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Vom Wertewandel eines Wortes

Mit der gewachsenen Komplexität des täglichen Lebens ist der Gerechtigkeitsbegriff zum ideologischen Tummelplatz geworden. Ob Sozialsystem, ökologische Visionen oder Beschneidungsdebatte: Nie war der Kampf um die Deutungshoheit härter als heute.

Von Norbert Seitz | 28.03.2013
    "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein."

    Dieser Programmauszug stammt nicht aus einer zeitgenössischen linken Feder auf der Höhe der europäischen Banken- und Schuldenkrise, sondern von christlichen Sozialisten aus der Gründerzeit der alten Bundesrepublik. Wir schreiben das Jahr 1947 mit dem "Ahlener Programm" der CDU. Auch wenn die Programmgeschichte der Union hinterher anders verlaufen sollte, halten Vertreter des linken Flügels immer noch am "Geist von Ahlen" fest. So zum Beispiel Heiner Geißler:

    "Wenn im Ahlener Programm steht, dass die Macht des Kapitals oder das Gewinnstreben für sich nicht ausschlaggebend sein dürfe für eine Wirtschaftsordnung, dann ist das in einer Zeit, wo Shareholder-Value-Adepten versuchen, die Politik zu bestimmen, eine umso wichtigere Aussage."

    Doch die ordoliberalen Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft sollten sich gegenüber den christlichen Sozialisten des Ahlener Programms durchsetzen. Spiritus Rector der sozialen Marktwirtschaft war Alfred Müller-Armack, der jenseits des Laisser-faire-Kapitalismus wie der zentralen Verwaltungswirtschaft im Staatssozialismus einen neuen Weg suchte:

    "Es gehörte damals etwas Fantasie, wie viele glaubten viel Fantasie dazu, zu glauben, man könnte auch mit einem anderen System etwas machen."

    Später wurde dieses Modell als "rheinischer Kapitalismus" bestaunt. Es war der Markenkern der Union, und Ludwig Erhard war der Verkünder:

    "Die Soziale Marktwirtschaft heiß` ich das, wenn die Wirtschaftspolitik dafür sorgt und alle Anstrengungen unter-nimmt, um durch eine Verbesserung der Leistung, durch eine Senkung der Preise und eine Erhöhung des Nominallohns und Reallohns die Lebenshaltung unseres Volkes und der breiten Masse dieses Volkes fortlaufend zu verbessern (…) Dass dieser Zustand einen dynamischen, unendlichen Prozess darstellt, bedarf auch keiner Begründung."

    Konrad Adenauer gelang mit der Einführung der dynamischen Altersrente 1957 ein Meisterstück der Generationengerechtigkeit, das freilich auf der - aus heutiger Sicht - naiven Annahme basierte, es werde immer genügend Kinder geben, um das ganze System zu tragen. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard stand dieser Reform eher kritisch gegenüber und trat hernach des Öfteren mit seinen berühmten "Maßhalte"-Appellen an die Öffentlichkeit. So ließ er 1962 anlässlich eines zehnprozentigen Lohnabschlusses sämtliche Alarmglocken läuten:

    "Sie haben offenkundig das Gefühl für das Mögliche verloren und schicken uns an, eine Sozialpolitik zu betreiben, die vielleicht das Gute will, aber mit Sicherheit das Böse, nämlich die Zerstörung einer guten Ordnung schafft."

    Und diese Ordnung gründete auf der Prämisse, dass Verteilungsgerechtigkeit nur auf der Basis erwirtschafteter Werte möglich war. In seinem Konzept einer "Formierten Gesellschaft" von 1965 zitiert Erhards Vordenker Rüdiger Altmann ein voller Ironie triefendes Gedicht des berühmt-berüchtigten Rechtslehrers Carl Schmitt, der unter dem Pseudonym Erich Strauss eine poetische Formel für die Verteilungsgerechtigkeit lieferte, die für oben und unten, links und rechts gültig zu sein schien.

    "Links:
    Jetzt ist die Zeit gekommen, /
    Die alles Unrecht heilt./
    Es wird nicht mehr genommen,/
    Es wird nur noch geteilt.

    Rechts:
    Wie ist mein Herz beklommen,/
    Wie sind wir eingekeilt./
    Es wird nicht mehr genommen,/
    Es wird nur noch geteilt."


    Mit der Formel "So viel Markt wie möglich, so wenig Staat wie nötig", schloss sich die SPD in ihrem Godesberger Programm von 1959 dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft weitgehend an.

    Nach der ersten Regierungsübernahme 1969 waren die Erwartungen hoch. Doch einige Forderungen nach mehr Einkommensgleichheit und Verteilungerechtigkeit sollten fragwürdige Berühmtheit erlangen.

