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100. Geburtstag von Leonardo Sciascia
Das literarische Gewissen Siziliens

Mitunter klagte der sizilianische Autor Leonardo Sciascia über die "schmerzhafte Sizilianität" seiner Heimat. Mit "Der Tag der Eule" analysierte er die Mafia literarisch und ging später nach Palermo und Rom in die Politik. Am 8. Januar 2021 wäre Sciascia 100 Jahre alt geworden.

Von Maike Albath | 08.01.2021
    Ein Farbfoto zeigt einen Mann reiferen Alters in grauer Strickjacke mit Stock und Zigarette jeweils in in einer Hand in einem dörflich anmutenden Kontext vor einer Steinmauer
    Undatierte Aufnahme des sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia (picture alliance / LEEMAGE/MAXPPP | Maxppp)
    "Sciascia war nicht mondän. Er war ein Mann vom Land, seine Ausbildung war die eines Volksschullehrers. Aber er besaß diese unglaubliche Intelligenz und verwandelte Dorfklatsch in eine Tiefenbohrung," so Marco Carapezza, Professor für Sprachphilosophie in Palermo, über den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia, einem unermüdlichen Deuter seiner Insel.
    "Mit Sigmund Freud könnte man sagen: Sizilien bewegt sich auf der Ebene des Es. Wenn es auf die Ebene des Ichs vordringen würde, wäre das besser."

    Eine moralische Institution

    In Sizilien habe es nie eine Aufklärung gegeben, klagte Sciascia, weshalb das Irrationale überwiege. Seit den 1960er-Jahren zählte der kleine dünne Mann zu den wichtigsten Stimmen des Landes. Und er war eine moralische Institution, sagt Marco Carapezza.
    "Sciascia kam jeden Sonntag zu uns. Er sprach sehr wenig, und fast gar nicht, wenn jemand Fremdes dabei war. Nur wenn man ihn gut kannte, begann er zu reden. Er hat immer gesagt: ‚Bei mir ist es wie bei den Hunden: Mir fehlen die Worte‘."

    Von der Schwefelgrube in den Literatur-Olymp

    Leonardo Sciascia wurde am 8. Januar 1921 in Racalmuto, einem kleinen Ort im Landesinneren Siziliens, geboren. Sein Großvater war Analphabet, konnte sich aber in einer Schwefelgrube hocharbeiten, und so gelang der Familie der soziale Aufstieg. Leonardo Sciascia wurde Lehrer, doch seine große Leidenschaft war die Literatur. 1950 publizierte er erste Texte, und 1956 erschien seine Dorfchronik "Die Pfarrgemeinden von Regalpetra", die in ganz Italien auf große Resonanz stieß.

    "Man hat dem Anwalt seine Ziegen gestohlen. Sein Schäfer hatte sie an einen Baum gebunden, und schon waren sie verschwunden. Der Anwalt sprach in der Stadt mit jemandem darüber. Der sagte: ‚Warum wenden Sie sich nicht an Gaspare Lo Pinto?‘ Der Anwalt erwiderte: ‚Aber ich war bei den Carabinieri.‘ Und der andere: ‚Gaspare ist in solchen Fällen besser als die Carabinieri'."

    "Die schmerzhafte Sizilianität"

    "Er liebte es zu sagen", so Marco Carapezza, "dass in seinem ersten Buch alles steckte, was er später immer wieder erzählen würde." Die schmerzhafte ‚Sizilianität‘ zum Beispiel:
    "Sciascia zeigt, wie sich die Verwaltung des Ortes formiert, als die Amerikaner Sizilien erobern. Die Christdemokraten nehmen die Faschisten in ihren Reihen auf, also gibt es eine Kontinuität zwischen beiden Systemen. Und auch die Sozialisten und Kommunisten sind mitverantwortlich und arrangieren sich. Diese Art der informellen Absprache wird Sciascia sein Leben lang anprangern."
    "Gehen Sie zu Gaspare und sagen Sie ihm, Sie seien bereit, 25.000 oder 50.000 Lire zu bezahlen. Und dann werden Sie mir sagen, ob die Ziegen nicht wiederauftauchen."

    Sciascia übernahm politische Verantwortung in Palermo und Rom

    1961 veröffentlichte Leonardo Sciascia mit enormem Erfolg den Krimi "Der Tag der Eule", in dem er das Phänomen der Mafia, deren Existenz von der Regionalregierung bestritten wurde, analysiert. Dann traten historische Stoffe in den Vordergrund, die aber einen universellen Wert gewannen. Zu seinem ethischen Verständnis des Schriftstellerberufes gehörte auch, dass Sciascia politische Verantwortung übernahm. 1977 trat er als Parteiloser in den Stadtrat von Palermo ein, zwei Jahre später wurde er als Abgeordneter ins italienische Parlament gewählt. Er gehörte dem Untersuchungsausschuss an, der sich mit der bis heute nicht endgültig geklärten Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden befasste.
    In seinen Wortmeldungen weist er auf Mängel hin: "Herr Ministerpräsident, Ihr Kollege, der Justizminister, sagte, die Mafia sei ein physiologisches Problem. Ich denke, Sie sollten sie als etwas Pathologisches betrachten. Der Minister muss sich wie ein Arzt für Innere Medizin dazu verhalten."
    Eine Frau hält ein Modell einer Waffe (Silhouette).
    Literaturpreis für einen Mafiakiller
    Darf ein verurteilter Mafiakiller einen Literaturpreis erhalten? In Italien braust seit der Vergabe des Preises "Premio Sciascia" ein Sturm der Entrüstung über die Jury hinweg. Vor ein paar Tagen wurde der Roman "Malerba" ausgezeichnet. Dessen Autor, Giuseppe Grassonelli, sitzt lebenslang in Haft – er ist ehemaliger Mafioso.
    1986 schätzte Leonardo Sciascia tragischerweise den Maxiprozess, das größte bis dahin angestrengte Verfahren gegen die organisierte Kriminalität mit 475 Angeklagten, falsch ein und bezweifelte den Sinn des Unterfangens. Seiner Bedeutung als Schriftsteller tut dies keinen Abbruch – dass die Literatur der Wahrheit oft näher rückt, bleibt seine große Erkenntnis, die er bis zu seinem Tod 1989 vehement vertrat.(*)
    (*) Der letzte Satz wurde etwas gekürzt