Montag, 18. März 2024

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Was ist deutsch?
"Die klassischen Definitionen des Deutschen sind kosmopolitisch"

Bevor der Nationalismus im 19. Jahrhundert aufkam und im 20. seinen negativen Höhepunkt fand, stand "Deutsch sein" auch für etwas anderes: für Kosmopolitismus und die Macht des freien Geistes, sagte der Germanist Dieter Borchmeyer im DLF. Allerdings war auch dieses Denken vor Überlegenheitsgefühlen nicht gefeit.

Dieter Borchmeyer im Gespräch mit Michael Köhler | 26.02.2017
    Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer bei einer Martin-Walser-Lesung 2008
    Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Borchmeyer zitiert in diesem Zusammenhang vor allem den Schriftsteller Thomas Mann (1875-1955): "Das Wesen des Deutschen ist das, was Thomas Mann Weltdeutschtum genannt hat. Das heißt, dass das Deutsche nicht im Nationalen aufgeht, dass es nicht mit Ethnizität oder der politischen Nation zusammenfällt, sondern dass es eine übernationale, europäische, menschheitliche Größe ist."
    Umschlagen von "Weltläufigkeit in Weltbeherrschungsdenken"
    Auch Richard Wagner (1813-1883) habe immer betont, dass "das Deutsche nie aufging in einer nationalen oder ethnischen Begrenzung", sondern verschiedene Kulturen zu verschmelzen vermochte. Dieser Gedanke sei lange Zeit maßgeblich für die deutsche Kultur gewesen: "Das war die Grundlage der deutschen geistigen Kultur der Goethezeit", so Borchmeyer. "Dann kam der Nationalismus - das hat Goethe entsetzt."
    Der Kosmopolitismus vieler Kulturschaffender sei allerdings oft in Superioritätsdenken umgeschlagen, sagte Borchmeyer. So habe etwa der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951), Erfinder der Zwölftontechnik, gesagt: "Die Zwölftontechnik soll die Vorherrschaft der deutschen Musik auf ein Jahrhundert sichern." Dieses Umschlagen von "Weltläufigkeit in Weltbeherrschungsdenken" finde sich immer wieder, so Borchmeyer. Thomas Mann habe das "grandios analysiert": "Dass das Beste ins Böse umschlagen kann, gerade die besten kosmopolitischen Traditionen führten die Gefahr bei sich, in Überlegenheitsgefühl umzuschlagen."
    "Ein wunderbares geistiges Heilmittel gegen jede Form von Nationalismus"
    Ähnliches erkennt Borchmeyer auch bei Heinrich Heine (1797-1856): "Er war ganz kosmopolitisch ausgerichtet, er dachte als Jude ganz besonders Deutsch sein zu können, dass es eine tiefe Affinität gebe zwischen deutsch sein und jüdisch sein. Allerdings fand auch Heine, dass die ganze Welt Deutsch werden solle: Alles sollte aufgeklärt, kosmopolitisch, nicht chauvinistisch sein." Heine habe furchtbar darunter gelitten, dass die teutonischen Deutschen nicht einsehen wollten, dass er vollgültiger Deutscher sein kann. Preußendeutschland sei meilenweit entfernt gewesen von der kosmopolitischen, universalistischen Idee.
    Borchmeyer hält den kosmopolitischen Gedanken bei der Frage "Was ist deutsch?" auch heute noch für wichtig: "Die klassischen Definitionen des Deutschen sind kosmopolitisch, und sie sind ein wunderbares geistiges Heilmittel gegen jede Form von Nationalismus."
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