlich auch ein Stichwort, wenn wir nach Ungarn blicken, auch mit Blick auf die Mediengesetze dort, auf den Umgang mit Nichtregierungsorganisationen, mit ausländisch getragenen Universitäten zum Beispiel und jetzt in der Flüchtlingskrise. Ist Ungarn aus Ihrer Sicht noch ein verlässlicher, ein ernst zu nehmender Partner, um überhaupt auf demokratischer Grundlage Neues auszuhandeln?
    Karas: Ja, das ist Ungarn. Ungarn gehört zu jenen Ländern mit der höchsten Zustimmungsrate im Rat und im Europäischen Parlament zu den europäischen Gesetzen. Das Fatale in Ungarn ist der Widerspruch zwischen dem Handeln in Europa, der Summe an Geld, das Ungarn aus dem EU-Budget bekommt, und dem innenpolitischen Umgang mit der Gemeinschaft. Hier ist ein eklatanter Widerspruch vorhanden und überall dort, wo die Gefahr besteht, dass europäisches Recht verletzt wird, hat die Europäische Kommission und das Europäische Parlament manchmal auch im Beisein des Ministerpräsidenten Orbán im Europäischen Parlament den Finger in die Wunde gelegt und Verfahren eingeleitet.
    Dramatischer ist in dieser Woche, was in Polen passiert, wo Polen die Aufforderung, auf die Fragen der Kommission zu antworten, den Termin nicht eingehalten hat, verspätet einen Brief geschrieben hat und die Einhaltung von Recht und Werten und Beschlüssen der Europäischen Union als Einmischung in die inneren Angelegenheiten bezeichnet. Alles das ist keine Einmischung der Europäischen Union in nationale Angelegenheiten, sondern die Verpflichtung der europäischen Institutionen, für Einhaltung von Recht, Demokratie und Werten zu sorgen.
    "Immer ein Fehler, gegenseitig Schuld zuzuweisen"
    Dobovisek: Kommen wir noch einmal zurück zur Flüchtlingskrise und zur europäischen Solidarität, auf die ja auch Viktor Orbán setzt bei seinem Schreiben an die EU-Kommission. Eigentlich sollte es bis Mitte des Jahres ja einen Kompromiss in Sachen Flüchtlingsverteilung gegeben haben. Doch auf ihrem letzten großen Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der EU das Thema statt es zu lösen lieber erst mal gar nicht angesprochen. War das ein Fehler?
    Karas: Es ist immer ein Fehler, Probleme, die es gibt, Sorgen und Ängste, die Menschen haben, nicht anzusprechen. Und es ist immer ein Fehler, gegenseitig Schuld zuzuweisen und sich etwas auszurichten, ohne gemeinsame Vereinbarungen und Veränderungen zu beschließen.
    "Mangel an europäischer Solidarität"
    Dobovisek: Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
    Karas: Das Dilemma ist ein Dilemma einiger weniger Staats- und Regierungschefs. Es ist eine Frage des Mangels an politischem Willen und Mangel an europäischer Solidarität. Und es ist derzeit die Grundsatzfrage: Stärken wir die europäische Demokratie? Stärken wir die Europäische Union als Instrument zur Bewältigung der Herausforderungen, oder beginnen wir, in den Kisten der Vergangenheit zu kramen und die nationale Karte gegen die europäische Lösung zu spielen?
    Dobovisek: Othmar Karas, Europapolitiker von der Österreichischen Volkspartei, und weil Herr Karas gerade unterwegs ist, haben wir das Interview kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.