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50 Jahre Woodstock
Love, Peace and Profit

2019 jährt sich das Woodstock-Festival zum 50. Mal. Das legendäre Hippie-Event fand im beschaulichen Bethel statt - und schlug doch weltweit Wellen. Wie es von einer Annonce im "Wall Street Journal" zu drei Tagen radikal friedlicher Gegenkultur kam, erklärt der fiktive Zeitzeuge und Zausel Opa Langhaar.

Von Ulrich Biermann |
Ein Pärchen beim Woodstock Festival am 15. August 1969.
Das Woodstock-Festival gilt noch heute als einer der bedeutendsten Momente der Musikgeschichte (imago/TBM/United Archives)
Opa Langhaar erklärt die Jugendkultur:
Joah man, yeah man. Hello! Es war einmal eine Zeit, da waren die Röcke kurz, die Haare lang und Bärte wurden noch nicht gegroomt. Musik wurde handgemacht und ein Album dauerte 45 Minuten - maximal und wenn man die Platte schnell umdrehte. Der Westen war gut und Schimpfworte wurden gemeinsam gelernt und verständlich erklärt:
Gimme an F (F!)
Gimme a U (U!)
Gimme a C (C!)
Gimme a K (K!)
What's that spell? (Fuck!)
What's that spell? (Fuck!)
What's that spell? (Fuck!)
What's that spell? (Fuck!)
(Country Joe McDonald)
Vier Aussteiger und eine Viertelmillion Dollar
Ja, damals wankte das Establishment, selbst der Kapitalismus war nicht mehr nur böse. Stellt euch vor:
"Junger Mann mit unbegrenztem Kapital sucht legitime Investitionsmöglichkeiten und Geschäftsideen. - Chiffre B-331"
So fing das an, eine Anzeige im "Wall Street Journal". Junge Investoren suchen arglos nach Gewinn. John Roberts und Joel Rosenman, zwei New Yorker Sakko-Träger, die kannten sich vom Golfen, haben auch zusammen gewohnt. Roberts hatte gerade eine Viertelmillion Dollar geerbt, Rosenman arbeitete in einer Anwaltskanzlei und spielte Gitarre in ’ner Band. Beide wollten ’ne kreative Pause, was anderes machen und Geld verdienen. Und das Ergebnis ihrer Anzeige: In New York werden sie Teilhaber in einem Tonstudio.
Da sind sie dann in Kontakt gekommen mit Michael Lang und Artie Kornfeld. Die wollten auch ein Studio eröffnen - in Woodstock. Aber die hatten kein Geld. Michael Lang, das war ein kleiner Dealer, lange Haare. Hat ’ne unbekannte Rockband gemanaged - Artie Kornfeld hatte es schon zu was gebracht, Songs geschrieben, Erfolg gehabt und war Manager bei einer Plattenfirma. Die beiden wollten auch aussteigen, träumten von Aufnahmen mit bekannten Bands.
Der Musiker und Woodstock-Organisator Artie Kornfeld im Juli 2009
Artie Kornfeld war einer der vier Organisatoren des legendären Woodstock-Festivals (imago stock&people / Gary Coronado)
Also: Zwei Aussteigerpaare, die einen hip, die anderen mit dicken Portemonnaies. Die einen kennen sich in der Szene aus, die anderen mit Finanzen und Marketing. Roberts und Rosenman waren von der Studio-Idee nicht so begeistert, aber ein Konzert, ein großes Konzert, das wäre doch was? Kornfeld und Lang haben da gezögert, aber mitgemacht haben sie dann doch. Weil, ein Festival, das klang nach Geld machen, Gewinn. Und von dem Gewinn wollten sie dann vielleicht doch noch ein Studio eröffnen. So fing das an, die haben Woodstock Ventures gegründet, ’ne Firma. Jeder hatte ein Viertel und dann haben sie alles geplant.
Ein Sehnsuchtsort auf dem Land
Woodstock, hier lebt The Band, hier lebt gegen Ende der 1960er Bob Dylan mit seiner Familie und fühlt sich wohl, das hat er in seinen Chronicles geschrieben:
"Anfangs war Woodstock sehr gastfreundlich zu uns gewesen. Ich hatte die Gegend schon lange Zeit vor unserem Umzug entdeckt. Einmal hatte ich nachts auf der Heimfahrt nach einem Auftritt in Syracuse meinem Manager von der Stadt erzählt. Sie lag direkt am Weg. Er sagte, er sei auf der Suche nach einem Landhaus. Wir fuhren durch die Stadt, er sah ein Haus, das ihm gefiel, und erwarb es auf der Stelle. Später kaufte ich mir auch eins, und das war das Haus, das bald darauf Tag und Nacht belagert wurde. Fast sofort eskalierte der Ärger, und um den Frieden war es geschehen. Das Haus war einmal ein stilles Refugium gewesen, aber damit war es jetzt vorbei.

