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125. Geburtstag Joseph Roths
Werk und Schicksal eines Heimatlosen

Das Elend des kleinen Mannes, des Heimatlosen, vom Krieg Gezeichneten, das schwere Los der Ostjuden, das zerfallende Habsburger Reich - das ist der Figuren- und Themenkosmos des großen galizischen Romanciers Joseph Roth. Zu seinem 125. Geburtstag erscheinen zwei Neuausgaben.

Von Angela Gutzeit | 02.09.2019
2 Buchcover zu Neuerscheinungen von Joseph Roth
Zum 125. Geburtstag Joseph Roths sind zwei Romane in Neuauflagen erschienen (Buchcover von Wallstein Verlag und Faber & Faber Verlag)
Er war "ein großer Romancier, ein wunderbarer Feuilletonist, ein trinkender Filou, ein Lügenbaron à la Münchhausen, ein Humanist und politischer Träumer" und bis zu seinem Tod "ein Heimatloser". Wilhelm von Sternburg hat Joseph Roth auf diese originell-facettenreiche Weise charakterisiert. Und in der Tat: Roth war ein Legendenerzähler, was sein Leben betrifft. Aber die Verwerfungen seiner Zeit gab er mit einem klaren und unbestechlichen Blick wieder – ironisch, nicht selten böse, oft jedoch auch mit einem wehmütigen Unterton. In Roths Romanwerk ähneln sich die Figuren und Schauplätze, wobei sie Grunderfahrungen seines eigenen Lebens wiederspiegeln. Die prägendste war für diesen galizischen Juden aus Brody der Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des habsburgischen Reiches. In einer persönlichen Bemerkung zum Vorabdruck seines Romans "Radetzkymarsch" schrieb er:
"Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt, und ich liebe heute, da es verdorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen."
Das Elend der Kriegskrüppel
Die geschichtlichen Abläufe vor und nach 1918 bedeuteten für Millionen Menschen Vertreibung, Versehrtheit, Tod. Nicht zuletzt die galizischen Juden mussten nach ihrer Flucht vor der zaristischen Armee eine neue Heimat finden. Roth war zwar freiwilliger Kriegsteilnehmer gewesen, aber die Folgen hatten ihn für den Rest seines Lebens gezeichnet. Der Schriftsteller, der zunächst in Lemberg und Wien lebte, dann in Berlin Karriere machte, zeigte sich in seiner frühen Phase als genauer Chronist des Nachkriegselends. Er kannte das Leben in den Hinterhöfen Berlins, die Gesichter der vom Krieg Versehrten. Die Figur des Gescheiterten und Gestrandeten sollte so auch zu der wohl auffälligsten Konstante in Roths Romanen werden. Sie tritt in verschiedenen Varianten auf. Aber - ob es sich um die Figur des vom Schicksal geprügelten Juden Hiob handelt oder um den adligen Leutnant von Trotta im "Radetzkymarsch" - immer sind diese Roth'schen Figuren den jeweiligen Verhältnissen nicht gewachsen.
Im Roman "Die Rebellion", erstmals 1924 im Berliner Verlag "Die Schmiede" veröffentlicht, nun bei Wallstein in einer Neuausgabe erschienen, ist es der einbeinige Kriegsheimkehrer Andreas Pum, für den sich die Nachkriegssituation in seiner Heimatstadt Berlin zunächst zum Guten zu wenden scheint. Der Invalide erhält eine Lizenz für das Drehorgelspiel, was er als besondere Auszeichnung wertet und ihm das Gefühl verleiht, im Gegensatz zu anderen Versehrten und Leidenden auf der richtigen Seite zu stehen.
"Nur Andreas Pum war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten. Sie waren arm- und beinlos. Oder sie mussten immer im Bett liegen, weil ihr Rückenmark kaputt war. Andreas Pum freute sich, wenn er die anderen leiden sah. Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. (…) Ein Invalider durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeichneter Invalider auf die der Regierung. Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt, wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig."
Ein begnadeter Feuilletonist
Diese grenzenlos naive Weltsicht kann nur zerstört werden. Und so geschieht es auch. Andreas Pum mag zunächst sein Glück kaum fassen. Sein Drehorgelspiel in den Hinterhöfen verschafft ihm ein bescheidenes Einkommen, und schließlich gewinnt er damit auch noch die Zuneigung der drallen Witwe Katharina Blumich. Blumich heiratet Pum und kauft ihm einen Esel als Zugtier für den Leierkasten. Auf dem Höhepunkt des Glücks erfolgt der Absturz. Eine unglückliche Verkettung lässt Pum in eine tätliche Auseinandersetzung geraten. In völliger Verkennung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse landet der Invalide im Gefängnis. Nicht nur die Witwe Blumich lässt ihn fallen, auch sein Glaube an Gott und die weltliche Obrigkeit geht in die Brüche.
