Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Vor 45 Jahren
Freistadt Christiania - Europas größtes soziales Experiment

Jugendunruhen und gesellschaftlicher Wandel der 1960er-Jahre haben auch in Dänemark ihre Spuren hinterlassen. Sichtbares Zeichen bis heute ist die Freistadt Christiania in Kopenhagen: Hier wollten Hausbesetzer, Aussteiger, Künstler und Befürworter eines liberalen Drogenkonsums ihren Traum von einem alternativen Leben verwirklichen.

Von Frank Zirpins | 26.09.2016
    Buntes Früchte-Graffiti in Christiania, der alternativen Siedlung von Kopenhagen
    Buntes Früchte-Graffiti in Christiania, der alternativen Siedlung von Kopenhagen (imago / Sergienko)
    26. September 1971. Zwölf Uhr null acht und 30 Sekunden.
    Die Eindringlinge waren sich ihrer Sache sicher. Vor allem aber glaubten sie daran, etwas Weltbewegendes zu vollbringen. Auf eine Tür im alten Artilleriekommando von Kopenhagen sprühten sie das aktuelle Datum, die genaue Uhrzeit - und auf den Boden davor die Worte: "Es lebe Christiania – ein freier Staat."
    Eine Gruppe dänischer Anarchisten, Linksalternativer und Hausbesetzer wollte hier ihren Traum verwirklichen: einen Sehnsuchtsort von Aussteigern, Künstlern, Befürwortern eines liberalen Drogenkonsums.
    Anfang 1971 hatte das dänische Militär die ehemalige Kaserne Bådsmandsstræde geräumt – sie hatte bereits mehrere Jahre leer gestanden. Die kaum bewachten Baracken riefen zunächst Obdachlose auf den Plan, dann Nachbarn und ihre Kinder, und schließlich eine ganz spezielle Gruppe von Entdeckern.
    Der Journalist und Aktivist Jakob Ludvigsen und eine Gruppe von Freunden erkundeten das aufgegebene Militärgelände. Die Aktion begleiteten sie mit einem Manifest, das Ludvigsen in seiner Zeitschrift "Hovedbladet" veröffentlichte – eine Art dänischer "Pflasterstrand". Ganz im Sinne friedensbewegter linksalternativer Lebensentwürfe der späten 60er -Jahre erklärt er darin das Kasernengelände zum Siedlungsgebiet:
    "Christiania ist das Land der Siedler. Es ist bis jetzt die größte Chance, eine Gesellschaft von Null aufzubauen – und dabei trotzdem die vorhandenen Gebäude weiter zu nutzen."
    Verantwortung für das Wohlergehen der Anderen
    Rund 150 Siedler kommen in kurzer Zeit, auch Ludvigsen selbst zieht hierher. Die meist jungen Menschen renovieren die leeren Baracken oder bauen gleich eigene Häuser. Der Schreiner Klaus Danzer wohnt seit 1993 in Christiania:
    "Also manchmal hat jemand eben `n schönes Fenster irgendwo gefunden und hat sich dann `n Haus drumrum gebaut, weil er eben dieses Fenster so schön fand, aber es ist nie `ne Baugenehmigung dafür eingeholt worden."
    In Christiania soll eine Gemeinschaft entstehen, die sich selbst regiert, in der jeder Verantwortung für das Wohlergehen der Anderen trägt. Wöchentlich trifft sich ein Plenum aller "Christianiter", wie sich die Bewohner nennen. Die Entscheidungen, die sie treffen, sind für alle bindend.
    Die Behörden wollen die Kommune zunächst räumen, aber schon bald wohnen mehr als 500 Menschen dort – zu viele, um sie zu vertreiben. Staat und Kasernenbesetzer einigen sich auf einen de facto Autonomiestatus des Gebietes mitten in Kopenhagen: Die Bewohner willigen ein, für Strom und Wasser zu zahlen. Christiania wird zum "sozialen Experiment" erklärt.
    "Nur der Haschverkauf ist hier ein großes Geschäft"
    Die Regeln der Kommune: keine Miete, kein Wohnungseigentum, keine Gewalt, keine Waffen, keine harten Drogen.
    Der linke dänische Systemkritiker Emil Bier urteilt über die Siedlung: "Es ist ein toller, ein freier Ort, weil hier das materialistische Dänemark mehr oder weniger verschwindet. Außer, dass der Haschverkauf ein großes Geschäft ist."
    Ein zu großes Geschäft. Jahrelang war die Pusher Street Zentrum des Cannabis-Handels in Christiania. Hier war der Verkauf weicher Drogen legal, im Rest von Dänemark nicht. Kontrolliert wurde dieser Hasch-Supermarkt aber nicht von den Christianitern, sondern von konkurrierenden Rockerbanden. Bei einer Schießerei zwischen einem Dealer und Polizisten Ende August wurde der Drogenhändler tödlich verletzt. Im Plenum beschlossen die Christianiter Anfang September, alle Händler aus der Pusher Street zu vertreiben und den organisierten Drogenhandel in der Freistadt trockenzulegen. Die Bewohner selbst rissen die Buden der Haschverkäufer ab.
    Die Haltung zur Legalisierung weicher Drogen ist tatsächlich der letzte Kern der Kontroverse um Christiania. Viele Kommentatoren sehen in der Vertreibung der Dealer die Rückkehr zu den Wurzeln von Mitbestimmung, Freiheit und Vielfalt. Den Beschluss, die Haschbuden einzureißen, kommentierte der Sprecher der Gemeinschaft, Risenga Manghezi:
    "Christiania kann nicht den gesamten Haschhandel von Dänemark beherbergen. Wir können die Buden räumen, aber wir können uns nicht darum kümmern, dass die Buden wegbleiben."
    Eine Vertreibung von dem Gelände droht den Bewohnern nicht mehr. Denn sie haben sich 2011 mit der konservativen dänischen Regierung geeinigt und das Gelände und die Häuser gekauft. Die 20 Millionen Euro Kaufpreis tragen sie seitdem mit einer Volksaktie zusammen. Christiania könnte ein Zuhause für Aussteiger und ein Touristenmagnet bleiben. Wie heißt es doch in der 40 Jahre alten Hymne der Freistadt?
    Song "Song i kan ikke sla os ihjel”
    "Ihr könnt uns nicht totschlagen
    Wir sind ein Teil von Euch selbst"