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"Völlig zwingend, das zum Thema im Landtagswahlkampf zu machen"

Das Aufgreifen der Atomkraftdebatte als Thema bei den Landtagswahlen sei trotz der Ereignisse in Japan nicht geschmacklos, sagt Politikwissenschaftler Everhard Holtmann. Schließlich führe die Diskussion um die Atomenergie in Deutschland seit Längerem zu Polarisierungen in der öffentlichen Meinung.

Martin Zagatta im Gespräch mit Silvia Engels | 16.03.2011
    Silvia Engels: Seitdem das Atomkraftwerk Fukushima 1 in Japan nach dem schweren Erdbeben nun Schritt für Schritt außer Kontrolle zu geraten scheint, hat die Diskussion über die Atomkraft auch hierzulande wieder an Fahrt gewonnen. Bundesregierung und die Länder mit AKW-Standorten haben ja gestern die vorläufige Abschaltung sieben alter Reaktoren beschlossen. Die Opposition vermutet dahinter ein taktisches Manöver angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Darüber sprach gestern mein Kollege Martin Zagatta mit dem Politikwissenschaftler Everhard Holtmann. Er fragte ihn, ob er davon ausgehe, dass die Atomkatastrophe in Japan vor allem bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg Ministerpräsident Mappus von der CDU schade.

    Everhard Holtmann: Ich gehe in jedem Fall davon aus, dass die sich aufladende, atomkritische Grundstimmung in der Bevölkerung, in unmittelbarer Reaktion auf diese apokalyptischen Ereignisse in Japan, die Grundstimmung, bezogen auf die künftigen Landtagswahlen, beeinflussen werden, und das ist im Grunde genommen ja auch konsequent. Man wird nicht sagen dürfen, das ist vor dem Hintergrund der Größenordnung dieser Katastrophe geschmacklos oder unangemessen, das zum Wahlkampfthema zu machen. Es wird umgekehrt ein Schuh daraus, denn gerade weil ja auch die Agenda "friedliche Nutzung der Kernenergie" seit Längerem zu Polarisierungen in der öffentlichen Meinung dieses Landes und dieser Bevölkerung geführt hat und weil sie ja auch im Vorfeld der baden-württembergischen Landtagswahlen – erinnert sei hier an den Konflikt zwischen Röttgen und Mappus um die Verlängerung der Laufzeit bei den Atomkraftwerken - weil dieses alles so ist, ist es meines Erachtens auch völlig zwingend, das zum Thema im Landtagswahlkampf zu machen, denn wenn in einem Wahlkampf nicht mehr über Themen gesprochen werden könnte, was sollte dann die Wahlkampagne.

    Martin Zagatta: Glauben Sie, dass das auch die Wahlentscheidung der Bevölkerung, der Wähler dann beeinflusst?

    Holtmann: Nun, wir wissen noch keine aktuellen Zahlen, was die sogenannte Sonntagsfrage betrifft, aber es ist unschwer zu vermuten, dass das nicht ohne Einfluss auf den einen oder anderen, vielleicht auch noch unschlüssigen Wähler bleiben wird, zumal in Baden-Württemberg sich in den vergangenen Wochen ja die Größenordnung, die Proportion zwischen Rot-Grün auf der einen Seite und Schwarz-Gelb auf der anderen Seite, doch als ein sehr knappes Kopf-an-Kopf-Rennen dargestellt hat, und es kann natürlich dann dazu führen, dass unter dem Eindruck der jetzigen Atomkatastrophe beispielsweise auch, aber nicht nur, die Grünen doch wieder etwas Zulauf bekommen werden, denn die Partei Die Grünen, die ja vor Jahrzehnten aus der sozialen Bewegung der Anti-AKW-Gegner erwachsen ist, wird ja seither kontinuierlich mit dem Themenschwerpunkt, mit dem Kompetenzschwerpunkt für Energiepolitik in Verbindung gebracht.

    Zagatta: Gibt es da Erfahrungswerte? 2002 soll ja die Oder-Flut den Wahlsieg von Gerhard Schröder ermöglicht haben, weil er sich da noch geschickt in Szene gesetzt hat. Lässt sich so etwas vergleichen, weil diesmal geht es ja auch um Landtagswahlen, also um Regionalwahlen?

