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30 Jahre Mauerfall
Sehnsuchtsort Brocken

Der Brocken lag für Westdeutsche jahrzehntelang unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Aber auch DDR-Bürger durften den Gipfel mit seinen Spionageanlagen nicht betreten. Der Dlf-Landeskorrespondent erinnert sich mit seiner Tante an die erste Wanderung auf den Brocken, im Dezember 1989.

Von Dietrich Mohaupt |
Besucher auf dem Brocken-Gipfel bei tiefstehender Sonne über dem Gipfel-Plateau des Berges
Für Wanderer vor der Wende unerreichbar - Gipfelplateau des Brockens im Harz (picture alliance / Klaus-Dieter Gabbert)
Es ist ein herrlicher Sommertag Ende August - gemeinsam mit meiner Tante fahre ich in den Harz. An der B4, etwa auf halber Strecke zwischen Bad Harzburg und Braunlage, liegt auf rund 800 Metern Höhe die Siedlung Torfhaus. Von einem großen Parkplatz öffnet sich ein herrlicher Ausblick, bis zum Brocken. Meine Tante genießt die phantastische Fernsicht.
"Wir haben keinerlei Dunst in der Atmosphäre, der Himmel ist blau und es gibt keine hohe Luftfeuchtigkeit. Und dadurch wirkt der Brocken markanter - und näher, als er wohl in Wirklichkeit ist."
Knapp sechs Kilometer Luftlinie sind es eigentlich - an diesem Tag scheint es aber, als könne man den Brocken anfassen. Für mich ist das ein vertrauter Anblick, schon als Kind war ich mit meiner Tante oft im Harz unterwegs, und ich kann mich gut erinnern, dass sie immer ein bisschen wehmütig zum Brocken hinübergeschaut hat.
"Ich habe als Kind ja noch den Brocken frei erlebt, bin aber nie oben gewesen, weil ich noch zu klein war. Als wir dann erwachsen waren, wurde der Brocken für uns der unbesteigbare Berg. Nicht weil er zu hoch ist, sondern weil er unerreichbar jenseits der DDR-Grenze war - wir nannten sie ja damals immer Zonengrenze."
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende (imago images / Winfried Rothermel)
Brocken - für Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang
Jahrzehntelang lag der Brocken außer Reichweite hinter dem Eisernen Vorhang. Doch dann kam der 9. November 1989 mit der Maueröffnung in Berlin - und kurz darauf auch die Öffnung von Grenzübergangsstellen im ganzen Land. Das erste Ausflugsziel in der DDR, das meine Tante ansteuern wollte, war - na klar - der Brocken. Ein paar Wochen musste sie sich damals aber noch gedulden. In ihrer kleinen Ferienwohnung in Braunlage blättern wir gemeinsam in Fotoalben voller Erinnerungen an diese Zeit. In einem finden wir sogar noch die Anmeldekarte für die erste geführte Brockenwanderung.
"Ich konnte es vor Neugier fast nicht mehr erwarten, habe mich bei der Braunlager Kurverwaltung angemeldet - und fand mich am 30.12.89 an der Kurverwaltung ein, mit Rucksackverpflegung."
Fotoaufnahme der Anmeldung für die Tageswanderung auf den Brocken vom 30.12.1989 aus dem Privatarchiv von Dietlind Koch 
Fotoaufnahme der Anmeldung für die Tageswanderung auf den Brocken vom 30.12.1989 (Deutschlandfunk / Dietlind Koch)
Zu Fuß ging es morgens um 9 Uhr in Braunlage los über die Grenzübergangsstelle bei der Ortschaft Elend zunächst nach Schierke. Über dem Ort hingen damals übelriechende Dunstschwaden.
"Alle Schierker Häuser wurden mit Braunkohle beheizt - und das stank abscheulich. Nun kamen wir ja aber am Brocken immer weiter bergauf, und vielleicht so in etwa in Höhe des Winterbergs, da durchbrach dann die Sonne die Dunstdecke, die in dem Tal lag - und von da an war nur noch Sonnenschein. Das war herrlich!"
Der Aufstieg im Sonnenschein, die vielen Wanderer, von denen einige schon wieder vom Brocken herabkamen - es herrschte eine ganz besondere Stimmung an diesem Tag Ende Dezember 1989.
"Es hat oben auf dem Brocken vor lauter Freude Umarmungen gegeben. Jeder, der oben war, war begeistert und schwankte zwischen Jubel und ganz stiller Freude!"
Mit leuchtenden Augen blättert meine Tante weiter in dem Fotoalbum.
"Wo sind denn die Bilder ..., hier: am Brockentor! Wir durften also durch das Brockentor hineingehen auf die Brockenkuppe."
Aufnahme von einer Brockenwanderung mit dem Brockentor von Dezember 1989 aus dem Fotoalbum von Dietlind Koch 
Aus Dietlind Kochs Fotoalbum: Aufnahme vom Brockentor aus dem Dezember 1989 (Dietlind Koch / Deutschlandfunk)
Nur - viel zu sehen gab es von dort oben nicht. Die hohe Mauer, die damals noch als Schutzwall für die sowjetischen Spionage- und Abhöranlagen einmal rund um die Brockenkuppe reichte, versperrte den Blick auf die umliegenden Orte und Gipfel.
"Mir hat ein Mit-Wanderer geholfen, der hat mich hochgehoben, damit ich über die Brockenmauer mal hinweggucken konnte - und dann sah ich Wernigerode unten liegen, auf der anderen Seite die Torfhausanlage, zum ersten Mal aus dieser Perspektive. Das war ein Erlebnis, das - obwohl ich oft wieder auf dem Brocken war - aber natürlich nie getoppt worden ist!"
Mit der Schmalspurbahn auf den Gipfel
Während meine Tante so von ihrer ersten Brockenwanderung vor sich hin schwärmt, scheint ihr irgendetwas aufzufallen. Ganz unvermittelt fragt sie mich, wann ich eigentlich das erste Mal auf dem Brocken war - und ich muss ganz kleinlaut eingestehen, dass ich das noch nicht geschafft habe. Warum nicht? Ganz ehrlich: keine Ahnung!
"Dietrich - lass uns das doch mal machen, wir fahren mal rauf."
Mit der Schmalspurbahn auf den Brocken - 30 Jahre nach Grenzöffnung gibt es für mich offenbar keine Ausreden mehr. Und wer wird schon seiner 85-jährigen Tante widersprechen, wenn sie so eine Einladung ausspricht?
"Ich lade ihn ein, und dann fahren wir gemeinsam mit der Brockenbahn auf den Brocken. Denn er ist der einzige aus meiner Familie, der noch nicht oben war. Und das kann ich gar nicht gut durchhalten!"