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Robert E. Lerner: "Ernst Kantorowicz"
Die vielen Körper des Historikers

Eine bewegte Biografie verlangt nach einem emphatischen Biografen. Zumal, wenn der Nachruhm des Helden ungebrochen anhält. Der amerikanische Mittelalterhistoriker Robert E. Lerner widmet sich erstmals einer Koryphäe seines Fachs: dem Mediävisten Ernst Kantorowicz.

Von Katharina Teutsch |
Buchcover: Robert E. Lerner: „Ernst Kantorowicz. Eine Biographie“
Robert Lerner über das ungehobelte Genie Ernst Kantorowicz (Buchcover: Klett-Cotta Verlag, Hintergrund: dpad)
"Ich habe mich sogar zu einer Testamentsänderung entschlossen, derzufolge meine Asche zusammen mit meinem Lieblingskorkenzieher an meine Nichte Beate in Puerto Rico gesandt wird und sie verpflichtet ist, Löcher in die Kiste mit der Asche zu bohren und sie in der Karibik zu versenken, auf dass sie zukünftig EKaribik heiße."
Hinter dem Etikett EKa verbirgt sich Ernst Kantorowicz, einer der eindrucksvollsten Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Leben liest sich wie ein Husarenritt auf den Wellenkämmen des Jahrhunderts.
Von Freunden ließ er sich insiderisch EKa nennen. Dieser Benennung schließt sich sein Biograf, der Historiker Robert E. Lerner, jetzt an. In seiner ersten umfassenden Auswertung einer schier endlosen Material- und Anekdotensammlung zu diesem Vielschreiber folgt er dem Prinzip der zuneigenden Distanz. Wer in den USA Geschichte unterrichtet, kommt an EKa nicht vorbei. Wer ihn, der 1963 verstarb, aber als akademischen Erben auch auf seine Widersprüche und blinden Flecken hin befragt, der wird mit der Biografie eines außergewöhnlichen Mannes auch sein Jahrhundert portraitieren. In all seinen Nuancen.
"Wie viele andere berühmte Wissenschaftler können mit einem auch nur einigermaßen ähnlich dramatischen Lebensweg aufwarten? Mit einer Entwicklung vom Likörfabrikantensohn zu den Schützengräben von Verdun, vom Kämpfer gegen die bayrische Räterepublik zum Paladin des ‚Meisters‘ Stefan George, vom öffentlichen Widerspruch gegen den Nazismus zur knappen Flucht kurz nach der ‚Reichskristallnacht‘ und schließlich zum universitären Widerstand in der McCarthy-Ära? Wie viele Intellektuelle haben sich dermaßen von rechts nach links bewegt (und nicht umgekehrt)? Wie viele sind annähernd so zitierbar geblieben? Eine Biografie war schlicht unumgänglich."
So schließt dieses glänzend geschriebene Buch. Und Robert E. Lerner fasst damit noch einmal zusammen, was alles in die Nussschale gehört, in die man das Leben des deutschen Juden Ernst Kantorowicz verpacken wollte. Es ist eine Menge. Und so arbeitet sich diese Biografie in chronologischer Folgerichtigkeit durch ein turbulentes Jahrhundert.
Ein apartes Detail dieser an aparten Details nicht armen Darstellung überrascht ganz zu Beginn. Ein Onkel von EKa war wohl der erste Importeur kalifornischer Weine in Europa. Dass EKa den produktivsten Teil seiner wissenschaftlichen Karriere in Berkeley verbracht hat und sich dort mit wachsender Begeisterung den kalifornischen Weinen zuwandte, scheint einen Kreis zu schließen. Natürlich war EKas Ausreise aus Deutschland nicht freiwillig gewesen. Dennoch blieb er auch nach dem Krieg in den USA, fand seinen Platz im üppig ausgestatteten Milieu der Eliteuniversitäten des Landes. Von Berkeley wechselte er Anfang der fünfziger Jahre nach Princeton, wo er auch verstarb. Ohne erkennbaren Todeskampf und einigermaßen überraschend. Seinen "Anti-Ewigkeits-Komplex" hatte er seinen Freunden zuvor mehrfach brieflich auseinandergesetzt. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Ausgerechnet er, der sich beruflich mit religiösen Zeremonien beschäftigt hatte, war strikt gegen ein Begräbnis. Wie sein Biograf uns wissen lässt, hat EKas Nichte wohl Jahre später dem Wunsch ihres Onkels entsprochen und seine Asche in der Karibik verstreut.