Es ist einfach grandios, wie Roth seine Figuren in diesem Nachkriegsberlin zeichnet. Er zeigt die einen in ihrem nackten Elend, die anderen in ihrer bürgerlichen Selbstgefälligkeit, wobei ihnen gleichermaßen eine gewisse Verschlagenheit eigen ist, wenn es die Umstände erfordern. Nur bleibt für den Autor in dieser frühen Zeit seines Schaffens, die man auch als seine sozialistische Phase bezeichnet, unumstößlich: Die Zeche zahlen letztendlich immer die Kleinen.
Die Neuausgabe des Romans "Die Rebellion" bei Wallstein hat der Germanist und Schriftsteller Ralph Schock besorgt und dem Text eine Auswahl von Roths Feuilletons aus der Zeit zwischen 1919 und 1924 hinzugefügt, die damals in den wichtigsten Zeitungen seiner Zeit erschienen sind. So wird deutlich, wie stark bei Roth Literarisches und Feuilletonistisches ineinandergreift. Beide Genres gleichermaßen zeigen Roth als Sprachkünstler, dessen Texte eine intensive atmosphärische Dichte aufweisen. In der Wiener-Arbeiterzeitung war am 7. November 1923 unter der Überschrift "In der Region des Hungers" dieser Text von Roth zu lesen:
"Die Elendsstraßen im Berliner Norden – der Hunger im sächsischen Industrierevier – der tägliche, blutige Kampf um ein Stück Brot, um ein Pfund Kartoffeln in all den Städten Mittel- und Norddeutschlands, dessen Zeuge ich in den letzten Wochen so oft war… Ich dachte, das hätte mich gehörig abstumpfen lassen müssen gegen die Schrecknisse der Not, die ich an der Ruhr und am Rhein nun schaudernd mitansehen muss. Doch diese eintönige, graue Symphonie des Elends hat Steigerungen, wie sie die Phantasie keines Menschen ersinnen kann – vor der grausamen Wirklichkeit dieser Bilder erscheinen die aufrüttelndsten Schilderungen schal und nichtig."
Grundlage der Edition des Romans "Die Rebellion" ist das handschriftliche Manuskript Roths aus dem Nachlass, der im Marbacher Literaturarchiv lagert. Ein sorgfältig mit Kommentaren und Anmerkungen ausgestatteter Band liegt nun vor, der, wie Ralph Schock in seinem Nachwort schreibt, die beklagenswerte "massive Fehlerhäufung" und "Schlamperei" der sechsbändigen Roth-Werkausgabe aus den Jahren 1989/1991 bei Kiepenheuer & Witsch ausbügelt. Im Nachwort beruft sich Schock auf die Korrekturen, die der Manesse-Verlag bereits 2010 bei der Neuausgabe des Romans "Radetzkymarsch" vornehmen musste, und führt selbst Beispiele an.
Im Herzen ein Habsburger Monarchist
Mit "Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht" liegt nun bei Faber & Faber noch ein weiterer Roman Joseph Roths in neuer Aufmachung vor, ediert nach der Erstausgabe aus dem Jahr 1936 im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange. Erschienen ist dieser Roman aus dem Spätwerk Roths in der Reihe "Weltliteratur in illustrierten Ausgaben". Der Verlag verzichtet bei dieser Reihe auf Kommentare und Anmerkungen und lässt nach eigener Aussage Text und beigefügte Illustrationen für sich sprechen. In diesem Fall sind es die sehr gelungenen Farbzeichnungen von Klaus Waschk, die an die Werke von George Grosz und Otto Dix erinnern.