    Erste Stilblüte:
    Karl Schiller und das linke Porzellan


    1971 beschloss ein Steuerparteitag der SPD, den Spitzensteuersatz auf 60 Prozent und die Körperschaftsteuer auf 58 Prozent zu erhöhen. Die kapitalistische "Kuh" – so ein Bild des linken Parteiflügels – sollte solange "gemolken" werden wie sie "Milch" gab. Der damalige "Superminister" und marktwirtschaftliche Kopf der SPD, Karl Schiller, warnte seine übermütig gewordenen Parteigenossen - auch mit Blick auf den liberalen Koalitionspartner - vor solch kühnen Beschlüssen:

    "Genossinnen und Genossen, ich bitte bei diesem Punkt, lasst die Tassen im Schrank. 58 Prozent für die Aktiengesellschaften sind zu hoch in der Bundesrepublik. Wir kommen wettbewerbsmäßig unter`n Schlitten."

    Zweite Stilblüte:
    Heinz Kluncker und die Müllabfuhr


    Als die ÖTV im Frühjahr 1974 atemberaubende 13 Prozent Lohnerhöhung für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes forderte und diese mit Warnstreiks durchzusetzen versuchte, war selbst für den sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt eine Grenze der ökonomisch noch vertretbaren Verteilungsgerechtigkeit überschritten worden. Der Parforceritt des ÖTV-Chefs Heinz Kluncker trug letzten Endes mit zum Rücktritt des ersten SPD-Kanzlers bei, denn Brandt sah eine große Gefahr für seine Partei darin, soziale Gerechtigkeit mit einem Selbstbedienungsladen zu verwechseln. Als Nachfolger Helmut Schmidt vor der gleichen Auseinandersetzung stehen sollte, kam es zum offenen Konflikt mit Kluncker. Schmidt schildert ihn in seinem Gesprächsbuch mit Peer Steinbrück:

    "Heinz Kluncker kam zu mir und sagte: "Helmut, ich verlange 15 Prozent." Und ich sagte: "Du kannst mich am Arsch lecken!" (…) Und dann sagte er: "Dann lass ich die Mülltonnen ungeleert auf den Straßen stehen." Da habe ich gesagt: "Dann gehe ich ins Fernsehen und sage dem deutschen Volk, dass du das Oberschwein bist, das für diese Sauerei auf den Straßen verantwortlich ist. Dann wollen wir mal sehen, wer sich durchsetzt:"

    Parteiinterner Verteilungskampf. Doch es sollte noch ärger kommen:

    Dritte Stilblüte:
    Die rote Heidi als Alexandra die Große


    Aufsehen erregte in jenen 1970er Jahren der Beschluss eines Bundeskongresses der damals noch einflussreicheren Jungsozialisten, "im Sinne von mehr Gleichheit eine Einkommenshöchstgrenze von 5000 Mark netto monatlich" einzuführen. Damit brachte die Juso-Chefin Wieczorek-Zeul sogar die linksliberale "Zeit" gegen sich auf. Rolf Zundel kommentierte:

    "Diese Forderung trifft zwar nur den Geldbeutel einer verschwindend kleinen Minderheit, aber die große Mehrheit mitten ins Gemüt. (…) Wer Frau Wieczorek-Zeul in der Pose des großen Alexander an diesen Problemen herumhantieren sieht – bei 5000 wird durchgehauen –, bekommt das kalte Grausen. Er wird zum Konservativen – aus Angst vor den Reformen."

    In der Ära Kohl wurde mit der Einführung der Pflegeversicherung von 1994 eine weiteres Mal an der Spirale der Generationengerechtigkeit gedreht. Sehr zum Verdruss des Wirtschaftsflügels der Union, der die nicht mehr finanzierbaren Sicherungssysteme immer noch unnötig expandieren sah. Doch Kohl fürchtete damals, die Union könne beim hochexplosiven Thema Gerechtigkeit in die Defensive geraten. Also ließ er seinen Sozialminister Norbert Blüm gewähren.

    "Zwanzig Jahre ist über Pflegeversicherung geredet worden. Heute ist der Tag, an dem das Reden zu Ende kommt und die beste Botschaft: Lasst alle Details, die Pflegeversicherung kommt."

    Dennoch konnte Langzeitregent Kohl damit das Gefühl einer "Gerechtigkeitslücke" in der Bevölkerung nicht verhindern. So unterlag er 1998 bei der Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder, der mit der Formel "Innovation und Gerechtigkeit" triumphieren sollte. Doch unter dem starken Einfluss des Finanzministers Lafontaine verschob sich das Gerechtigkeitsverständnis zunächst nach links – etwa mit der Herausnahme des demografischen Faktors aus der Rentenformel. Erst nach seiner Wiederwahl 2002 versuchte Kanzler Schröder gegen überschießende Erwartungen das Ruder herumzureißen. Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage müssten wir erkennen:

    "Jetzt ist nicht die Zeit, neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich noch nicht verstanden, worum es geht."