Im Krieg gefällt es ihm sehr gut
Doch gehen wir zurück zum Anfang. Nach Posen. Dort lebt der kleine Ernst komfortabel als Spross einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie. Als 1914 der Krieg beginnt, ist es auch für EKa keine Frage, das es jetzt die Ehre des Vaterlandes zu verteidigen gilt. Er meldet sich freiwillig, kämpft an der Westfront, züchtet dabei einen zeit- und milieutypischen Franzosenhass, wird mehrfach verwundet und erhält das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Nach einer Schlacht bei Verdun schreibt er an seine Eltern:
"Was ich bisher für Krieg gehalten hatte, war (dagegen) nur ein kleines Kaisermanöver. Es gefällt mir aber sehr gut."
All das ist nicht weiter überraschend und seine Haltung teilt der junge Kantorowicz mit zahllosen jungen Männern seiner Generation. Für sie war der Krieg eine Sache der Ehre und des jugendlichen Abenteuers. Hinzu passt, dass Kantorowicz als Dolmetscher der 5. Osmanischen Armee an die türkische Front versetzt wurde. Bei allem kommt EKa mit einem blauen Auge davon. Nach dem Krieg richtet er seine politischen Energien gegen die linken Agitatoren in der Hauptstadt, wo er inzwischen wohnt. Sowohl in Berlin als später auch in München war er an der Seite der Freikorps Verbände gegen die Spartakisten vorgegangen. Einem Fakultätskollegen in Berkeley sagte er in den fünfziger Jahren, er habe Kommunisten getötet. Doch er beließ es nicht bei dieser Aussage. Während der sogenannten Loyalitäts-Affaire, bei der EKa als amerikanischer Hochschullehrer den damals von McCarthy geforderten antikommunistischen Eid verweigerte, fügte er mit reifer Erkenntnis hinzu:
"Zweimal habe er freiwillig aktiv die Linksradikalen in Deutschland bekämpft: ‚Mit Gewehr und Pistole‘. Er wisse jedoch auch, dass er – ‚wenn auch indirekt und gegen meine Absicht‘ – durch seinen Einsatz für die ‚weißen Bataillone‘ den Weg bereitet habe, der zum Nationalsozialismus und seiner Machtergreifung geführt habe."
Ab 1919 ist Ernst Kantorowicz an der Universität Heidelberg im Hauptfach Nationalökonomie immatrikuliert. Und gerät hier in den Kreis des Dichterfürsten Stefan George. Zunächst hört er (zusammen mit Joseph Goebbels) Vorlesungen des George-Jüngers Friedrich Gundolf, dessen gerade erschienenes Goethe-Buch Gesprächsstoff der Saison war. Gundolf hatte seinen Namen für George von Gundelfinger in das dem Meister würdiger erscheinende Gundolf geändert. Er hatte das Aussehen eines englischen Romantikers mit Haartolle und Denkerstirn. Seine rhetorischen Fähigkeiten schienen mit seinem verwegenen Äußeren allerdings nicht Schritt zu halten. Kantorowicz berichtet in Briefen von zähen Vorlesungen, bei denen man gegen die bleierne Müdigkeit der Nachmittagszeit anzukämpfen hatte. Wunderbar gelingt Robert E. Lerner über Seiten ein geradezu satirisches Portrait des professoralen Milieus jener Tage. Und obwohl das eher eine Marginalie in EKas Biografie sein dürfte, liest man doch mit Gewinn vom akademischen Reigen in und über Heidelberg hinaus. Man versteht so, wer die Protagonisten des geistigen Heidelberger Lebens waren – einerseits die umfassend gebildeten Altprofessoren, andererseits die jungen Idealisten um Stefan George. Und man begreift, worum intellektuell gerungen wurde und wie der soziale Code jener Tage funktionierte.
