Es ist der 4. November 1995: Tausende Israelis haben sich im Zentrum von Tel Aviv versammelt. Es ist die größte Friedensdemonstration, die das Land bisher erlebt hat. Auf der Bühne stehen Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Außenminister Shimon Peres, sie blicken auf ein Meer von weißen Plakaten und Spruchbändern: "Shalom achschav" steht darauf – "Frieden jetzt!".
Sichtlich bewegt spricht Rabin zu der jubelnden Menge: Danke, dass ihr gekommen seid, ruft er den Demonstranten zu, um gemeinsam mit uns gegen die Gewalt und für den Frieden zu demonstrieren.
Friedensabkommen nach zweijährigen Verhandlungen
Nur zwei Jahre zuvor hatten er und Palästinenserführer Jassir Arafat das Osloer Friedensabkommen unterzeichnet. Der Frieden im Nahen Osten - so glauben damals viele - schien so greifbar wie noch nie. Mitten in der Menge steht auch Eliana Idov: "Wir waren alle so glücklich, da war irgendwie so eine Hoffnung, dass es was wird."
Die inzwischen 70-Jährige betreibt heute einen Buchladen direkt an dem Platz, der damals noch "Platz der Könige" hieß. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern war sie zu der Friedensdemonstration gegangen. Wenn sie sich heute daran erinnert, wird sie nachdenklich:
"Wir dachten, es werden vielleicht so tausend Leute kommen, wir haben alle gehofft, dass mehr Leute kommen. Soviel ich mich erinnere, war Rabin auch sehr skeptisch, so eine Demonstration zu machen, ob sich das lohnt. Aber dann kamen Hunderttausende, das war wirklich eine Euphorie!"
Rabin wurde ermordet
Auf dem Platz sind die Menschen beseelt von der Hoffnung auf eine neue Zeit. Gemeinsam singen sie die Hymne der Friedensbewegung. Eliana und ihr Mann bleiben nicht bis zum Ende. Wegen der Kinder müssen sie früher nach Hause, erzählt sie; auf dem Heimweg gehen sie am Hintereingang der Bühne vorbei:
"Und es sitzen da die Polizisten und ich sage noch zu meinem Mann: Guck mal, wie die da rumsitzen und quatschen und nichts machen. Was soll das? Wir sind nach Hause und ein Freund hat uns angerufen und gesagt: Rabin wurde ermordet!"
Kurze Zeit später vermelden auch die Nachrichten: Rabin ist tot.
Stimmung im Land war aufgeheizt
Ein Mann hatte sich an den Sicherheitsbeamten vorbeigeschlichen. Als Rabin die Bühne verlässt und zu seinem Auto gehen will, schießt er ihm in den Rücken. Kurze Zeit später verstirbt der 73-jährige Politiker im Krankenhaus. Der Täter: Jigal Amir, ein strenggläubiger Jude.
"Ein Israeli? Noch ein Frommer? Das kam sofort durch, dass er fromm ist. Man wusste es, man hat ihn gesehen. Das war wirklich ein Schock", sagt Eliana Idov.
Überraschend kam das nicht. Die Stimmung im Land war aufgeheizt gewesen. Immer wieder hatte es in den Monaten zuvor wütende Proteste gegen Rabin und seine Friedenspolitik gegeben.
Oslo galt als Hoffnung auf Frieden
Dabei hatte alles so hoffnungsvoll angefangen: Es ist der 13. September 1993 – ein Bild geht um die Welt: Im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington reichen sich Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Palästinenserführer Jassir Arafat die Hände. Rabin sagt damals: "Wir, die wir Euch Palästinenser bekämpft haben, sagen euch heute mit klaren Worten: Es wurden genug Blut und Tränen vergossen, es ist genug!"
Kein Friedensvertrag, aber eine Erklärung von Absichten und Prinzipien ist das Osloer Abkommen, das damals besiegelt wurde: Darin verpflichten sich die Palästinenser, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und die Gewalt einzustellen. Israel seinerseits soll die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes akzeptieren und sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, wo die Palästinenser eine Selbstverwaltung aufbauen.
Am Ende sollen zwei eigenständige Staaten stehen, das war die Vision.
