Archiv

10 Jahre Hartz IV
"Hartz IV war richtig und wichtig"

Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat im DLF die Arbeitsmarktreformen vor zehn Jahren verteidigt. Diese hätten wesentlich dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland massiv zu senken. Gleichzeitig kritisierte er die deutsche Bildungspolitik massiv.

Wolfgang Clement im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement ist tot.
    Wolfgang Clement ist noch immer überzeugt von seinen Arbeitsmarktreformen. (imago/Lumma Foto)
    Er würde heute nichts Wesentliches anders machen als bei der Einführung der als Hartz IV bekannt gewordenen Reform des Arbeitsmarktes vor zehn Jahren. "Was wir damals gemacht haben, war richtig und wichtig", sagte er. Dies habe sich in der Zwischenzeit erwiesen. Die Reformen hätten zwar nicht allein, aber wesentlich dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. "Wir haben heute mit Österreich die geringste Arbeitslosigkeit in der Eurozone und die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa", so der heutige Vorsitzende der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
    Der frühere SPD-Politiker bestritt, dass die Reformen eine soziale Spaltung in Deutschland ausgelöst oder vertieft hätten: Bei der Einführung habe es viel mehr Arbeitslose gegeben und die Lage sei deutlich dramatischer gewesen. Dass Problem, dass viele Menschen trotz einer Arbeitsstelle ihr Gehalt mit Mitteln der Arbeitsagenturen aufstocken müssten, werde auch durch den Mindestlohn nicht gelöst. Dieser sei "keine Bereicherung".
    "Gravierendes Versagen der Bildungspolitik"
    "Wir müssen verhindern, dass Menschen nachwachsen in Arbeitslosigkeit", sagte er und forderte einen Ausbau der frühkindlichen Bildung, Sprachunterricht von Anfang an, Ganztagsbetreueung in Schulen, kleinere Klassen und eine Berufsvorbereitung mindestens schon drei Jahre vor dem Schulabschluss. Er konstatierte ein "gravierendes Versagen der Bildungspolitik". Dies sei "ein Problem der Länder", sagte Clement. "Die Bildungspolitik ist in den meisten Ländern keineswegs zureichend." Dies werde zunehmend zum Problem, da durch die Technisierung und Globalisierung immer mehr Jobs für Geringqualifizierte vernichtet würden.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Über kaum eine Reform ist so viel debattiert worden wie über Hartz IV, und diese Reform spaltet bis heute: Für die einen ist es der Erfolgsgarant überhaupt für weniger Arbeitslosigkeit und mehr Arbeitsplätze, und für andere ist Hartz IV das Synonym für Armut trotz Arbeit. Wir wollen mit dem Mann reden, der es damals ganz wesentlich politisch durchgesetzt hat, Wolfgang Clement, der ist jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Clement!
    Wolfgang Clement: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Clement, was würden Sie - das wäre meine erste Frage an Sie -, wenn Sie heute noch mal diese Reform machen könnten, würden Sie irgendwas anders machen?
    Clement: Im Wesentlichen nein. Ich glaube, dass das, was wir gemacht haben damals, richtig und wichtig war. Das hat sich ja in der Zwischenzeit erwiesen. Es hat nicht allein, aber wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland inzwischen deutlich heruntergegangen ist und wir die geringste Arbeitslosigkeit mit Österreich zusammen innerhalb der Europäischen Währungsunion haben und die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa.
    "Der Mindestlohn ist ja auch nicht eine Bereicherung"
    Zurheide: Wenn Sie auf der anderen Seite - ich glaube, das ist unbestritten, was Sie da gerade sagen -, wenn Sie auf der anderen Seite allerdings sehen, dass zum Beispiel so was wie ein Mindestlohn, das sagte der aktuelle Parteivorsitzende der Sozialdemokraten, vielleicht zu spät eingeführt worden ist, sagen Sie: Ja, es kann sein, dass Hartz IV dazu beigetragen hat, dass so was wie Armut trotz Arbeit stattgefunden hat und stattfindet?
    Clement: Daran wird der Mindestlohn auch nichts ändern. Der Mindestlohn ist ja auch nicht eine Bereicherung. Es werden sogar trotz Mindestlohn die meisten, die heute sogenannte Aufstocker sind, auch Aufstocker bleiben. Also so einfach ist das Problem nicht zu lösen. Erst mal würde ich den Erfolg nicht beiseite tun. Wir haben um über 40 Prozent die Arbeitslosigkeit in Deutschland gesenkt, von 5,2 Millionen auf heute inzwischen deutlich unter 3 und demnächst noch deutlicher unter 3 Millionen. Wir haben die Langzeitarbeitslosigkeit zurück bekommen, auch um über 40 Prozent bis 2012. Die stagniert heute, das ist eigentlich das Problem, und damit muss man sich beschäftigen, wie kann man diese Lage verändern, weil ja immer weniger Helferjobs zur Verfügung stehen, immer weniger Jobs vor allen Dingen für Geringqualifizierte. Und deshalb muss auf diesen Feldern etwas geschehen, und das kann wahrscheinlich nur durch Bildungspolitik geschehen und Qualifikationspolitik und nicht durch klassische Arbeitsmarktpolitik.