Wissenschaftliche Bestseller
"Aus Mangel an Alternativen bat EKa schließlich Eberhard Gothein (1853–1923), seine Doktorarbeit zu betreuen. Gothein war zwar als nahezu omnikompetent anerkannt. Doch EKas zitierte Bemerkung, dessen Vorlesungen machten einem immer ‚ein bisschen Bauchschmerzen‘, passte zum Urteil anderer. So hielt ihn etwa Max Weber, der ihn gut kannte und sein Gedächtnis bewunderte, für ein ‚Rindvieh‘, weil er nichts mit seiner Gelehrsamkeit anzufangen wisse. Böse Zungen in Heidelberg nannten ihn einen Mikrohistoriker – schließlich studierte er nur einen einzigen Planeten. Gundolf hingegen bezeichnete ihn als ‚Heidelberger Spezialist für Universalität‘."
Immer wieder liest man in Robert E. Lerners Buch mit Verwunderung von einer Zeit, in der eine 800seitige Goethe-Monografie es zum Aufreger der Saison brachte. Sie verkaufte sich glänzend und die geistige Welt verehrte Buch und Autor nahezu kultisch. Auch EKa sollte mit seinem berühmten "Friedrich-Buch" über den letzten Stauffer-Kaiser ein wissenschaftlicher Bestseller gelingen, von dem heutige Akademiker nur träumen können. Von der Wichtigkeit einzelner Werke, einzelner Akteure und ihrer Gedanken handelt diese Biografie also über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus durchaus auch.
Entscheidend für Kantorowicz’ geistige Physiognomie ist die Begegnung mit Stefan George. Im Jahr 1920 kam es zu einem regen Austausch, initiiert vom Meister selbst, der in der selben Heidelberger Pension abgestiegen war, in der auch EKa wohnte. Robert E. Lerner vertritt die These, Kantorowicz sei George ab einem bestimmten Punkt durchaus hörig gewesen. Dass er für seinen Meister eigens die Handschrift in eine "George-Schrift" änderte, zeigt Lerner in einer vergleichenden Abbildung. Allerdings will er ebenso entschieden Spekulationen ausräumen, wonach die Beziehung zwischen dem Meister des L’art pour l’art und seinem Jünger sexueller Natur gewesen sein soll. Dafür lassen sich schlicht keinerlei Indizien finden. Allerdings auch nicht dagegen, wie Lerner zugibt. Vielmehr ging es EKa wohl so wie den meisten George-Jüngern. Er fühlte sich von den ästhetischen Visionen des selbst ernannten Nationaldichters angezogen.
"EKa, der für das Kaiserreich, dann gegen die Polen und ‚Roten‘ gekämpft hatte, war Patriot und litt – wie die meisten Deutschen seiner Zeit – unter der allgemein empfundenen nationalen Demütigung im Gefolge des Versailler Vertrags. Wir werden Gelegenheit haben zu sehen, wie bitter er die französische Besetzung des Rheinlands 1922 schmähte. George war der Prophet des Geheimen Deutschland, zu dem Kantorowicz gehören wollte."
