Sonntag, 28. April 2024

Archiv

Sinnbild der Schweiz
Durchbruch am Gotthardtunnel

Die Schweizer Alpen auf dem Gotthardpass zu überqueren, war schon immer ein ungeliebtes, langwieriges Unterfangen. Daher wurde 1870 mit Geldern aus der Schweiz, Italien und Deutschland mit dem Bau des Gotthardtunnels begonnen. Es war ein steiniger Weg. Doch zehn Jahre später gelang der Durchbruch.

Von Regina Kusch | 29.02.2020
    Zeitgenössische Darstellung des Tunneldurchbruchs und sich begrüßende Arbeiter von Nord und Süd am 29.02.1880. Es war ein großer Triumph der Technik und ein Durchbruch in eine neue Zeit des europäischen Eisenbahnverkehrs: Nach acht Jahren Arbeit unter widrigen Bedingungen gelang am 29. Februar 1880 mit einer Abweichung von nur wenigen Zentimetern der Durchbruch durch die Alpen am Gotthard. Die Grundlage für den 15 Kilometer langen Eisenbahntunnel war geschafft, die Schienenverbindung zwischen Deutschland und Italien über die Schweiz ermöglicht. |
    Zeitgenössische Darstellung des Durchbruchs des Gotthardtunnels in der Schweiz 1880 (dpa)
    "Ohne eine gewisse feierlich andächtige Spannung fährt wohl kaum jemand zum ersten Mal in den Gotthardtunnel. In der That, eine halbe Stunde lang im Innern der Erde dahinzudampfen, mit Bergen und Gletschern von Pilatushöhe über dem Kopf, Flüsse und Seen ungerechnet, das ist wahrlich kein alltägliches Gefühl. Unterdessen gellt das rasselnde Getöse beständig um unsere Ohren, gleich dem metallischen Prasseln eines Erdbebens unsere Nerven daran erinnernd, wie hart die Erde ist und wie weich wir sind mit samt unseren Kalkknochen."
    So beschrieb der Schweizer Dichter und Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler die Eisenbahnfahrt durch den damals längsten Tunnel der Welt. Im Auftrag der Gotthardbahn-Gesellschaft hatte er eigens einen Reiseführer verfasst, der in Bibliotheken und Luxushotels ausgelegt wurde, um reiche Touristen anzulocken. Mit Kunstplakaten, die in europäischen Bahnhöfen aufgehängt wurden, und sogar auf der Weltausstellung 1889 in Paris warb das Unternehmen erfolgreich für das 15 Kilometer lange technische Meisterwerk, das Gröschenen im Kanton Uri mit Airolo im Tessin verband.
    Wenig Luft, viel Staub
    Unter schwierigsten Bedingungen hatten etwa 11.000 Arbeiter, von denen die meisten aus Italien kamen, zehn Jahre lang an dem Bauwerk gearbeitet, erzählt der Historiker Kilian Elsasser.
    "Damit man nicht zu lange bohren musste, begann man auf beiden Seiten das Loch voranzutreiben, dass man sich in der Mitte trifft. Die Arbeit war sehr streng, weil es im Tunnel zu wenig Luft hat, es war sehr stickig, staubig. Es gab keine Sicherheitsvorkehrungen und man weiß heute von 199 Personen, die da im Tunnel tödlich verunfallten."
    Louis Favres wahnsinniges Vorhaben
    Die Ausschreibung, diese Verbindung zwischen dem Ruhrgebiet und den oberitalienischen Industriezentren Mailand, Turin und Genua durch die neutrale Schweiz zu bauen, gewann der Genfer Bauunternehmer Louis Favre.
    "Louis Favre hatte einen wahnwitzigen Vertrag unterzeichnet, also für den Bau des Tunnels eine Fixsumme von 42 Millionen, ohne Anpassung der Teuerung. Das Zweite war, dass er einen Termin abgeschlossen hatte. Er hat gesagt, ‚Ich baue Ihnen einen Tunnel in acht Jahren. Jeden Tag, den ich früher bin, bekomme ich 5000 Franken. Jeden Tag, den ich später bin, zahle ich 5000 Franken‘. Und er hat gesagt: ‚Gibt es Überschwemmungen, Streik, Erdbeben, es ist immer mein Problem, das ich zu lösen habe‘."
    Louis Favre setzte Sprengstoff und pneumatische Schlagbohrmaschinen ein, deren Abluft zur Belüftung des Tunnels dienen sollte. Die giftigen Dynamitdämpfe verursachten bei den Arbeitern Augen- und Atemwegserkrankungen, unhygienische Lebensbedingungen führten zu Typhus und Durchfall. Immer wieder verlangsamten herabstürzende Gesteinsmassen den Bau. Den Zeitdruck gab Louis Favre an seine Arbeiter weiter. Als die Mineure schließlich streikten und mehr Geld forderten, ließ er den Aufstand von bewaffneten Polizisten niederschlagen.
    Den Durchstich am 29. Februar 1880 erlebte Favre selbst nicht mehr. Er war ein knappes Jahr zuvor bei einer Tunnelinspektion, 53-jährig, an Herzversagen gestorben.
    "Es war die große Anspannung, trifft man sich in der Mitte, und man hat sich dann wirklich getroffen. Es gab eine seitliche Abweichung von gut 30 Zentimetern, und es war natürlich ein Wunder. Und man hat dann - der Legende nach - als erstes ein Bild von Louis Favre durch das kleine Loch auf die andere Seite gereicht. Und so hat man ihm posthum die Ehre gegeben, diesen Tunnel gebaut zu haben."
    Ein zweiter Gotthard-Tunnel
    Fertiggestellt wurde der Gotthardtunnel mit zweijähriger Verspätung. Während die Presse das Jahrhundertbauwerk feierte, ruinierten Nachzahlungen in Millionenhöhe Favres Familie. Bis zu acht Millionen Zugreisende durchquerten pro Jahr das Gotthardmassiv, bis 1980 die Autobahn eröffnet wurde. Mit dem 57 Kilometer langen neuen Gotthard-Basistunnel weihte die Schweiz 2016 zum zweiten Mal den längsten Eisenbahntunnel der Welt ein. Die Zukunft des alten Tunnels ist ungewiss.
    "Ich hoffe, dass es mal UNESCO-Welterbe wird, weil es einerseits das wichtigste Bauwerk der modernen Schweiz ist. Auf der anderen Seite kann man es nur erhalten, wenn man es braucht. Und da gibt es Bestrebungen, dass vermehrt Touristen in den Kanton Uri und ins Tessin gehen, dieses Bauwerk zu befahren, anzuschauen, zu erwandern, zu erleben."
    Vielleicht könnte der Gotthardtunnel - wie schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts - so wieder zu einer Touristenattraktion werden.