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Vor 150 Jahren: Reichstag in Berlin eröffnet
Selbstfeier der Regierenden

Es hätte eine Sternstunde der Demokratie in Deutschland werden können, als sich am 21. März 1871 das Parlament des jungen Kaiserreichs konstituierte. Doch Reichskanzler Otto von Bismarck machte aus der Eröffnung des Reichstags in Berlin eine Show der Regierung - und die Volksvertreter zu Statisten.

Von Volker Ullrich | 21.03.2021
    Ein zeitgenössischer Holzstich in Grautönen zeigt einen großen, festlich geschmückten Saal mit großer Reichsflagge von einer Tribüne hängend , Kronleuchtern und zahlreichen Stuhlreihen, die mit feierlich gekleideten Männern besetzt sind. mittig ein Rednerpult dahinter ein Podium Eröffnungssitzung des Deutschen Reichstag in Berlin am 21. Maerz 1871. Neben dem Rednerpult ist Bismarck, im Gang in weißer Uniform Moltke zu erkennen
    Eröffnungsfeier im deutschen Reichstag 1871: Neben dem Rednerpult ist Bismarck, im Gang in weißer Uniform General Moltke zu erkennen (picture-alliance / akg-images | akg-images)
    Am 21. März 1871 vollzog sich im Weißen Saal des Königlichen Schlosses zu Berlin eine denkwürdige Zeremonie: Das erste gesamtdeutsche Parlament des gerade gegründeten Kaiserreichs trat zusammen.
    "Die ganze Feier war schön und ergreifend", befand Baronin Hildegard Spitzemberg, die von der Tribüne aus den Ablauf verfolgte. Doch anders als bei der Eröffnung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche im Mai 1848 handelte es sich diesmal nicht um ein Fest des Volkes, sondern um eine Selbstfeier der Regierenden.

    Reichsapfel, Zepter, Krone und ein Spalier von Hofschranzen

    Um die angebliche Symbiose zwischen mittelalterlicher Reichsidee und preußischer Militärmonarchie zu zelebrieren, hatte man aus der alten Kaiserpfalz Goslar den Thronsessel Kaiser Heinrichs III. aus dem 11. Jahrhundert heranschaffen lassen. Preußische Generäle, allen voran Helmuth von Moltke, trugen die Reichsinsignien – Schwert, Apfel, Zepter, Krone. Ihnen folgten, durch ein Spalier von Hofschranzen, Kaiser Wilhelm I., der Kronprinz und die regierenden deutschen Fürsten. Die gewählten Vertreter des Volkes durften sich ganz hinten im Saal aufstellen, hinter einem großen Aufgebot an Militärs und Vertretern der preußischen Beamtenschaft. In seiner Thronrede beschwor Wilhelm I. den Friedenswillen des in drei Kriegen zusammengezwungenen kleindeutsch-großpreußischen Nationalstaats:
    "Möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen. Das walte Gott!"
    Wilhelm I. König von Preußen bei der Proklamation zum ersten Kaiser von Deutschland, 1871 im Spiegelsaal von Versailles. Otto von Bismarck, deutscher Kanzler, steht im weißen Anzug in der Mitte. 
    Vor 150 Jahren in Versailles - Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs
    Unwillig ließ sich der preußische König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 im Schloss Versailles zum ersten Kaiser eines damit proklamierten neuen Deutschen Reichs ausrufen. Otto von Bismarck hatte ihn und die Landesfürsten für das Projekt gewonnen. Auftakt zu einer höchst ambivalenten Epoche.