In allen fünfzig Bundesstaaten mussten Wegbeschreibungen ausgehängt worden sein, die ganze Scharen von Aussteigern und Junkies darüber informierten, wie man zu uns fand. Selbst aus Kalifornien pilgerten die Schnorrer herbei. Die ganze Nacht über brachen schräge Vögel bei uns ein. Zuerst waren es nur die heimatlosen Nomaden, die sich ungebeten Zutritt verschafften. Das war ja noch fast harmlos, aber dann kamen die radikalen Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung – unzurechnungsfähig aussehende Gestalten, potthässliche Mädchen, Vogelscheuchen und Vagabunden, die einen draufmachen und die Küche plündern wollten.

Peter LaFarge, ein befreundeter Folksänger, hatte mir zwei einschüssige Colt-Pistolen überlassen, und ich besaß auch ein Winchester-Gewehr mit Magazin, eine wahre Donnerbüchse, aber ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was man damit anrichten konnte. […] Diese ungebetenen Gäste, Gruselgestalten, Eindringlinge und Aufwiegler waren ebenso Gift für mein Familienleben wie die Tatsache, dass ich sie nicht beleidigen und verjagen durfte, weil sie mich dann anzeigen konnten. Tag und Nacht gab es Probleme ohne Ende. Alles lief falsch, es war eine absurde Welt. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Und auch Freunde und Vertraute waren keine Hilfe."
"Die beste Show der Geschichte"
Idyllisches Landleben, das war ein Pilgerort der Gegenkultur: Woodstock. Das kennt ihr schon, ist ja schon tausende Male erzählt worden. Hab ich alles auf Tonband und Kassette:
"Woodstock / 3 days of peace and music / Es war wunderschön / 32 Bands / Eine Anhäufung von wichtigen Rockgruppen und Stars ihrer Zeit / Joan Baez / Jefferson Airplane / Country Joe and the Fish / Arlo Guthrie / Joe Cocker / Janis Joplin und Grateful Dead / Crosby, Stills, Nash mit ihrem neuen Kumpel, einem gewissen Neil Young / Jimi Hendrix / 400 000 Menschen versammelt / Wow / Die drittgrößte Stadt des Staates New York / Zelte, Bretterbuden, Autos, Schlafsacklager / Urmutter aller Festivals / Das Woodstock-Amerika verhöhnte das Vietnamkriegs-Amerika / Woodstock war die beste Show der Geschichte / Sonne, Regen und Sturm / Ein Mythos der Rockgeschichte / Es war doch das totale Chaos, oder? Was da abging war unbegreiflich. Krankenbahren, kotzende Leute und Horrortrip. Ganz Amerika war durchgeknallt. Wenn das die Welt war, in der diese Hippies leben wollten, dann konnten sie mich am Arsch lecken / Das erste multimediale Großereignis der Rockgeschichte / Woodstock"
"I'm going down to Yasgur's farm"
Woodstock. Woodstock, Woodstock, Woodstock ist doch gar nicht wichtig: Zuerst sollte es da ja sein, aber die Lokalpolitik spielte nicht mit, sagte erst zu und dann ab. War ihnen zu gefährlich. Langhaarige, Drogen, Rocker, Hippies - nicht bei uns. Das Festival war 80 Kilometer weit weg, in Bethel. Bethel hieß der Ort. Genauer: Ein Heufeld des Farmers Max Yasgur war’s - hat er gutes Geld für gekriegt.
Blick auf die zahlreichen Besucher des legendären Woodstock-Festivals.
Auf Max Yasgurs Farm fand das Festival ein Zuhause (picture alliance/dpa/upi)
Der hätte reich werden können nach Woodstock. Windige Geschäftemacher haben ihm vorgeschlagen: Bring doch "Milk from Yasgur Cows" auf den Markt, oder Poster mit deinem Porträt, oder – noch besser - "Yasgur-for-President-T-Shirts. Und was sagt der Bauer:
"Verflucht möge ich sein, wenn ich zu Geld mache, was ein Zufall war."
Da guckste? In allen wichtigen Szeneblättern in Amerika gab es Anzeigen: Überschrift: "Hunderte Morgen Land zum Wandern".
"Geht doch mal drei Tage lang spazieren, ohne einen Wolkenkratzer oder eine Verkehrsampel zu sehen. Lasst einen Drachen steigen, legt euch in die Sonne. Kocht euch das Essen selber und atmet saubere Luft. Zeltet draußen: Wasser und Toiletten sind vorhanden. Zelte und Campingartikel gibt es im Campinggeschäft."
