Die Hamburger Neustadt. Mittagszeit, die Sonne scheint. An den Tischen vor den Cafés und Restaurants ist kaum noch ein Platz frei. Die Hamburger machen Mittagspause. Was sie dabei nicht mehr sehen können, ist die Synagoge, die sich genau hier befunden hat.
"Wir stehen also Alter Steinweg, Ecke Erste Brunnenstraße. Und da soll dieses Tanzhaus, was dann zum ersten Tempel umgewidmet wurde, gestanden haben. Aber das war natürlich - denke ich mal - eher so ein leicht anrüchiges Etablissement", sagt Wolfgang Georgy.
Hamburg statt Jerusalem
Georgy ist im Vorstand der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg. Vor 200 Jahren, im Dezember 1817, gründet sich hier der Neue Israelitische Tempelverein. Eine der Geburtsstunden des Liberalen Judentums. Ein Jahr später richtet der Verein in dem alten Tanzhaus seine erste Synagoge ein, die er Tempel nennt.
"Man wollte jetzt nicht mehr, wie das also die Orthodoxie seit Jahrhunderten getan hat, hoffen auf die Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem. Sondern man hat gesagt: 'Wo meine Heimat ist, ist auch mein Tempel.' Und so passte das eigentlich ganz gut in die Zeit."
Wolfgang Georgy spaziert weiter. Nach ungefähr zwei Minuten bleibt er stehen. Denn in unmittelbarer Nachbarschaft zum liberalen Tempel befand sich vor 200 Jahren eine orthodoxe Synagoge. Doch auch hier ist nichts Jüdisches mehr zu sehen.
"Warum brauchst Du denn zwei Synagogen?"
"Hier stand die orthodoxe Kohlhöfen-Synagoge. Sie kennen ja den alten Witz: Auf einer einsamen Insel findet man einen Juden, der hat sich eine ganze Stadt aufgebaut - unter anderem zwei Synagogen. Und da sagt einer: 'Warum brauchst Du denn zwei Synagogen? Du brauchst doch nur eine.' 'Ja, das stimmt', sagt er. 'Die eine, da gehe ich hin, und die andere würde ich nie betreten'."
So dürfte auch in der Hamburger Neustadt eine Konkurrenz bestanden haben zwischen orthodoxen und liberalen Juden. Es änderte wohl auch nichts, dass die liberale Gemeinde ihren Tempel im alten Tanzsaal bald wieder aufgab. Rund 25 Jahre nach ihrer Gründung zieht die Gemeinde ein paar Straßen weiter. Im Hinterhof von Wohnhäusern baut die sie sich einen neuen Tempel.
"Wir sind jetzt hier in einer Autowerkstatt, die unmittelbar auf dem Gelände des zweiten Tempels in der Poolstraße sich befindet", sagt Georgy. "Und wir stehen jetzt im Grunde unmittelbar vor dem heiligen Schrein, wo die Tora-Rollen aufbewahrt wurden. Man sieht noch Reste davon. Aber es ist natürlich etwas deprimierend, wie der Zustand heute aussieht."
Der Tempel verfällt
Eine rote Backsteinwand, vielleicht zehn Meter hoch. Die Fenster sind kaputt und vergittert. Aus einigen Fugen wachsen Pflanzen, kleine Bäume erobern die Mauer. Das war die Innenwand des zweiten Tempels. Auch ein Teil der Frontfassade steht noch. Das Hauptschiff wurde im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört. Das Dach gibt es nicht mehr. Wo früher der Rabbiner aus der Tora gelesen haben mag, rangiert gerade ein Mechaniker ein Auto, bei dem eine Stoßstange fehlt. Fast 90 Jahre hat die liberale jüdische Gemeinde ihren zweiten Hamburger Tempel genutzt.
"Bis 1931 man dann in die besseren Vorstädte gezogen ist, also nach Harvestehude. Und den Tempel in der Oberstraße, der heute auch noch steht und äußerlich völlig erhalten ist, den bezogen hat."
Aus ihrem dritten Hamburger Tempel werden die liberalen Juden aber schon sieben Jahre später gewaltsam vertrieben - von den Nationalsozialisten in der Pogromnacht 1938. Der ehemalige Tempel gehört heute dem Norddeutschen Rundfunk. Innen ist das Gebäude komplett umgebaut, zu Tonstudios und einem Konzertsaal.
"Bürgerrechte auch für Juden"
Die Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg hat heute keinen Tempel mehr, auch keine Synagoge. Im Gegensatz zur deutlich größeren Jüdischen Gemeinde Hamburg. Die hat mehrere Gebäude und einen orthodoxen Rabbiner.
Die Büros der kleineren liberalen Gemeinde liegen zentral in der Hamburger Innenstadt. Bescheidene Räume über schicken Mode- und Caféketten. Wolfgang Georgy bittet in die Küche. Auf einem kleinen Zettel hat er sich Notizen gemacht zur Geschichte des liberalen Judentums in der Hansestadt:
"Vorausgegangen ist natürlich die Französische Revolution mit Auswirkungen bis nach Deutschland rein. Sie wissen, dass das Königreich Westphalen von einem Bruder von Napoleon regiert wurde. Und der hat allen Leuten Religionsfreiheit gewährt und gleiche Bürgerrechte. Auch den Juden."
"Die älteste Reformgemeinde der Welt"
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehen an verschiedenen Orten in Deutschland liberale jüdische Ideen. Im kleinen Seesen am Harz, im großen Berlin - und schnell auch in Hamburg.
"Wir sind im Grunde die älteste noch lebende Reformgemeinde der Welt", sagt Wolfgang Georgy. Die Reformen des liberalen Judentums zeigten sich vor allem im Gottesdienst:
"Es war neu, dass die deutsche Sprache Einzug hielt. Es war neu, dass die Musik eine größere Rolle spielte. Und es war neu in theologischer Hinsicht, dass man sehr stark das Gebetbuch gekürzt hat. Da hatte sich ja über Jahrhunderte einiges angesammelt, was dann zu stundenlangen Gottesdiensten führte."
"Wir suchen jetzt noch eine Synagoge"
Außerdem wurden Frauen in den liberalen Gemeinden nach und nach gleichberechtigt. Wolfgang Georgy holt eine Broschüre aus der Tasche. Mit ihr wirbt die Gemeinde für sich. Darin steht: 'Aus Hamburg in alle Welt'. Das liberale Judentum ist heute weltweit verbreitet, vor allem in den USA. In Hamburg gibt es die liberale Gemeinde wieder seit 2004.
"Wir haben einen Friedhof eingeweiht im letzten Oktober. Wir haben einen Rabbiner seit Februar 2015. Und wir suchen jetzt noch eine Synagoge."