Hang zu edlen Zwirnen und Tropfen
Kantorowicz griff die damals schon geläufige Rede von Kreis und Jüngerschaft auf. Tauchte ein neuer Novize im Dunstkreis Georges auf, sprach er davon, dieser sei "angekreist". Hatte er vermutlich keinerlei sexuelle Beziehung zum Dichterfürsten, so lebte Kantorowicz seine homosexuellen Neigungen jetzt ganz selbstbewusst mit dem jungen Adeligen Woldemar von Uxkull, genannt Woldi, aus. In diesen formativen Heidelberger Jahren bilden sich also die großen Vorlieben des späteren Großintellektuellen Ernst Kantorovicz heraus: eine ein Leben lang anhaltende Faszination für aristokratische Lebensformen. Daraus abgeleitet ein Hang zu edlen Zwirnen, teuren Weinen und erlesenen Diners. Ein exzentrisches Sexual- und Beziehungsleben mit Frauen und Männern. Prominente Beziehungen und Freundschaften unterhielt Kantorowicz lebenslang zu Lucy von Wagenheim, genannt "Baby", und zu Marion Gräfin Dönhoff. Außerdem war EKa ein Meister der geistvollen Causerie. Tiefe humanistische Bildung und wache Zeitgenossenschaft waren schon in Heidelberg die beiden Säulen, auf denen der spätere EKa seine Wissenschaft begründete. Das große Friedrich-Buch, in den zwanziger Jahren unter Mitarbeit von Stefan George entstanden, verschaffte EKa den Durchbruch in der akademischen Welt. Robert E. Lerner nimmt diesen Bestseller vor allem ideengeschichtlich in den Blick. Das in Stil und Eigensinn einzigartige Buch, schreibt er, sei eine Fundgrube antiliberaler Gedanken und Begrifflichkeiten.
"Er feiert aristokratische Kultur und preist die Verbindung zweier Ausdrucksformen von Adel –Rittertum und Mönchtum – bei der Gründung des Deutschen Ordens."
Nicht wenige demokratische Leser der Bundesrepublik erkennen in Kantorowicz’ Herrscher-Biografie eine Gesinnung, die der Journalist Gustav Seibt in den 1990er Jahren als "ästhetisch veredelten Faschismus" bezeichnet hatte. Auf der 1993 in Frankfurt abgehaltenen großen Kantorowicz-Konferenz erklärte der Mittelalterhistoriker Otto Gerhard Oexle einigermaßen abgestoßen:
"Ernst Kantorowicz’ ‚Friedrich der Zweite‘ und das darin propagierte Mittelalter war eine Waffe im politischen Kampf gegen die Weimarer Republik. Nimmt man die Intentionen des Autors ernst, so wird man sagen müssen, dass dieses Buch von Kantorowicz uns – so denke ich – nichts mehr zu sagen hat. Und ich füge den Wunsch hinzu: dass in Deutschland auch keine politisch-soziale Gegenwart mehr denkbar sein oder gar wirklich werden möge, der ein Buch dieser Art etwas zu sagen hätte."
Das Friedrich-Buch, das originell in der aus Sagen und Legenden bestehenden Quellenwahl war, neuartig im Thema und mitreißend im Stil, hatte Kantorowicz’ Ruhm gegründet. Viel später in Amerika nach seiner Häutung zum Verteidiger der geistigen Freiheit sollte er sich dezidiert von seinem Frühwerk distanzieren.
Ein Autor entfremdet sich von seinem Buch
"Der Mann, der dieses Buch geschrieben hat, ist vor vielen Jahren gestorben."
... schrieb er in einem Brief. All das ist wichtig, um zu verstehen, welche geistige Entwicklung Kantorowicz genommen hat. Der Georgianische Elitismus, der antirepublikanische Reflex, der Hang zu starken Führerpersönlichkeiten und sein Franzosenhass: All das hätte Kantorowicz zum Hitler-Anhänger machen können. Robert E. Lerner hat genügend Distanz zu seinem Forschungsobjekt, um Kantorowicz’ politische Ambivalenz durch reichhaltiges Dokumentenmaterial auszuleuchten. Aber er macht auch deutlich:
"Mag er auch ein Zauberlehrling gewesen sein und Kaiser Friedrich der Zweite zum ‚faschistischen Klassiker‘ geworden sein: Der Mann, ‚der dieses Buch geschrieben hat‘, war kein Nazi."