"The man next to you is your brother"
Freie Luft, freie Liebe und eben Musik. Ein Tag - sieben Dollar, 3 Tage - 18. Für die Kunstmesse des Wassermannzeitalters:
"Die Woodstock Kunst und Musikmesse fand nicht in Woodstock statt. Die Musik war von sekundärer Bedeutung und die Kunst blieb zum größten Teil unproduziert. Es war genauso wenig eine Messe, wie die Französische Revolution oder das Erdbeben von San Francisco." (Peter Gatter)
Ja, ja, hinterher nörgeln kann jeder. Und wenn es keine Messe war, es war ein Happening, ein Hippie-Hochamt, ein tiefer Zug aus dem Pfeifchen Jugend.
John Morris: "It's a free concert from now on."
Umsonst und draußen, aber nicht für alle. Die meisten, die die 18-Dollar-Tickets hatten, die kamen gar nicht erst aufs Festivalgelände und die anderen waren einfach zu viele, viel zu viele, nie erwartet:
John Morris: "Now, let's face the situation. We've had thousands and thousands of people come here today. Many, many more than we knew or even dreamt or thought would be possible. We're going to need each other to help each other to work this out because we're taxing the systems that we have set up. We're going to be bringing the food in. But, the one major thing you have to remember tonight, when you go back up to the woods to go to sleep or if you stay here, is that the man next to you is your brother."
Jimi Hendrix bei seinem zweistündigen Auftritt auf dem Woodstock-Festival am 18. August 1969
Auf dem Festival wurde Musikgeschichte geschrieben - Jimi Hendrix spielte zwei Stunden lang (imago stock&people / Peter Tarnoff)
Und: Es gab keinen Einlass, kein Kontrolle, keine Zäune. Weil Roberts und Rosenman lieber die Bühne fertig bauen ließen als Zäune und Ticketbuden zimmern zu lassen. Hat er gesagt, hab ich auf Band:
Joel Rosenman: "At oh, I guess a couple of days before the event was supposed to start, it really came down to: Do we finish the stage or do we try to get the stage even workable, or do we build fences and ticket gates once again? At that point it kind of was put to John and me, are we still in this for the money? We thought about it for a millisecond, I think, and said build the stage. Make sure the crowd is taken care of. Make sure the systems are in place to support them, and we'll worry about taking tickets later."
"My generation"
Um die Tickets kümmern wir uns später. Hilfe und gemeinschaftliches handeln, Liebe, Frieden und Musik gegen die Gräuel von Vietnam und die Angst vor einem Atomkrieg – my generation.
Christopher Phillips: "Ich sah einen Hügel, voll mit Körpern; Leute, eingekauert unter Decken, um trocken zu bleiben und sich warm zu halten. Und dann war da dieser intensive Gestank. Eine Mischung aus Urin, Scheiße und Marihuana, die durch die feuchte Luft verstärkt wurde. Noch heute wird mir schwummrig, wenn ich an diesen schrecklichen Geruch denke."
Michael Kleff: "Trotz des Chaos’ machten die Medien das Festival schon wenige Tage später zum Mythos. Schrieben es "schön", um die Ankündigung von drei Tagen Friede, Liebe und Musik nachträglich zu bestätigen."
Stopp, Stopp, Stopp. Schönschreiben, schönreden, schon wieder so’n Nörgler. Arlo Guthrie fand es ganz anders, und Graham Nash auch:
Arlo Guthrie: "Dieses Gefühl hatte ich das erste Mal, als Präsident Kennedy umgebracht wurde. Auf einmal war meine Jugendzeit vorbei. Ich begriff, dass wir alle in einer großen Welt lebten, auf der viel passierte. Diese Erkenntnis brach über Nacht über mich herein. Und mit Woodstock war das genauso."
Folksänger Arlo Guthrie in einem Szenenfoto aus dem Woodstock-Film von 1970
Für Arlo Guthrie war Woodstock ein Erweckungserlebnis (imago stock&people)
Graham Nash: "Woodstock zeigte mir, dass ich mit meinen Gefühlen nicht alleine war; dass Liebe besser als Hass ist und Frieden besser als Krieg. Trotz des Beharrungsvermögens dieses Planeten und der Gesellschaft konnten wir die Welt verändern. Wir können auch heute Wandel bewirken. Wir müssen nur die Idee von Liebe und Frieden verbreiten. In dem Wissen – wie in Woodstock – dass wir nicht alleine sind."