    Schröder warb offen für eine neue Gerechtigkeit, die sich auch auf Verzicht gründen sollte und bei den Leistungen des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufsattelt. Im Jahr darauf mündet dieser neue Ansatz in der Agenda 2010.

    "Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem abfordern müssen."

    An der Agenda 2010 schieden und scheiden sich die Geister. Für die einen markiert diese einen historisch notwendigen Kraftakt, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Für die Gegner symbolisiert die Agenda einen brachialen Sozialabbau und grassierende Abstiegsängste. Für Bundespräsident Joachim Gauck jedoch drückt sich in dieser Reform ein begrüßenswertes neues Gerechtigkeitsdenken aus.

    "Ich denke schon, dass die Balance von Fördern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig ist (…) Eine Unterforderung von Menschen – und sei es eine liebevolle – ist nicht besonders menschlich. Anders ausgedrückt: Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenig von uns verlangen. Wir werden nicht als Opfer geboren, wir werden zum Opfer gemacht."

    Auch die Union strebte damals einen Systemwechsel an. Und zwar im Gesundheitswesen. Oppositionsführerin Angela Merkel gab ihn auf dem Leipziger CDU-Parteitag 2003 mit der Einführung der sogenannten Kopfpauschale in der Krankenversicherung bekannt. Danach hatte eine Krankenschwester so viel einzuzahlen wie ein Generaldirektor.

    "Ich habe der Partei zugemutet, dass sie den Vorschlägen von Professor Herzog folgen, d.h., dass wir einen Systemwechsel vornehmen, dass wir in Zukunft das Gesundheitssystem und das Pflegesystem anders organisieren wollen. Da gibt es dann natürlich erst einmal Ängste. Und gerade die Arbeitnehmer und die Mittelständler in unserer Partei haben gemeinsam dafür gearbeitet, dass diese Ängste beseitigt werden konnten. Darauf bin ich stolz. Denn es ist uns jetzt gelungen, den Menschen zu sagen: Wir werden mehr Solidarität haben und mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem. Und das ist die Weichenstellung, die ich richtig finde."

    Norbert Blüm, Vertreter des alten Gerechtigkeitsprinzips und der Umlagenfinanzierung lief dagegen Sturm:

    "Ich stelle fest: Kopfpauschale ungerecht, unsolidarisch, Umverteilung, mehr Staat, weniger Transparenz. Und deshalb bin ich dafür, die Reform mit Beiträgen fortzuführen."

    Doch solche Versuche einer neuen Gerechtigkeit setzten sich nicht durch. Stattdessen erfuhr die Wahrung der klassischen Verteilungsgerechtigkeit eine Renaissance. Die Globalisierung hatte nicht nur enorme Freiheitsmöglichkeiten mit sich gebracht, sondern auch neue Ungleichheiten in einem bislang nicht bekannten Ausmaß hervorgerufen. Und mit der Finanzkrise ab 2008 wurde sogar wieder die alte Systemfrage gestellt. So kannte die Publizistin Franziska Augstein beim Thema soziale Gerechtigkeit keine Parteien mehr, sondern nur noch Sozialisten:

    "Derzeit wünschen sich sehr viele mehr soziale Gerechtigkeit im Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland. Dies Begehren: Man kann es christlich-demokratisch nennen, auch christlich-sozial oder sozialdemokratisch, theoretisch gesehen ist es zuallererst: sozialistisch."

    Entgegen solcher schlichten Sichtweise differenzierte sich der Gerechtigkeitsbegriff aus und wurde auf immer weitere Lebensbereiche übertragen. So haben die Grünen entlang des Nachhaltigkeitsprinzips die Generationengerechtigkeit zu ihrer Sache gemacht. CDU-Politiker wie Thomas Strobl oder Julia Klöckner erklären die rechtliche Gleichstellung der sogenannten "Homo-Ehe" zur "Gerechtigkeitsfrage". Selbst in der Beschneidungsdebatte wurde ein neues Gerechtigkeitsterrain aufgetan, das der betroffenen Kinder: So weist der Soziologe Norbert Bolz auf die fatalen praktischen Konsequenzen eines expandierenden Gerechtigkeitsbegriffs hin:

    "Alle Sozialleistungen, an die wir uns gewöhnt haben, nehmen die Formen von Rechtsansprüchen an. Eine Politik, die davon lebt, kann dauerhaft natürlich nur betrieben werden, wenn die Gesellschaft ständig Ungleichheiten produziert bzw. die Empfindlichkeit für Unterschiede steigert. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge."

