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Versteckter Hunger

Nicht alles, was satt macht, ist auch nahrhaft. Zu viel Fast Food und Billig-Produkte können zu einer chronischen Mangelernährung führen, die Menschen krank macht. Das Problem gibt es nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch mitten in Deutschland.

Von Thomas Wagner | 04.03.2013
    Es ist angerichtet:

    "Für Sie auch eine Portion? Darf’s ein bisschen mehr sein? Das ist eine Portion, die in Afrika für einen Tag reichen muss. So schaut die Portion aus …"

    Sternekoch Frank Oehler hat an diesem Nachmittag viel zu tun: Immer wieder füllt er in der Feinkostabteilung eines Stuttgarter Kaufhauses das, was da lecker duftend in einem großen Topf vor sich hin köchelt, in kleine Plastikschälchen ab. Die Kunden stehen Schlange.

    "Ich hab hier ein Reisgericht. Wir haben Erbsen, wir haben Zwiebeln. Ich muss jetzt mal ins Geschmackerlebnis reingehen."

    Klingt nach lecker, schmeckt lecker – nur:

    "Also wir haben ein Gericht kreiert, das zwar lecker schmeckt, aber wo die Inhaltsstoffe nicht ganz passen. Es ist zwar sättigend. Aber es ist nicht nahrhaft. Wir wollten mal zeigen, was in Afrika passiert. Das ist der 'Hidden Hunger', der 'versteckte Hunger', von dem wir heute reden."

    "Versteckter Hunger" – das ist ein Phänomen, das Experten wie dem Ernährungsmediziner Professor Hans-Konrad Biesalski von der Universität Stuttgart-Hohenheim zunehmend Kopfzerbrechen bereitet.

    "Wir wollen dokumentieren, dass ein solches Gericht schmeckt und satt macht und gleichzeitig viele Dinge nicht hat, die wir in der gesunden Ernährung brauchen. Das heißt: In diesem Reisgericht mit etwas Gemüse und etwas Quark fehlen eine ganze Reihe von Vitaminen, von Spurenelementen, von Mineralien wie Eisen und Zink. Es fehlt Vitamin A. Es fehlen viele andere Dinge. Das heißt: Wer sich so ernähren muss, lebt in einer chronischen Mangelernährung."

    Doch genau so ernährt sich nach den Erkenntnissen des Stuttgarter Wissenschaftlers derzeit ein Drittel der Menschheit.

    "Das führt bei Kindern, also gerade in der Entwicklungszeit, in den ersten Lebensjahren, dazu, dass die sich körperlich und geistig nicht richtig entwickeln. Man nennt diesen Zustand 'Stunting'. Das heißt: Sie sind klein im Verhältnis zu einem normal ernährten Kind. Und man muss sich darüber im Klaren sein, dass in Afrika, also in der sogenannten Sub-Sahara-Region, 50 Prozent aller Kinder ein solches Stunting haben. Das Gleiche gilt für Asien. Und ein weiterer Effekt dieser chronischen Mangelernährung ist, dass jährlich rund acht Millionen Kinder als Folge dieser chronischen Mangelernährung versterben."

    Schlimm genug, dass das Problem "Hidden Hunger – Versteckter Hunger" in solch einem gravierenden Umfang in Afrika und Asien auftritt. Die Wissenschaftler in Stuttgart haben das Phänomen auch bei uns, in Deutschland, ausgemacht. Hans Konrad Biesalski, Leiter des Food-Security-Centers an der Universität Hohenheim:

    "Was wir hier wissen, ist, dass der Satz für Ernährung eines Kindes im Arbeitslosengeld II nicht ausreicht, um ein solches Kind gesund zu ernähren. Das sind 2,47 Euro für ein Kind bis zum sechsten Lebensjahr. Schon ab dem zweiten Lebensjahr braucht man deutlich mehr, um eine ausgewogene und kindgerechte Ernährung zusammenzustellen."

    Und deshalb komme bei vielen armen Familien auf den Tisch, was billig, ist:

    "Es gibt Beobachtungen, dass zum Beispiel Kinder aus armen Familien dreimal so häufig übergewichtig wie aus besser gestellten Familien sind. Das liegt zum einen daran, dass fettes Essen billiger ist, weniger Mikronährstoiffe hat, aber viel mehr Energie. Nehmen Sie fettes Schweinefleisch im Vergleich zu buntem Gemüse, das kann deutlich günstiger sein und vor allem, das darf man auch nicht vergessen, es macht eben satt, wobei wir wieder bei diesem Phänomen sind, das satt sein nicht genug ist."

    Verborgener Hunger – das Problem machen die Wissenschaftler selbst dort aus, wo mit Knödeln und Schweinshaxen augenscheinlich besonders häufig besonders üppig gegessen wird.

    "Wir haben Studien aus München, wo man gezeigt hat, dass in armen Familien die Zahl der Kinder mit kognitiven Störungen, also Störungen der Wahrnehmungen bis hin zu psychischen Erkrankungen, deutlich höher ist als in Familien, die besser verdienen."

    Daneben diskutieren die Wissenschaftler noch einen weiteren Punkt: die Verpflegung an Ganztagsschulen. Für Schüler-Mittagessen stehe nämlich, so die Klage von Hans Konrad Biesalski, immer weniger Geld zur Verfügung. Auch dies fördere den "verborgenen Hunger" als Folge von einseitiger Ernährung.
    "Wenn Sie das einem professionellen Caterer geben, der damit auch seinen Betrieb finanzieren muss, dann bleiben von den 3,50 Euro, die er pro Essen hat, so die Aussage vieler Caterer, weniger als ein Euro für den Einkauf der Lebensmittel übrig. Da können Sie nicht viel erwarten."

    Wie aber gegen den 'versteckten Hunger‘ ankämpfen? Der Hohenheimer Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski sieht für Entwicklungs-und Schwellenländer die Chance auf Besserung in einer veränderten Förderung und Ausbildung der Kleinbauern auf dem Land hin zu einem so genannten "Subsistenz-Farming."

    "Subsistenz heißt, dass man ihnen zeigt, was sie anbauen, wie sie mit Saatgut versorgt werden und damit erreichen, dass eine Generation heranwächst, die gesund ernährt ist."

    In Deutschland hingegen sei neben mehr Geld für Kinder aus armen Familien auch mehr Aufklärungsarbeit über ausgewogene Ernährung notwendig. Sterne-Koch Frank Oehler:

    "Die Hauptsünde ist der Phlegmatismus, den Herd nicht mehr einzuschalten, über die Mikrowelle sich zu ernähren, sich mit Fertigprodukten zu ernähren. Wir haben den Herd. Und dieser Herd müsste vielmehr aktiviert werden und nicht die Mikrowelle."