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Verfassungen
Gradmesser der Freiheit

Nach dem Arabischen Frühling wird derzeit in vielen islamisch geprägten Staaten an Verfassungen gearbeitet. In Bielefeld beschäftigt sich eine neue Forschungsgruppe mit dem Verhältnis von Demokratie, Religion und Menschenrechten. Sie veranstaltete jetzt ihre Gründungstagung.

Von Jakob Epler | 12.06.2014
    Tunesierinnen demonstrieren am internationalen Frauentag 2014 in Tunis für mehr Rechte. (8.3.2014)
    In der neuen tunesischen Verfassung sind Männer und Frauen formal gleichberechtigt. (dpa/ picture alliance / Mohamed Messara)
    Ende 2010 hatte sich in Tunesien ein junger verzweifelter Gemüsehändler mit Benzin übergossen und angezündet. Das trieb die unzufriedenen Menschen massenhaft auf die Straße. Sie forderten Demokratie, Gleichbehandlung und bessere wirtschaftliche Chancen. Tunesiens Präsident Ben Ali verließ schließlich fluchtartig das Land.
    Die Demonstrationen in Tunesien wurden zum Vorbild für ähnliche Bewegungen in vielen anderen Staaten der arabischen Welt. Der sogenannte Arabische Frühling hatte begonnen. Das Leben in diesen Ländern hat sich seitdem verändert. Das spiegelt sich auch im Rechtssystem.
    Viele Länder in der Region wollen ihre Verfassungen anpassen oder haben sie bereits geändert. Die Ägypter habe in den vergangenen Jahren gleich mehrere Verfassungen gesehen. Die letzte wurde in diesem Januar per Volksentscheid angenommen. Auch in Libyen wird an einem neuen Text gearbeitet. Marokko und Jordanien haben ihre Verfassungen angepasst, um die aufbegehrenden Massen zu beruhigen.
    Die Situationen in diesen Ländern unterscheiden sich teils gravierend. Aber überall gilt die Rolle, die das islamische Recht in Zukunft spielen soll, als Gradmesser dafür, wie es um die Freiheit in den Staaten steht.
    "Wenn islamisches Recht Teil des Verfassungsrechts wird, dann ist es oft sehr problematisch für die Demokratisierung."
    Die Politikwissenschaftlerin Mirjam Künkler leitet eine Gruppe, die am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung das Verhältnis von Religion und Demokratisierung untersucht.
    "Man hat ja in sehr vielen Ländern islamisches Recht als Teil des Privatrechts, also Familienangelegenheiten, Ehe, Scheidung, Sorgerecht und so weiter. Das wird oft im Hinblick auf religiöses Recht geregelt. Das ist auch oft kein Problem. In Indien sehen wir sogar, dass hinduistisches Recht gilt für Hindus, islamisches Recht für Muslime, in Israel gibt es zwölf verschiedene religiöses Gruppen, die zwölf verschiedene Formen des Privatrechts anwenden. Jeder hat sein eigenes religiöses Recht.
    Das Problem ist aber, wenn religiöses Recht Teil des Verfassungsrechts wird und dann eben auch viele Elemente in der Öffentlichkeit und im politischen Zusammenleben auf Grundlage des religiösen Rechts geregelt werden. Und da kann man dann oft eben schon sehen, dass Menschenrechte beschnitten werden, und dass im Grunde die demokratische Grundlage gefährdet wird."
    Das war unter anderem in Ägypten der Fall. 2012 wurde hier eine massgeblich von den Muslimbrüderschaft vorangetriebene Verfassung verabschiedet. Sie beschnitt unter anderem Minderheiten- und Frauenrechte. Wie bereits in den Vorgängerverfassungen gab es darin viele Bezüge auf islamisches Recht. Tom Ginsburg ist Professor für Internationales Recht an der Chicago Law School. Er nennt die extremste Form solcher Regelungen, die sogenannten islamischen Vorrang-Klauseln.
    "Das sind Vorrangklauseln des islamischen Rechts. Sie besagen, dass kein Gesetz verabschiedet werden darf, das islamischem Recht widerspricht. Diese Klauseln haben eine lange Geschichte. Die erste taucht bereits 1907 in der iranischen Verfassung auf. Mittlerweile haben sie sich in der ganzen Region verbreitet."
    Prägnante Beispiele für solche Klauseln finden sich in den Verfassungen Syriens von 1950 und Ägyptens von 1971. Besonders bekannt dafür ist auch die neue iranische Verfassung von 1979. Sie wurde nach der islamischen Revolution geschrieben. Mirjam Künckler, sagt es sei zwar problematisch, wenn Religion wie im Iran das Verfassungsrecht bestimme. Auf der anderen Seite könne Religion aber auch die Demokratisierung vorantreiben.
