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Vor 75 Jahren
Als das jüdische Getto "Klein-Wien" in Schanghai befreit wurde

Nach den Novemberpogromen 1938 war die chinesische Hafen- und Industriestadt Schanghai einer der wenigen Orte auf der Welt, der verfolgten Juden nicht nur Zuflucht, sondern auch noch Arbeitsmöglichkeiten bot. Doch auch im dortigen Exil waren die deutschen, österreichischen und osteuropäischen Juden nicht frei.

Von Regina Kusch | 03.09.2020
    Das Foto zeigt ein Zertifikat der chinesischen Republik für einen staatenlosen Jungen im Jahr 1944. Jüdische Geflüchteten wurde der Aufenthalt in Shanghai während des Zweiten Weltkriegs gewährt.
    Ein Zertifikat der chinesischen Republik für einen staatenlosen Jungen im Jahr 1944. Jüdischen Geflüchteten wurde der Aufenthalt in Schanghai während des Zweiten Weltkriegs gewährt. (picture alliance/CPA Media)
    "Die Verhältnisse waren schrecklich. Die Stadt war überfüllt von Millionen von chinesischen Flüchtlingen. Es war eine Stadt ohne richtige Gesetze. Da war viel Verbrechen, viel Armut. Es war hygienisch miserabel. Alle möglichen Krankheiten von Cholera bis Flecktyphus waren weit verbreitet, und es war für einen Europäer fast unmöglich, dort sich sein Leben zu verdienen." So schilderte Michael Blumenthal 1997 in einem WDR-Interview seine Erinnerungen an Schanghai, das er als 13-Jähriger erlebte. Nach den Novemberpogromen 1938 war es seiner Familie gelungen, ein Visum und eine Schiffspassage in die chinesische Hafenstadt zu ergattern. Für mehr als 20.000 deutsche, österreichische und osteuropäische Juden war dies der letzte Zufluchtsort, an dem sie den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten entkommen konnten.
    Doch China war ein armes Land und befand sich zudem im Krieg mit Japan, so die Sinologin Mechthild Leutner von der Freien Universität Berlin: "Schanghai war zu diesem Zeitpunkt einerseits noch Kolonialgebiet oder es war japanisch besetzt. Und mit Unterstützung der dort schon existierenden jüdischen Gemeinden und natürlich des Jüdischen Internationalen Komitees gelang es den jüdischen Flüchtlingen erst einmal, sich eine Existenz zu schaffen. Die meisten hatten nicht China als Endziel, sondern wollten weiter in die USA, nach Australien oder wohin auch immer."
    Doch mit dem Kriegseintritt der USA nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 saßen die jüdischen Flüchtlinge in Schanghai fest und mussten sich mit den ärmlichen Lebensbedingungen dort arrangieren.
    Klein-Wien in Schanghai
    "Hinzu kam, dass dann unter dem Druck der deutschen Regierung 1943 die japanische Armee ein spezielles Amt für jüdische Flüchtlinge einrichtete und die Konzentration der in ganz Schanghai verstreut lebenden jüdischen Flüchtlinge in dem Gebiet Hongkou befahl", so Mechthild Leutner. In Hongkou lebten die jüdischen Flüchtlinge neben der dort ansässigen chinesischen Bevölkerung und konnten sich nicht mehr frei in Schanghai bewegen. Im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs verlangten die Nationalsozialisten von ihren japanischen Verbündeten, die Juden auszuliefern oder zu vernichten. Doch die ließen sich nicht darauf ein.
    Ein Foto des ehemaligen jüdischen Ghettos Hongkou Zhoushan Lu in Schanghai.
    Eine Straße im ehemaligen jüdischen Ghetto Hongkou Zhoushan Lu in Schanghai. (picture alliance)
    "Es hatte eine starke Unterstützung wohlhabender jüdischer Bankiers 1905/06 im russisch-japanischen Krieg gegeben. Das heißt, hier war sozusagen im kollektiven Gedächtnis der japanischen politischen Elite diese Idee: Wir haben auch eine gewisse Dankbarkeit zu zeigen. Gleichzeitig wollte man Restriktionen und Repressionen von den japanisch-stämmigen, in den USA lebenden Einwohnern vermeiden", sagt Mechthild Leutner. Hongkou wurde bald auch Klein-Wien genannt, weil viele Flüchtlinge dort deutsche und österreichische Traditionen pflegten. Sie eröffneten eigene Geschäfte und gaben deutschsprachige Zeitungen heraus, die den Einwanderern die chinesische Kultur zu erklären versuchten. In Kaffeehäusern kredenzte man Apfelstrudel oder Sachertorte und sogar Wiener Operetten kamen in Schanghai zur Aufführung.
    Nach Japans Kapitulation folgt die Befreiung
    Mit der Kapitulation der Japaner wurde das Getto am 3. September 1945 befreit. Doch damit war das Exil für die 20.000 in Schanghai lebenden jüdischen Flüchtlinge noch nicht zu Ende. Viele wussten nicht, ob ihre Angehörigen überlebt hatten und wohin sie nun sollten. Die meisten wollten nach Israel oder in die USA, so wie Michael Blumenthal: "Die Leute fingen an abzuwandern, nach Amerika, nach Kanada, nach Australien, nach Südamerika im Laufe der Zeit. Das dauerte bis 1950/51, bis die allerletzten weg waren. Da hatten ja auch schon die chinesischen Kommunisten den Bürgerkrieg gewonnen und die Stadt übernommen. Im Laufe der Zeit langsam, langsam, langsam nahmen nun andere Länder diese DPs, Displaced Persons, die wir ja waren, diese Flüchtlinge auf in ihr Land. Und so gingen wir 1947 nach Amerika."
    Von 1997 bis 2014 leitete Michael Blumenthal das Jüdische Museum in Berlin und dokumentierte dort das jüdische Exil in Schanghai. In Hongkou wurde 2012 eine Gedenkstätte in der alten Synagoge eingerichtet, die an die Geschichte der geretteten Juden in China erinnert.