Dienstag, 07. Mai 2024

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150. Todestag von Michael Thonet
Praktische Möbel für das bürgerliche Publikum

Michael Thonets revolutionäre Erfindung der Bugholzmöbel war so erfolgreich, dass die millionenfach produzierten Stühle aus gebogenem Holz heute kaum noch auffallen. Vor 150 Jahren ist der Schreinermeister aus Boppard am Rhein in Wien gestorben.

Von Jochen Stöckmann | 03.03.2021
    Im Deutschen Stuhlbaumuseum im sächsischen Rabenau stehen am Donnerstag (03.12.2009) historische Musterstühle im Maßstab 1:5 auf einem Thonet-Stuhl. Die Exponate gehören zur Sonderausstellung "Bugholz - Revolution im Stuhlbau", die noch bis Februar 2010 das von Michael Thonet entwickelte Biegen von Holz erläutert. Das Museum zeigt in seiner Dauerausstellung Werkzeuge, Produkte und Muster aus der 400 jährigen Geschichte der Stuhlherstellung vor den Toren Dresdens. Rabenau gilt als älteste Stuhlbauerstadt Deutschlands. Foto: Matthias Hiekel
    Mit seinen Bugholzmöbeln revolutionierte der Möbeltischler Michael Thonet den Stuhlbau (dpa-Zentralbild)
    "Mein lieber Thonet, in Boppard werden Sie immer ein armer Mann bleiben. Gehen Sie nach Wien! Ich will Sie dort bei Hofe empfehlen. Die Fahrt soll Sie nichts kosten. Sie können mit meinem Kabinettskurier reisen."
    Fürst Klemens von Metternich, seit dem Wiener Kongress der mächtigste Mann Europas, sorgt sich im Herbst 1841 um das Schicksal eines Schreinermeisters. Michael Thonet ist dem österreichischen Außenminister beim Besuch einer Gewerbeausstellung in Koblenz aufgefallen. 1796 im benachbarten Boppard geboren, konnte er sich eine Werkstatt mit einem Dutzend Gesellen aufbauen. Nun aber steht der Mittvierziger vor dem Bankrott.
    Ein Schwarzweiß-Foto, mutmaßlich entstanden um  1870, zeigt den Möbeltischler Michael Buchholz Michael Thonet - mit langem, weißen Voll- und Schnauzbart erinnert er an Karl Marx
    Der Möbeltischler und Bugholz-Erfinder Michael Thonet um 1870 (picture-alliance / dpa | Thonet)
    Um seine neuartigen Bugholzmöbel auch im Ausland anzubieten, musste der Erfinder Kredite aufnehmen. Denn in Frankreich, Belgien und England sind hohe Gebühren fällig für Thonets Patent: "Jede, auch selbst die sprödeste Gattung Holz auf chemisch-mechanischem Wege in beliebige Formen und Schweifungen zu biegen."

    Thonets Bugholz-Möbel: leichter, stabiler, billiger

    Dünne Holzlagen werden in siedendem Wasser erhitzt, extrem gebogen und in mehreren Schichten übereinander verleimt. Dadurch sind Bugholz-Produkte leichter, stabiler und billiger als konventionelle, aus Massivholz geschreinerte Stücke. Fürst Metternich lässt sich drei Muster vorführen: Sessel, Spazierstock und hölzernes Wagenrad.
    Aus Wien berichtet Thonet der daheim gebliebenen Familie: "Es machte dem Fürsten eine außerordentliche Freude, er schaukelte sich auf dem Sessel hin und her."
    Größten Gefallen findet Metternich am "Thonetschen Wagenrad". Leicht und zugleich äußerst solide konstruiert, das wäre ideal für Geschützlafetten. Der Außenminister denkt an sein Militär – und vergisst darüber, Thonets Möbel bei Hofe oder in Adelskreisen zu empfehlen.

    Durchbruch mit dem Wiener Kaffeehaus Daum

    Für den Neuankömmling aus dem Rheinland ist das eine bittere Erfahrung. Doch nach einigen harten Jahren holt der Schreinermeister seine fünf Söhne nach Wien, eröffnet ein Möbelgeschäft und erhält endlich den ersehnten Großauftrag:
    "Daum’s Kaffeehaus haben wir einzurichten von Mahagoni, nämlich 4 Dutzend Sessel, 20 Banketten rings um die Wände, 16 Tische, 1 Kredenzkasten und einige Etagèren. Unser Geschäft vergrößert sich von Tag zu Tag. Nach Triest haben wir wieder eine große Bestellung, die Arbeit wird uns jetzt hoffentlich nicht mehr ausgehen."

    Stuhlbeine, Sitzfläche und Lehne aus einem einzigen Holzstück

    Mit einem Musterstuhl aus dem Café Daum reist Thonet 1851 zur Weltausstellung in London – und kehrt mit prall gefülltem Auftragsbuch zurück. Beim Handel mit Südamerika aber zeigt sich ein gravierendes Problem: In tropischer Feuchtigkeit gehen die gebogenen Schichthölzer aus dem Leim. Über Monate experimentieren die Thonets. Schließlich können sie 1856 das Patent für das Biegen von Massivholz beantragen.
    Mit dieser entscheidenden Erfindung ist ihre Firma in der Lage, Stuhlbeine, Sitzfläche und Lehne aus einem einzigen Holzstück zu fertigen. Diese Einzelteile lassen sich ohne großen Aufwand transportieren und werden an Ort und Stelle zusammengeschraubt.
    Im Messekatalog heißt es: "Mit vollkommener Dauerhaftigkeit und Eleganz ist eine ausnehmende Leichtigkeit gegeben sowie eine angenehme Elastizität bei verhältnismäßig sehr geringem Holzaufwand."
    Während einer Aufführung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" verschwindet die Schauspielerin Belinda Belmont spurlos.
    Ein Stuhl für die Ewigkeit
    Der Wiener Kaffeehausstuhl von Michael Thonet gilt als der Stuhl der Stühle: leicht, stabil, elegant, Handwerk und Industrieprodukt zugleich.
    Im reduzierten Biedermeier-Design, ohne überbordendes Dekor oder historisierende Stilelemente, produziert Thonet praktische Möbel für das bürgerliche Publikum. So erschließt der verhinderte Hoflieferant den Weltmarkt. Stets um neue Geschäftsideen und Verbesserung der Arbeitsabläufe bemüht, legt er nicht einmal während der kurzen Mahlzeiten im Kreis seiner Familie den Bleistift aus der Hand.
    Als Michael Thonet am 3. März 1871 in Wien stirbt, verfügt seine Firma über vier große Fabriken. Exklusive Filialen in Budapest, Berlin, Amsterdam, Paris und London bürgen für das Renommee der Marke. Und den Ritterschlag erhält der Schreinermeister aus Boppard posthum, als der Architekt Le Corbusier 1925 auf der Pariser Kunstgewerbeausstellung die Möbel der Zukunft präsentiert:
    "Wir haben den schlichten Thonetstuhl aus gebogenem Holz ausgewählt, der zweifellos der gewöhnlichste und billigste Stuhl ist. Und wir glauben, dass dieser Stuhl, der in Millionen von Exemplaren auf dem europäischen Festland und in beiden Amerika in Gebrauch ist, Adel besitzt."