Auch Natan Sznaider wollte allzu gerne an Frieden im Nahen Osten glauben. Der in Deutschland geborene Soziologe war Anfang der 1990er Jahre nach Israel gekommen: "Ich bin zurückgekommen in diesen Prozess hinein, sozusagen. Und ich hatte wirklich dieses Gefühl: Mein Gott, dieser Konflikt ist vorbei. Das wird ein neuer Naher Osten, ein neues Land. In den Monaten davor habe ich langsam verstanden, dass das ein Friedensprozess der Eliten war, der auf beiden Seiten von einem Großteil der Bevölkerung nicht mitgetragen worden ist."
Heute ist er Professor für Soziologie in Tel Aviv. Auch er war am 4. November bei der Friedensdemonstration dabei. Und so sehr er sich auch persönlich einen Frieden wünschte - an dem Abkommen hatte er seine Zweifel. Der Anschlag auf Rabin überraschte ihn nicht:
"Ich war natürlich schockiert, aber gleichzeitig habe ich mir immer überlegt, das war ja wirklich, die Osloer Verträge – das hat man ja inzwischen vergessen - die wurden von 50 Prozent plus eine Stimme mitgetragen. Mit den Stimmen der arabischen Abgeordneten, die gerade im rechten Milieu nicht als legitime Stimmen gelten, um sagen wir mal das ,Land unserer Väter‘ aufzugeben. Man hatte ein mulmiges Gefühl, dass das Land in eine bürgerkriegsähnliche Situation kommt."
Unterstützung für Friedensprozess sinkt
Gegen das Osloer Abkommen gibt es auf beiden Seiten wütende Proteste: Bei den Palästinensern ist von Ausverkauf die Rede, von faulen Kompromissen und der Kapitulation vor dem Feind. Auf israelischer Seite protestieren Siedler, Nationalreligiöse und rechte Politiker. Es herrscht eine Stimmung von Hass und Gewalt:
Im Februar 1994 stürmt der jüdische Siedler Baruch Goldstein die Abrahams-Moschee in Hebron und schießt wahllos auf die dort betenden Muslime. Er tötet 29 Menschen.
Am 19. Oktober 1994 sprengt sich ein Mitglied der Hamas in einem Bus im Zentrum von Tel Aviv in die Luft und reißt 22 Menschen mit sich in den Tod.
Beide Seiten wiegeln sich gegenseitig auf, immer mehr Menschen sterben. In der Bevölkerung sinkt die Unterstützung für den Friedensprozess, erinnert sich Natan Szaider: "Für viele Israelis in der Zeit war die Raison d’Être der Verhandlungen, dass der Terror aufhört. Dass man keine Angst mehr haben muss, im Café zu sitzen, im Bus zu sitzen. Dass man nicht mehr das Gefühl hat, dass es gefährlich ist, auf die Straße zu gehen. Aber als der Terror nicht nur nicht aufhörte, sondern stärker wurde in der Zeit, dann fragte man sich: Wozu das Ganze?"
Im Herbst 1995 werden auf einer Demonstration in Jerusalem Rabin-Puppen verbrannt, Plakate zeigen den Ministerpräsidenten in SS-Uniform: Im Staat der Holocaust-Überlebenden ist das die maximale Schmähung.
Rabins Frau Leah, die im Jahr 2000 verstarb, erinnert sich in einer Fernsehdokumentation: "Er hat alles getan, um das absolut zu ignorieren. Manchmal habe ich ihn gefragt: Wie kannst du das aushalten, dass die hier vor deinem Haus stehen und schreien? Dann hat er gesagt: Die werden dafür bezahlt. Wegen der Hetze seine Politik zu ändern, kam für ihn überhaupt nicht in Frage."
Netanjahu führt Proteste an
Ein Abgeordneter der konservativen Likud-Partei stellt sich an die Spitze der Protest-Bewegung: Benjamin Netanjahu. "Die Israelis wollen richtigen Frieden, das bedeutet Sicherheit und einen Partner, auf den sie sich verlassen können. Daran glauben die Menschen hier nicht, das ist kein richtiger Frieden, sondern ein vorgetäuschter", so Benjamin Netanjahu damals.
