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Wales
Stahlkrise, Wahlen und Brexit

Seit Wochen zittert Wales um seine Zukunft: Die indische Firma Tata will ihre Stahlwerke schließen. Die britische Regierung sucht verzweifelt nach einem Käufer - denn ein Erhalt der Werke könnte großen Einfluss auf die Regionalwahlen und die Brexit-Entscheidung im Juni haben.

Von Martin Alioth | 03.05.2016
    Stahlwerk
    Das Tata Stahlwerk in Port Talbot in Wales (dpa/picture-alliance/Andy Rain)
    Kilometerweit ziehen sich die rauchenden und fauchenden Anlagen am Strand von Port Talbot dahin. Jean Tinguely hätte seine helle Freude gehabt: Verschlungene Röhren, durch die ein Mensch aufrecht gehen könnte, Kaminschlote, Fabrikgebäude quer durch die industrielle Stilgeschichte. 4000 Arbeiter beschäftigt Tata direkt, rund 10.000 zusätzliche Arbeitsplätze sind in der Bucht von Swansea von diesem Koloss abhängig. Alun Davies vertritt die Gewerkschaft der Stahlkocher:
    Wenn das geschlossen würde, würde das gesellschaftliche Gefüge zertrümmert. So wie das eine Generation früher in den walisischen Tälern mit der Kohle geschah. Was sind denn nun die politischen Folgen dieser Krise? Am 5. Mai wird ein neues Regionalparlament gewählt. Roger Scully unterrichtet Politik an der Uni Cardiff:
    Niemand sei überwältigt von den Leistungen der walisischen Labour-Regierung, aber die größere Schuld werde der konservativen Zentralregierung in London zugewiesen.
    Am breiten, gewölbten Strand von Port Talbot wartet die Ukip-Kandidatin, Glenda Davies. Für die anti-europäische und fremdenfeindliche Ukip-Partei wären Sitzgewinne in Cardiff ein Meilenstein: erstmals eine Fraktion in einem britischen Parlament. Und das sechs Wochen vor dem Referendum über Brexit, den EU-Austritt. Glenda Davies:
    Politiologe: Brexit wäre katastrophal für Wales
    Wenn die Anlage nicht verkauft werde, dann wollten die Arbeiter die EU verlassen. Das sage man ihr jedenfalls.
    Der Politologe Richard Wyn Jones ist der Experte für walisische Politik an der Universität Cardiff. Im Gegensatz zu Nordirland und Schottland, wo die pro-europäischen Mehrheiten deutlich seien, berichtet er, finde in Wales ein Kopf-an-Kopf-Rennen statt. Soweit die Theorie. Ein Praktiker geht noch weiter: Stephen Kinnock, Sohn eines früheren EU-Kommissars und einer früheren EU-Abgeordneten, vertritt den walisischen Wahlkreis Aberavon - das Epizentrum der gegenwärtigen Stahlkrise - für Labour im Unterhaus:
    Er befürchte, dass das Land blind in den Austritt stolpere, und das wäre katastrophal für das Königreich und für Wales. Tatsächlich gewinnt die durch und durch englisch geprägte Ukip-Partei erstmals nennenswerten Zulauf in Wales. Schließlich bezieht Wales reichlich Fördergelder von der EU, seine Industrie ist in die exportorientierten Branchen Automobil und Flugtechnik verflochten:
    In Krisenzeiten wird die Zugbrücke hochgeklappt, die Leute zögen sich auf das Vertraute zurück, meint Kinnock, und würden reaktionär.
    Das sei die Ideenwelt der Ukip Partei. Der Politologe Wyn Jones argwöhnt, die neuen Ukip-Wähler kämen vor allem aus den Reihen englischer Einwanderer in Wales. Er berichtet überdies, dass sämtliche walisischen Politiker einem Brexit ängstlich entgegen sähen, denn sie erwarteten in dem Szenario einen baldigen Austritt Schottlands aus dem Königreich. Dann wäre Wales an England gekettet, in einem neuen "Klein-Britannien". Das ist die Ebene von Identität und Nationalität. Für Stephen Kinnock stellt das bevorstehende Referendum in erster Linie eine ideologische Gretchenfrage:
    Nach einem Brexit würden Arbeiterrechte sofort beschnitten, das sei das Ziel der Austrittswilligen, der Abschied von einem sozialen, solidarischen Europa.
    Die wollten doch bloß einen schwimmenden Hedge Fonds kreieren, den man dann Vereinigtes Königreich nenne.