    "Wir sehen natürlich auch das Umgekehrte: Wie religiöse Akteure auch beitragen können zur Demokratisierung. Also wenn man jetzt mal vom religiösen Recht absieht und sich anschaut, wie Kirchen, wie islamische Organisationen, wie jüdische Organisationen natürlich auch dazu beitragen, sich für Parlamentarisierung einzusetzen. Es ist also eine zweischneidige Sache."
    Religiöse und säkulare Kräfte müssen Kompromisse schließen
    Religiöse Akteure setzen sich oft für mehr Demokratie ein, weil sie sich selbst davon mehr Freiheit versprechen. Auch Tom Ginsburg sagt, die Beziehung von Religion und Demokratisierung sei zwar kompliziert. Beides stünde sich aber nicht zwingend unversöhnlich gegenüber. Tunesien sei hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel.
    "Tunesien hat eine neue Verfassung verabschiedet, die den Islam nicht als Hauptquelle des Rechts ansieht. Und das ist etwas neues in dieser Region. Dabei wurde der Verfassungsgebungsprozess von einer islamischen Partei vorangetrieben und geführt, die die parlamentarische Mehrheit hatte, Ennahda. Das zeigt, dass religiöse mit säkularen Kräfte Kompromisse schließen können. Sie schaffen es, in bestimmten Ländern zu bestimmten Zeiten, eine echte demokratische Übereinkunft zu treffen."
    Die tunesische Verfassung ist seit Ende Januar dieses Jahres in Kraft. Sie schreibt unter anderem eine geteilte Exekutive vor. Außerdem sind Frauen und Männer formal gleich gestellt. Der Islam wird im Verfassungstext zwar erwähnt, gleichzeitig werden aber auch Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Alfred Stepan ist Professor an der New Yorker Columbia University. Der Politikwissenschaftler sagt, dass Tunesiens Verfassung etwas erfülle, das er Twin Tolerations nennt. Dieses "doppelte Tolerieren" ist für ihn maßgeblich dafür, ob eine Demokratie gelingt.
    "In Ländern wie den Vereinigten Staaten, Indien oder eben Tunesien gibt es viele religiöse Menschen. Diese müssen akzeptieren, dass Bürger eine Legislative wählen, die die Gesetze verabschiedet, dass es nicht Gott ist, der die Gesetze verabschiedet. Das ist noch leicht zu verstehen. Gleichzeitig müssen aber auch Menschen, die religiöse Vorstellungen haben, sich auch in einer religiösen Sprache artikulieren können. Martin Luther King ist ein solches Beispiel: Menschenrechte für Schwarze – das ist eine Idee, die zum Teil religiös motiviert und begründet gewesen ist. Ich glaube, dass Demokraten religiösen Menschen die Möglichkeit geben müssen, ihre Religion öffentlich auszuleben. Solange sie damit nicht die Rechte anderer verletzen."
    Alfred Stepan hält entsprechend nicht nur Klauseln für ein Problem, die religiösen Ideen zu viel Raum geben, wie die islamischen Vorrang-Klauseln. Auch ein übermäßiger Laizismus, die Trennung von Religion und Staat, könne Grundrechte einschränken. Ein Beispiel dafür sei die Türkei. Dort durften bis in das Jahr 2008 Studentinnen nicht mit einem Kopftuch zur Universität gehen. Im öffentlichen Dienst und im Parlament kippte das Kopftuchverbot erst im vergangenen Jahr. Beides sei ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit und damit antidemokratisch gewesen, meint Stepan.
    Ob eine Verfassung letztlich antidemokratisch ist oder einen freiheitlichen Staat verspricht wird am Ende weniger eine Frage von laizistischen oder religiösen Klauseln und Sprachregelungen sein, vermutet Tom Ginsburg. Beobachter, die sich zu sehr darauf konzentrieren, ob islamisches Recht eine Rolle in den Verfassungen der Staaten des arabischen Frühlings spielt oder nicht, könnten einen viel wichtigeren Punkt übersehen.
    "Es gibt verschiedene Interpretationen des islamischen Rechts, der Scharia. Es hat genauso wenig wie das Wort 'Islam' eine absolute und feste Bedeutung. Es hängt immer von der Politik ab und davon, wie es regional interpretiert wird. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wer die jeweiligen Gesetze interpretieren wird. Das Wichtigste sind die politischen Institutionen und der Aufbau der Regierung. Das macht am Ende den Unterschied aus. Und zwar für die Interpretation der gesamten Verfassung – also auch für die Klauseln, in denen es um Religion geht."