Einer beschließt, nicht nur gegen Rabins Politik zu protestieren. Der damals 25-jährige Jura-Student Jigal Amir. Der streng gläubige Jude ist überzeugt: Rabin nimmt den Juden das Land weg, das Gott bereits Mose und seinem Volk versprochen hat. Und er lässt zu, dass Juden getötet werden. Rechtfertigt das das Todesurteil des Politikers? Amir sucht Rat in der Heiligen Schrift und bei Rabbinern. Nach dem Mord wird er im Gerichtssaal sagen:
Ein palästinensischer Staat wäre eine Katastrophe, die Israelis denken, das würde sie retten, sagt Amir, umringt von Fotografen und Kamerateams. Rabin habe das Leben von Juden den Palästinensern geopfert. Auf die Frage eines Journalisten, ob er wieder so handeln würde, antwortet er: "Ja. Natürlich."
Nach dem Mord an Rabin legt sich eine Schockstarre über das Land. Zur Trauerfeier reisen Staatsmänner aus der ganzen Welt an. Auch US-Präsident Bill Clinton, der zwei Jahre zuvor das Osloer Friedensabkommen vermittelt hatte:
"Ein halbes Jahrhundert hat Rabin sein Leben für die Verteidigung seines Landes eingesetzt, jetzt hat er es geopfert, weil er sich für einen dauerhaften Frieden einsetzte.... Jitzchak Rabin war mein Partner und mein Freund, ich bewunderte ihn und ich verliere einen geliebten Menschen. Mir bleibt nur zu sagen: Lebewohl, mein Freund!"
"Schalom Chaver - Lebe wohl, mein Freund." Die Abschiedsworte Clintons werden danach zum geflügelten Wort in Israel. Die Musikerlegende Arik Einstein greift sie auf in seinem Song: Eine Hommage an Rabin und ein Abschied von einem Mann und seinen Visionen für sein Land.
Mit dem Thema Sicherheit Wahlen gewinnen
Mit Rabin stirbt auch die Hoffnung auf Frieden im Land. Rabins Nachfolger Schimon Peres vermag die Stimmung nicht mehr zu drehen. Ein halbes Jahr später, im Mai 1996, gewinnt Benjamin Netanjahu die Parlamentsahlen und wird erstmals Ministerpräsident.
Zeitgleich nimmt die Gewalt zu. Israel weitet den Bau von jüdischen Siedlungen im Westjordanland aus. Im Jahr 2000 bricht die Zweite Intifada aus, palästinensische Selbstmordattentäter reißen in den Folgejahren hunderte von Menschen mit sich in den Tod. Fast wöchentlich gehen Busse in die Luft.
Seither lassen sich in Israel mit dem Thema Sicherheit Wahlen gewinnen und niemand hat davon so sehr profitiert wie Benjamin Netanjahu, sagt der Soziologe Szaider: "Der radikale Rechtsruck in der israelischen Politik und Gesellschaft hat mit diesen Terroranschlägen begonnen. Das war auch der Beginn der politischen Karriere von Netanjahu, der nach jedem Terroranschlag sofort dabei war und sagte: Wir haben es immer schon gewusst, wir haben keinen Partner und so weiter. Und auch die Menschen sind von dieser Zeit geprägt. Da ist etwas gekippt."
Warum ist das, was so hoffnungsvoll mit einem Handschlag zwischen Erzfeinden in Washington begann, gescheitert? Die Antwort darauf ist nicht einfach: "Die Idee von Oslo war die einer vertrauensbildenden Maßnahme über mehrere Jahre hinweg", erklärt Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
"Was sich aber gezeigt hat, dass in dieser Übergangsphase der Prozess anfällig für die Feinde des Oslo-Abkommens ist. Es gab auf beiden Seiten starke Gegner der Idee einer Kompromisslösung, einer Teilung in ein palästinensisches und ein israelisches Gebiet und diese Gegner gewannen während dieser Übergangsphase von 5 Jahren Auftrieb."
Das bisschen Vertrauen, das mühsam mit dem Osloer Abkommen aufgebaut worden war, wird untergraben. Und die wichtigsten Streitpunkte wurden außen vorgelassen; das sei ein Fehler gewesen, ist Lintl heute überzeugt:
"Die großen Punkte, die noch unklar waren zwischen den Parteien: Was geschieht mit den Siedlungen? Was wäre eine mögliche Grenzziehung für einen palästinensischen und einen israelischen Staat? Dürfen die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren? Kann man Jerusalem teilen oder nicht? Diese wurden ausgeklammert auf eine Zeit nach Oslo und schwebten damit quasi immer über den Dingen und die Gegner konnten sie instrumentalisieren und sagen: Das wollen wir alles nicht!"