    Holtmann: Bedingt kann man es vergleichen. Man könnte beide Ereignisse einstufen als unvorhergesehene, sogenannte externe Ereignisse, die eben auch überraschend in den Wahlkampf hineinwirken. Aber es gibt einen Unterschied: Die Oder-Flut, das hat ja keinen Bezug zu einem politischen und hochpolitisierten Thema, wie es jetzt die Atomkraft und die Abschaltung der Atomkraftwerke zweifellos ist, gehabt. Seinerzeit ging es "nur" um den Nachweis von Führerschaft in der Position des Regierens. Das ist in der jetzigen Situation anders. Hier ist im Grunde genommen eine Kombination von beidem gefragt: also nachhaltiges Regieren, Nachweis von Führungskraft auf der einen Seite, aber das Ganze wird jetzt gewissermaßen auch durchkreuzt von der Konfliktlinie der Gegner und vormaligen Befürworter der Kernenergie.

    Zagatta: Und die Union, wenn ich Sie richtig verstanden habe, muss dann in Baden-Württemberg um den Wahlsieg fürchten aufgrund dieses Themas?

    Holtmann: Sie ist – und das merkt man den öffentlichen Verlautbarungen ihrer Spitzenpolitiker ja auch an – durch die jetzigen Geschehnisse in Japan zweifellos in die Defensive geraten. Es war eben die Union, die im Bund und auch assistiert von einem Land wie Baden-Württemberg den von Rot-Grün ja seinerzeit schon beschlossenen Atomausstieg durch gesetzliche Maßnahmen wiederum durch eine Verlängerung der Laufzeiten rückgängig gemacht hat. Das ist die politische Grundkonstellation, für die die Union ja auch die politische Verantwortung übernehmen wollte und übernehmen muss, und so gesehen, denke ich, ist in der jetzigen Situation ihre Argumentationslage komplizierter geworden.

    Zagatta: In Halle beobachten Sie ja ganz besonders intensiv den Wahlkampf in Sachsen-Anhalt, wo am nächsten Sonntag schon gewählt wird und wo eine Große Koalition agiert. Sachsen-Anhalt hat keine Atomkraftwerke. Rechnen Sie da dennoch auch mit Auswirkungen?

    Holtmann: Man kann es nicht ausschließen, dass wenn auch schwächere Ausläufer dieser öffentlichen Stimmung sich auch in der Endphase des Wahlkampfes von Sachsen-Anhalt bemerkbar machen. Man hat der bisherigen Kampagne ja häufig auch etwas kritisch vorgeworfen, sie verlaufe reichlich schlafmützig, es gebe keine Themen. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass die großen Koalitionäre sich schwer tun, gewissermaßen in die Rolle von Kontrahenten in der Wahlkampagne zu schlüpfen. Also es könnte durchaus sein, dass Ausläufer dieser Grundstimmung auch in der Endphase des Wahlkampfes sich mit auswirken, und dann dürften vermutlich erstens die Bündnis-Grünen davon profitieren, die ja nach den derzeit letzten Umfragen nach einem kürzeren Höhenflug wieder gefährlich nahe an die Fünf-Prozent-Hürde herangerückt sind.

    Zagatta: Und je höher die Wahlbeteiligung, desto schlechter sind die Chancen der rechtsextremen NPD, in den Landtag einzuziehen. Die Wahlbeteiligung könnte ja damit vielleicht auch ansteigen, wenn man da jetzt ein so kontrovers diskutiertes Thema hat. Könnte das zugespitzt die Folge sein, dass die japanische Atomkatastrophe letztendlich einen Erfolg der NPD in Sachsen-Anhalt verhindert?

    Holtmann: Das halte ich für eine etwas verwegene Kausalkette und ich denke, da sollte man sehr zurückhaltend sein. Sicher: wenn man es über mehrere Stationen hinweg in dem Wirkungszusammenhang verfolgt, dann mag das letztendlich ein Effekt sein. Für einen solchen Effekt spräche auch, dass es bei der Landtagswahl in Thüringen im Wege einer erhöhten Wahlbeteiligung der NPD eben seinerzeit nicht gelungen ist, in den Landtag einzuziehen, und ich gehe davon aus, dass, wenn die Wahlbeteiligung höher liegt – und sie liegt hoffentlich höher als die 44,7 Prozent von 2006 -, dass es dann den Rechtsextremen auch schwerer fallen wird, in den Landtag dieses Landes einzuziehen.

    Engels: Martin Zagatta im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Everhard Holtmann über die Auswirkung der neuen Atomdiskussion auf die bevorstehenden Landtagswahlen.