Als dieser Roman 1936 erschien, befand sich Joseph Roth bereits seit drei Jahren im Pariser Exil. Schon gleich nach Hitlers Machtübernahme prophezeite er in einem Brief an seinen Freund Stefan Zweig, der ihn wie viele andere Schriftstellerkollegen finanziell unterstützte, die heraufziehende Katastrophe. Trotz seines steigenden und mehr und mehr zerstörerischen Alkoholkonsums gelingen Roth in dieser Spätphase noch einmal großartige Romane und Novellen, die insofern an das frühere Werk anknüpfen, als auch hier die Figur des Gescheiterten im Mittelpunkt steht, umspielt von dieser graziösen, süffisanten Ironie, die dem Roth'schen Stil eigen ist. Aber es gibt auch einen spürbaren Unterschied: Zum einen wird in Roths Romanen die alte Habsburger-Monarchie zunehmend idealisiert, zum Beispiel in den Romanen "Radetzkymarsch" und "Die Kapuzinergruft". Zum anderen erhält die Ausweglosigkeit, in die Roths Romanhelden geraten, einen überpersönlichen und geradezu religiös-existentiellen Zug. Sie erscheint damit nicht nur als Ergebnis individueller Beschränktheit. Das Scheitern von Roths Figuren ist in dieser Spätphase einem offensichtlich ewigen Kreislauf von Unterwerfung und Herrschaft geschuldet.
Im Roman "Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht" tritt zudem eine übernatürliche, diabolische Figur hinzu in Gestalt des aufgeputzten Jenö Lakatos, der die Schwächen des Ich-Erzählers Semjon Golubtschik geschickt ausnutzt.
"Wir gingen also, der Herr Lakatos und ich. Erst als wir längere Zeit kreuz und quer durch die Straßen gegangen waren, bemerkte ich auf einmal, dass mein Begleiter hinkte. Er hinkte nur leicht, es war kaum zu sehen, es war eigentlich kein Hinken, sondern eher, als zeichnete der linke Fuß eine kleine Schleife, ein Ornament, auf das Pflaster. Niemals seither habe ich solch ein graziöses Hinken gesehn, es war kein Gebrechen, eher eine Vollkommenheit, ein Kunststück – und gerade diese Tatsache erschreckte mich sehr. Ich war damals, müsst ihr wissen, ungläubig und außerdem auch noch unermesslich stolz auf meine Ungläubigkeit. Es schien mir, daß ich sehr gescheit sei, weil ich, trotz meinen jungen Jahren, bereits zu wissen glaubte, dass der Himmel aus blauer Luft bestehe und keine Engel und keinen Gott enthalte."
Hellsichtige Zeitdiagnose
Obwohl er sich selbst permanent anklagt, durchschaut dieser Golubtschik die Erbärmlichkeit seiner Lebensgeschichte letztendlich nicht. Blindwütig wegen verschmähter Liebe und verweigerter Anerkennung als Adelssohn verdingt er sich als Spitzel der russischen Geheimpolizei und wird in mehrfacher Hinsicht schuldig. Ein düsteres Szenario, das einen Charakter zeigt, der den Suggestionen von Mächten verfällt, denen er nicht widerstehen kann. Was Konstruktion und Logik der verschlungenen Handlung betrifft, ist das vielleicht nicht Roths überzeugendstes Werk. Aber wenn man will, kann man darin eine hellsichtige Zeitdiagnose erkennen, die von Blindheit und Schuldigwerden in Zeiten des Despotismus erzählt.
Joseph Roth soll als jüdischer Flüchtling in Paris tagein, tagaus im Café Tournon gesessen haben. Hier hatte er seinen letzten Arbeitsplatz, hier traf er Freunde, zumeist deutschsprachige Autoren wie Ernst Toller, Franz Werfel und Stefan Zweig. Vom Alkohol kam dieser begnadete Erzähler aus dem galizischen Brody, dieser österreichisch-ungarische Weltbürger, schon lange nicht mehr los. 1939 schrieb er seinen letzten Prosatext "Die Legende vom heiligen Trinker", der erst postum veröffentlicht wurde. Darin heißt es:
"Man brachte unsern armen Andreas in die Sakristei, und der kann leider nichts mehr reden, er macht nur eine Bewegung, als wollte er in die linke Rocktasche greifen, wo das Geld, das er der kleinen Gläubigerin schuldig ist, liegt, und er sagt: ‚Fräulein Therese!' – und tut seinen letzten Seufzer und stirbt.- Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten Tod und schönen Tod."
Joseph Roth starb am 27. Mai 1939 – nicht in einer Sakristei, wie in diesem Text, sondern in einem Hospital, wo er sich selbst überlassen blieb. Sein Tod war weder leicht noch schön. Drei Monate später begann der Zweite Weltkrieg.
Joseph Roth: "Die Rebellion"
Nach dem Manuskript ediert und mit einem Nachwort von Ralph Schock
Wallstein Verlag, Göttingen. 280 Seiten, 24 Euro.
Joseph Roth: "Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht"
Mit 50 farbigen Illustrationen von Klaus Waschk
Verlag Faber & Faber, Leipzig. 176 Seiten, 36 Euro.