1932 wurde der Jude Ernst Kantorowicz Ordinarius für das "nationale" Fach Geschichte. Noch bevor seine Situation in Frankfurt existenzbedrohend wurde, wandte er sich offen ab vom Nazi-Pöbel. Mit seinem neuen Liebhaber, dem englischen Philologen Maurice Bowra, sprach er ironisch konsequent von "Shitler". Mit Parteimitgliedern hatte er nichts zu tun. Seine eher an George als an Hitler geschulten "national gerichteten" Ansichten vertrat er gleichwohl weiterhin. 1938 musste er seinen Lehrstuhl verlassen. Seine Flucht aus Deutschland führte ab Mitte der dreißiger Jahre über Oxford, wo er Bowra kennenlernte, nach Kalifornien. Im Januar 1939 kam er per Schiffspassage in Amerika an. Und begann bald am Berkeley History Department zu unterrichten. Robert E. Lerner zeichnet nun ein ebenso detailreiches wie temperamentvolles Bild der dortigen Intellektuellenszene. Es würde zu weit führen, daraus zu zitieren. Entscheidend ist, dass EKa sich dort sehr bald sehr wohlzufühlen begann, allerlei Beziehung zu Kollegen und Schülern pflegte und sich auch privat in alle Richtungen auszutoben begann. Dieser Glücksrausch der vierziger Jahre wurde nur durch die zu allem quer stehende Nachricht getrübt, dass EKas Mutter die lange angebahnte Flucht aus Deutschland nicht gelungen war. Sie verstarb nach einem spektakulären Absetzungsversuch über die Alpen hoch betagt in Theresienstadt.
Vom Revanchisten zum Freigeist
Ausführlich führt Robert E. Lerner in die Umstände ein, die Kantorowicz dazu brachten trotz seines früheren Kampfes gegen linke Strömungen in Deutschland, den während der Kommunisten-Jagd in den USA von ihm verlangten Loyalitätseid nicht zu leisten. Kantorowicz schrieb dazu im Nachhinein:
"Die Geschichte zeigt, das es sich niemals auszahlt, dem Ansturm momentaner Hysterie zu weichen oder um zeitweiliger oder zeitlicher Vorteile willen die dauerhaften oder ewigen Werte gefährden, deren Größe in keinem Verhältnis zu den angeblichen Vorteilen steht."
An Kantorowicz’ Argumentation wird deutlich, dass hier ein Geschichtswissenschaftler aus der Geschichte gelernt hatte. In den USA entwickelte er sich Augenzeugenberichten zufolge nicht nur zum entschiedenen Deutschland-Kritiker, sondern auch zum glühenden Demokraten, der sich jede Einmischung des Staates in die Neutralität seiner Zunft verbat. Wie Lerner es ausdrückt:
"Vom ‚Deutschtum‘ hatte er sich entfremdet; seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit stand er gleichgültig gegenüber. Dies alles trug dazu bei, dass für EKa die Gelehrtenrepublik zur neuen, alles Persönliche übersteigenden und Loyalität stiftenden Bezugsgröße wurde."
Intellektuelle Frauen waren ihm suspekt
Lerners Biografie ist aus deshalb verdienstvoll, weil er auch zeitgenössische Fragen an seinen Schützling richtet. Indem Kantorowicz jetzt nämlich die Unabhängigkeit der Wissenschaftscommunity zelebrierte, konnten neue Intoleranzen nicht ausbleiben. Ganz in der Tradition des alten George, der 1939 verstorben war, hatte Kantorowicz in Berkeley und später in Princeton eine ergebene Gefolgschaft um sich geschart. Er kümmerte sich wie ein Vater um seine Schützlinge. Aber er konnte ungehalten sein, wenn der akademische Männerbund durch den Einbruch des Privatlebens – ergo durch Familiengründung – bedroht wurde. Robert E. Lerner präsentiert seinen Lesern hier nicht nur einen bisexuellen Freigeist und Querdenker, sondern auch einen teilweise misogynen Alleinherrscher. Intellektuell ambitionierte Frauen, so Lerner, waren Kantorowicz zutiefst zuwider. Frauen waren ihm dann am liebsten, wenn sie hübsch anzuschauen waren, aus schillernden Familien stammten und den geistvollen Smalltalk beherrschten. Zweifellos gefiel es ihm, Frauen anzuschauen, die "Gefallen an ihren schönen Gliedern" fanden, zitiert ihn sein Biograf.