    Und wie halten es die Bürger mit der sozialen Gerechtigkeit? Im Mittelpunkt einer gerechten Gesellschaft steht für die Mehrheit der Deutschen die Chancen- und Teilhabegerechtigkeit. So das Resultat einer Untersuchung des Allensbach-Institutes. Danach sind für die Bürger Bildungschancen weit wichtiger als ideologisch überdehnte Steuerdiskussionen und Umverteilungsforderungen. Dies gilt auch für die Frauenquote von links und das Betreuungsgeld von rechts. Beide werden als nicht nennenswerte Beiträge zur Chancengerechtigkeit angesehen. Chefdemoskopin Renate Köcher erläutert:

    "Für neunzig Prozent der Befragten ist das Ziel, allen Kindern gleiche Bildungschancen zu geben, ausschlaggebend für soziale Gerechtigkeit. Nur für 21 Prozent der Befragten hat Verteilungsgerechtigkeit Vorrang, wohingegen fast dreimal so vielen – 57 Prozent - Chancengerechtigkeit am wichtigsten ist."

    Doch trotz solcher Präferenzen in der Gerechtigkeitsskala unterstreicht auch die Allensbach-Studie, dass immerhin fast 70 Prozent davon überzeugt sind, Einkommen und Vermögen seien hierzulande nicht gerecht verteilt. Denn die Bürger haben konkrete Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit:

    "Soziale Gerechtigkeit bedeutet für die überwältigende Mehrheit (…), dass man von einer Vollzeiterwerbstätigkeit auch leben können sollte, ohne staatliche Unterstützung beanspruchen zu müssen. Gleichzeitig heißt soziale Gerechtigkeit, dass der Staat mit seinem sozialen Netz dafür sorgt, dass niemand in existenzielle Not gerät."

    Wird also das Thema Gerechtigkeit die Wahl am 22. September entscheiden? Die SPD glaubt offenbar fest daran und fühlt sich für eine solche Auseinandersetzung bestens gerüstet, wie Kanzlerkandidat Peer Steinbrück offen bekennt:

    "Ich finde es ganz interessant, dass CDU/CSU zunehmend auf unser Spielfeld kommen, plötzlich mit dem Trennbankensystem, plötzlich mit einer Lohnuntergrenze, plötzlich mit der Fragestellung einer Lebensleistungsrente, die ziemlich Zynismus ist. Selbst über die Frage der steuerlichen Behandlung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, will sagen: Homos, versuchen sie, Anpassungsbewegung zu erzielen."

    In der Tat wollen Angela Merkel und die CDU beim Thema Gerechtigkeit nicht zurückstehen, weil sie sich vor einer populistischen Ausschlachtung von Reizthemen wie Mindestlohn oder Bankenregulierung fürchten. Doch die Hoffnung der SPD, bei einem Wettstreit um die soziale Gerechtigkeit als das Original bevorzugt zu werden, scheint nicht mehr sehr realistisch zu sein. So wies Peter Grafe, einst Berater Gerhard Schröders im Kanzleramt, schon vor der letzten Bundestagswahl 2009 auf heftige soziale Konkurrenzen hin:

    "Die SPD ist in der Tat in die Lage gekommen, in all ihren programmatischen Kernpunkten von Konkurrenz umgeben zu sein, das heißt: Es gibt kein originäres Territorium der SPD mehr, was nur sie betreten dürfte, dass nur sie besetzen kann."

    Ganz gleich wie die Wahl im September ausgehen wird: Fest steht zumindest, dass der Gerechtigkeitsbegriff im Rahmen einer gewachsenen gesellschaftlichen Komplexität zum ideologischen Tummelplatz geworden ist. Diese inflationäre Entwicklung drückt freilich auch eine Hilflosigkeit aus, Gerechtigkeit überhaupt noch präzise definieren zu können. Dies meint auch der Leipziger Sozialphilosoph Thomas Kater:

    "In unserer Gesellschaft selber ist ein Paradox angelegt, das diesen Widerstreit zwischen Freiheit-Gleichheit, Freiheit- Gerechtigkeit hervorruft. Auf der einen Seite wird von den Individuen erfordert, als Egoisten auf dem Markt sich zu bewähren, ihr Selbstinteresse in den Vordergrund zu stellen. Gerechtigkeitsforderungen haben aber zur notwendigen Grundlage, den anderen in seinen Bedürfnissen und Belangen zu berücksichtigen. Also den eigenen Egoismus zu überwinden. Und das ist ein Spannungsfeld, von dem ich nicht sehe, wie sich das politisch geistig aufbrechen lässt."

    Alle Beiträge der Serie"Vom großen Wort Gerechtigkeit" im Überblick