    Reichstag: Konnte Regierung nicht kontrollieren

    Deutlicher konnte kaum demonstriert werden, wo die eigentliche Macht lag – nicht bei der Volksvertretung, sondern bei Krone, Armee und hoher Bürokratie. Eben das war der Kerngedanke der von Reichskanzler Otto von Bismarck ausgeklügelten Reichsverfassung. Die monarchische Prärogative sollte gewahrt, die preußische Hegemonie in Deutschland zementiert und die Entwicklung in Richtung auf ein parlamentarisches System blockiert werden.
    So war denn auch der Reichstag ein eigentümlicher Wechselbalg. Er kam zwar zustande nach einem für damalige Verhältnisse recht fortschrittlichen Wahlrecht, wählen durften alle Männer ab 25 Jahre. Auch wirkte er an der Gesetzgebung und der Verabschiedung des Haushalts mit. Doch das entscheidende Recht eines demokratisch legitimierten Parlaments besaß er nicht. Er konnte die Regierung nicht kontrollieren oder gar gestaltenden Einfluss auf die Reichspolitik nehmen. Denn der Reichskanzler war nicht dem Parlament verantwortlich, sondern allein vom Vertrauen des Monarchen abhängig, der ihn ernannte und entließ. Dennoch waren die meisten der 382 Abgeordneten der Überzeugung, einer historischen Stunde beizuwohnen.
    Otto von Bismarck - Der Eiserne KanzlerSein Anliegen war es, in revolutionären Zeiten die Fundamente der alten Ordnung zu sichern. Otto von Bismarck war gleichermaßen ein Mann wilder Reden wie ein maßvoll agierender politischer Taktiker.
    "Es war ein unbeschreibliches Hochgefühl, mit dem wir im Frühjahr 1871 in den Reichstag eintraten; die kühnsten Hoffnungen der Jugend, das warme Streben des Mannesalters war erfüllt, weit übertroffen." Erinnerte sich ein Abgeordneter der Nationalliberalen Partei, die mit fast 33 Prozent der Stimmen und 125 Mandaten als stärkste Fraktion aus den Wahlen vom 3. März 1871 hervorgegangen war.

    "Zentrum" bezog 63 Sitze, die Sozialdemokratie zwei

    Auf die beiden konservativen Parteien entfielen zusammen 23 Prozent der Stimmen beziehungsweise 94 Mandate. Überraschend gut hatte das Zentrum, die erst 1870 gegründete Partei der katholischen Wählerschaft abgeschnitten. Sie wurde mit über 18 Prozent der Stimmen und 63 Mandaten zweitstärkste Fraktion. Sein Sprecher, der Abgeordnete Ludwig Windthorst, mahnte die Regierung, nun der äußeren Einheit auch die innere folgen zu lassen:
    "Diese innerliche Begründung wird nicht eher da sein, als bis man das erreicht hat, dass alle Konfessionen und insbesondere auch die katholische Kirche ihre befriedigende Situation in diesem Reiche gefunden hat."

    Ausgrenzung der politischen Gegner

    Doch stattdessen brach Bismarck schon bald den "Kulturkampf" vom Zaun, der die Integration der Katholiken in das Kaiserreich über Jahrzehnte erschweren sollte. Noch schlimmer erging es den Sozialdemokraten, die mit gerade einmal zwei Abgeordneten im Reichstag von 1871 vertreten waren. Je stärker sie in den folgenden Jahren wurden, desto heftiger verfolgte sie der Reichskanzler. Die Knebelung des Parlaments und die Ausgrenzung der politischen Gegner als "Reichsfeinde" sollten die politische Kultur des Kaiserreichs nachhaltig vergiften und sich als eine schwere Hypothek bis über dessen Untergang 1918 hinaus erweisen.
    Die erste Sitzung der Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 1919 im Nationaltheater in Weimar. Blick in das Theater, wo die Parlamentarier auf ihren Plätzen sitzen.
    Die Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung
    Im Februar 1919 trat die Nationalversammlung erstmals zusammen und brachte die Weimarer Reichsverfassung auf den Weg. Sie galt als die liberalste Verfassung der damaligen Zeit, wies aber auch verhängnisvolle Konstruktionsmängel auf, die letztlich den Feinden der Republik den Weg freimachten.