Israel schließt Abkommen mit VAE und Bahrain
25 Jahre und zahlreiche Verhandlungsrunden, Friedensinitiativen, eine Intifada und mehrere Gaza-Kriege später gibt es weder einen unabhängigen palästinensischen Staat, noch ist ein Ende der Besetzung absehbar. Im Gegenteil. Mit jedem Tag scheint die Wahrscheinlichkeit einer Staatsgründung Palästinas geringer zu werden.
2017 erkannte US-Präsident Donald Trump Jerusalem offiziell als Israels Hauptstadt an – und kassierte damit eine der strittigsten Fragen im Nahost-Konflikt einfach ein.
Heute müssen die Palästinenser enttäuscht mitansehen, wie Israel ein Abkommen nach dem anderen in der Region schließt: Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain; aktuell laufen Gespräche mit dem Sudan: Die Jahrzehnte lang beschworene panarabische Solidarität bröckelt.
Seit der Machtergreifung der radikalislamischen Hamas 2007 im Gazastreifen sprechen die Palästinenser allerdings auch nicht mehr mit einer Stimme. Raketenbeschüsse aus Gaza sind seither in Israel Alltag.
Und der fortschreitende Siedlungsbau im Westjordanland macht einen zusammenhängenden palästinensischen Staat mittlerweile schwer vorstellbar.
Wäre alles anders gekommen, wenn Rabin damals nicht ermordet worden wäre? Der Soziologe Natan Sznaider bezweifelt das: "Ich glaube, er wäre bei den nächsten Wahlen nicht mehr wiedergewählt worden, Netanjahu hätte die Wahl gewonnen und wir wären an der gleichen Stelle, wie wir heute sind. Das sah man auch an den Umfragen: Man brauchte ihn gar nicht zu ermorden. Er wäre wahrscheinlich abgewählt worden."
War der Mord an Rabin also ein Wendepunkt in der israelischen Geschichte? Natan Sznaider: "Es war das Ende dieser Illusion von der Zwei-Staaten-Lösung, die heute wirklich vom Tisch ist. Die ist gar nicht mehr diskutierbar, die wird zwar von der EU und von den Demokraten in den USA noch als Formel benutzt, aber das ist gelaufen."
Bis heute versammeln sich viele Israelis Anfang November zu einem Gedenken auf dem Platz der Könige in Tel Aviv, der heute Jitzchak-Rabin-Platz heißt. Denn auch wenn Rabins Friedensplan nie umgesetzt wurde: Die Menschen trauern um die verlorene Hoffnung und um einen Mann, den es so in der israelischen Politik seitdem nicht mehr gegeben hat.
"Was er ausgestrahlt hat, war, dass er sehr ehrlich war", sagt Eliana Idov, deren Buchladen direkt an dem Ort liegt, wo sich alles vor 25 Jahren ereignete. "Für mich und für meine Freunde war das eine Zeit der Hoffnung."
Dabei war Jitzchak Rabin kein Pazifist gewesen: Seine Karriere hatte er als Soldat im Unabhängigkeitskrieg begonnen, er gilt als einer der ruhmreichen Helden des Sechstagekrieges im Juni 1967, als Ministerpräsident sei Rabin dann zu der Überzeugung gelangt, dass allein Frieden die beste Sicherheitsgarantie für Israel ist, sagt der Wissenschaftler Peter Lintl:
"Rabin hatte die Glaubwürdigkeit, er galt eigentlich als ,harter Hund‘ im Militär und deswegen haben auch viele Israelis ihm geglaubt, dass, wenn er einen Frieden schließen will, auch für die Sicherheit des Staates Israel garantieren kann und dass der Frieden dann möglich wäre."
Ein Mann wie Rabin fehlt heute: Das ist auch die Diagnose des Soziologen Natan Sznaider: Jemand, der mutige Entscheidungen trifft und sein Volk davon überzeugen kann, sich auf Zugeständnisse und Risiken einzulassen, ohne die ein Frieden nicht möglich ist.
"Es war etwas in seiner ruhigen Haltung. Und die Autorität, die er mitgetragen hatte, die ja Rechten so störte. Also, er ist ja nicht zufällig ermordet worden. Er ist ermordet worden, weil er diese Autorität innehatte", so Sznaider.
Im Jackett von Jitzchak Rabin fand man später einen blutverschmierten Zettel mit dem Text der israelischen Friedenshymne. Noch Minuten vor seinem Tod hatte er sie euphorisch mitgesungen.