    Zurheide: Ich will noch mal die Kritik aufnehmen, weil wir uns da natürlich ein Stück dran abarbeiten. Die sagt: Die Spaltung der Gesellschaft oder die Differenzierung der Gesellschaft - oben verdienen einige immer mehr, unten weniger - das hat für Sie wenig mit Hartz IV zu tun oder ist die ganze Analyse falsch?
    Clement: Das hat überhaupt nichts mit Hartz IV zu tun. Damals hatten wir 5,2 Millionen Arbeitslose, da war die Lage viel schlechter als heute. Die Zahlen gehen auch heute im Moment ja gar nicht auseinander, sondern wir haben heute Lohnsteigerungen, die die Schere nicht weiter auseinandergehen lassen. Wir sind dort natürlich nicht in einer idealen Lage, das ist keine Gesellschaft, aber wir sind in einer - im Vergleich, im internationalen Vergleich - gar nicht so schlechten Lage. Ich will aber gar nicht wegreden, dass wir ein Problem haben mit Langzeitarbeitslosigkeit. Das sind eine Million Menschen. Das ist das eigentliche Problem. Aber meine These ist: Dieses Problem werden Sie nicht überwinden, wenn Sie beispielsweise mit Mindestlohn arbeiten. Ich halte gar nichts davon, dass der Gesetzgeber in die Lohnfindung eingreift, das war bisher ein klassischer [unverständlich, Anm. d. Red.] dass er das nicht tun sollte, sondern indem wir verhindern, dass immer noch Menschen nachwachsen in die Arbeitslosigkeit und dann auch in die Langzeitarbeitslosigkeit. Wir haben 40.000 junge Leute, die immer noch ohne jeden Schulabschluss ins Leben gehen. Wir haben immer noch 12, 13 Prozent von Jugendlichen, die ohne jede Berufsausbildung bleiben. Da liegen die Probleme. Und das heißt: Unsere Bildungspolitik ist nicht gut. Sie ist in der frühkindlichen Bildung schlecht und sie ist auch immer noch nicht ausreichend beim Übergang von der Schule ins Berufsleben. Deshalb haben wir auch viele Studienabbrecher und Ausbildungsabbrecher et cetera. Da liegen Probleme, da beginnt die Arbeitslosigkeit, und in den schlechtesten Fällen auch noch die Langzeitarbeitslosigkeit.
    "Gravierendes Versagen der Bildungspolitik"
    Zurheide: Jetzt hört man natürlich schon lange, dass Bildungspolitik der eigentliche Schlüssel für diese Republik ist. Auch Sie haben das als Ministerpräsident versucht. Das heißt, eigentlich müssen wir dann heute feststellen, da haben wir viel zu wenig geschafft, oder?
    Clement: Ja, sicher. Wir sind auf dem Gebiet, auch im internationalen Vergleich, nicht gut genug. Wir schaffen heute die Kitas, das ist ja schon etwas, aber frühkindliche Bildung - da setzen wir übrigens am wenigsten Geld ein im Bereich der Bildungspolitik - frühkindliche Bildung, das heißt vor allen Dingen Sprachunterricht, Erziehung und Bildung von Anfang an und verpflichtender Sprachunterricht et cetera, das heißt Ganztagsbetreuung in den Schulen, das heißt kleinere Klassen, keine größer als 20 Kinder, das heißt Berufsvorbereitung spätestens drei Jahre vor Schulschluss - das sind so Dinge, die wir machen müssen. Und da ist ein gravierendes Versagen der Bildungspolitik und das muss man deutlich sagen. Das ist auch unser Problem, das ist ein Problem der Länder im Wesentlichen. Wir diskutieren immer über die Arbeitsmarktpolitik, die in Berlin und dann auch noch in Brüssel, aber das eigentliche Problem beginnt in unseren Ländern, wo die Bildungspolitik in der überwiegenden Zahl der Länder jedenfalls keineswegs zureichend ist.
    Zurheide: Also Bildungspolitik als eine der wesentlichen Anforderungen. Ich will noch mal ein anderes Stichwort bringen, was die Gewerkschaften ja stark in den letzten Jahren in den Vordergrund gestellt haben, das Stichwort gute Arbeit, also Arbeit ist wichtig, aber Arbeit muss auch eine bestimmte Qualität haben - geht da Wolfgang Clement mit oder ist das falsch?
    Clement: Ja, die sollte die haben, aber ich kann sie nicht schaffen. Der Staat kann sie nicht schaffen. Der Staat kann Anreize schaffen. Aber wir haben eine enorme technische Entwicklung und dazu noch die Globalisierung, und die vernichtet bei uns die einfachen Jobs, die beseitigt bei uns die Helferjobs, die werden teils durch Technik - denken Sie an Digitalisierung bis in die Altenpflege hinein - verändert, die Arbeitsprozesse dort, aber vor allen Dingen auch im industriellen Sektor, und das wird immer kräftiger werden. Das heißt, wir werden immer weniger Jobs für Helfer haben, immer weniger Jobs für Geringqualifizierte. Da beißt keine Maus den Faden durch. Und deshalb hängt es wieder beim Thema Qualifizierung, mit dem ich das überwinden kann. Das geht ja um Chancengleichheit. Wir reden ja oft über Gerechtigkeit, ja, die Gerechtigkeit beginnt in der frühkindlichen Bildung - da haben wir die Mängel.
    Zurheide: Das war ein vehementes Plädoyer von Wolfgang Clement nach der Hartz-IV-Reform für eine neue Bildungsreform. Herr Clement, ich bedanke mich heute Morgen für dieses Gespräch, danke schön!
    Clement: Ich danke auch! Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.