"Im Dezember 1939 schrieb Kantorowicz an Felix Frankfurter, er müsse aufpassen, sich nicht in einen ‚Polygamisten‘ zu entwickeln, eigentlich die ‚einzig mögliche Lösung für den Lehrer vieler extrem gutaussehender und gepflegter Studentinnen‘."
Seinen Studenten nahm er bisweilen persönlich übel, wenn diese heirateten und Kinder in die Welt setzten. Seine Begründung war unmissverständlich:
"Ein Wissenschaftler heiratet nicht. Petrarca hat es nicht getan."
Fünf Jahre nach seinem Wechsel an die Ostküste, nach dem verweigerten Loyalitätseid, erscheint Ernst Kantorowicz’ Meisterwerk, das bis heute Regalmeter an Sekundärliteratur hervorbringende Buch "Die zwei Körper des König". Es handelt von den Ritualen und Darstellungsformen von Macht im Mittelalter und von der Entstehung des modernen Staats. Die darin ausgefaltete These geht auf das England der Tudorzeit zurück. Also ins sechzehnte Jahrhundert. Dort bildete sich unter Kronjuristen die Rechtsvorstellung heraus, dass der König sich in eine profane sterbliche Person und in eine politische unsterbliche Person aufteilte. Kantorowicz meint nun: Die Würde des Königs wird unter den Tudors in ein Corpus politicum überführt. Und von diesem politischen Körper des Königs führe ein direkter Weg hin zum späteren Parlament. Die detailversessene Essayistik dieses großen Geschichtswerks inspiriert sowohl Kulturwissenschaftler als auch Adelsberichterstatter bis heute. Sein Titel ist längst als geflügeltes Wort geworden. "Die zwei Körper des Königs" ist einer der letzten fächerübergreifenden Bestseller der Geschichtswissenschaft.
In seinen letzten Lebensjahren wird EKa noch an unzähligen hochspezialisierten Artikeln arbeiten. Politisch gesehen, wird der Linksruck des Universalgelehrten noch einmal deutlich. In gewohnter Pointensicherheit kommentiert er den Sieg zur zweiten Amtszeit des Republikaners Eisenhower und dessen Vize Richard Nixon.
"Dieser sogenannten ‚General‘ sei eines der ‚dümmsten Produkte des rinderzüchtenden Amerika‘. Im Vergleich mit Eisenhower seien die übrigen Bewohner der USA ‚weise Philosophen‘. Ein Präsident vermöge durch seine bloße Existenz ‚das Niveau seines Landes abzusenken‘, und was erst nach einer Wahl Nixons geschehen möge, könnten höchstens Mathematiker ausrechnen."
Was Kantorowicz wohl zu Donald Trump gesagt hätte? Vielleicht hätte dieser nie um ein Wort Verlegene vor Fassungslosigkeit geschwiegen.
Sein "Anti-Ewigkeitskomplex" machte es Ernst Kantorowicz unmöglich, eine Pilgerstätte in eigener Sache ins Auge zu fassen. Somit ist Robert E. Lerners mit warmherziger Genauigkeit geschriebene Biografie auch ein Ort der Versammlung.
Robert E. Lerner: "Ernst Kantorowicz. Eine Biographie"
aus dem Amerikanischen von Thomas Gruber
Tafelteil mit 25 Abbildungen
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. 554 Seiten, 48 Euro.