"Nixon hätte die Nationalgarde schicken können"
Genau - Woodstock war ein - ein, ein Paradies. Selbst die Provinzler haben das gesagt, sind auf die Bühne zu den Hippies, vor denen sie eigentlich Angst hatten. Hier, hier ist alles aufgenommen, gefilmt:
Max Yasgur: "A half a million young people can get together and have three days of fun and music and have nothing but fun and music and God bless you for it!"
Hartwig Tegeler: "3 Tage Spaß und Musik und man könnte hinzufügen, Musik, Frieden, Liebe, Sex, ohne Gewalt."
Woodstock: "And it’s looking like there ain’t gonna be no fuckups, this is gonna work."
Nackte Hippiepärchen auf dem Woodstock-Festival
Mit Woodstock wurde auch die amerikanische Sexualmoral auf die Probe gestellt (imago stock&people)
Und? - Hat doch geklappt.
Obwohl man Woodstock auch ganz anders hätte darstellen können, meint Christopher Phillips:
"Als ein gigantisches Happening mit Drogenmissbrauch, Gesetzesbrüchen und zügellosem Sex. Der damalige Präsident Nixon hätte durchaus die Nationalgarde schicken können, um der Missachtung amerikanischer Moralvorstellung ein Ende zu bereiten."
Drei Tage im Trailer
Moment - Das war jetzt das falsche Band. Hier, ich hab’s:
"Was es da an Drogen gab, das gibt es heute in jeder Dorfdisco."
Nee, das ist jetzt der Anrufbeantworter. Warte mal.
Duke Devlin: "Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who, Grateful Dead, Ten Years After ... da wären Sie doch auch gekommen?"
What can I say, she's walking away
From what we've seen
What can I try
It's all a dream
How can we hang on to a dream
How can it really be the way it seems
How can we hang on to a dream
(Tim Hardin - "Hang on to a dream")
Eddie Kramer: "Oh my goodness!"
Tim Hardin, auch so früh gestorben. Total zu. Und der Mann, der das alles aufgenommen hat: Eddie Kramer. Was hat der für Alben produziert, Hendrix, Stones, Led Zeppelin, ja – und eben Woodstock. Die Filmcrew hat den eingekauft.
Eddie Kramer: "Ich könnte so viele Geschichten über Woodstock erzählen. Ich sag immer, diese drei Festivaltage waren für mich Drogen und Hölle. Ich war da eingesperrt in einer Art Trailer, 100 Meter hinter der Bühne. Ich hatte zwei 8-Spur-Maschinen und die wurden zusammengehalten durch Kaugummi und irgendwelche Bänder. Das war schon verrückt. Aber wir haben trotzdem gute Sachen dabei herausbekommen musikalisch, weil die Jungs haben sich ja damals die Seele aus dem Leib gespielt."
"Ohne dieses gemeinschaftliche Gefühl hätte das nie funktioniert"
Ja! Genau - Und nicht wegen des Geldes. 6000 haben die Who gekriegt, angeblich. Alle Bands zusammen 155 000 - sagt man. Heut wär das ’ne Million Dollar. Aber mach' damit mal drei Tage Festival, ein Tag soft, ein Tag U.S. und ein Tag Musiker aus England. Never ever. Geld war ja dann das Riesenthema. Vierzig-, Fünfzigtausend sollten kommen, aber fast 150.000 Tickets wurden verkauft. Da waren dann fast ’ne halbe Million, oder 400 000. Muss man ja nicht so genau nehmen. Auf jeden Fall – Geld war dann das Thema. Okay, hinterher gab es Miese. 1,3 Millionen sollen es gewesen sein. Ja und? Darum ging’s doch nicht.
Michael Lang: "Wir alle zählten uns damals zur Gegenkultur. Mit Woodstock wollten wir das demonstrieren. Unter den Kids herrschte die Meinung, dass Musik frei sein sollte. Wir haben bereits im Vorfeld viele Tickets verschenkt, nicht erst, als die Zäune gefallen sind. Wir haben Free-Camping angeboten. Als dann die Versorgung zusammengebrochen ist, haben wir die Leute gratis versorgt. Wir hatten zum Beispiel unsere eigene Festival-Polizei, verkleidet als Friedensarmee ohne Waffen. Strategie war es, von Anfang an alle Besucher aktiv ins Geschehen einzubinden. Ohne dieses gemeinschaftliche Gefühl hätte das nie funktioniert."
Eine Masse von Festivalbesuchern 1969 in Woodstock
Drei Tage friedlicher Gegenkultur in Bethel (imago stock&people)
Experiment gelungen! Und der Film war ja dann auch groß. Kaum ein halbes Jahr später in den Kinos. Drei Stunden über drei Tage. Da konnte man in den Kinos noch kiffen. Und dann die Platten, erst ein Dreifachalbum und dann noch mal ein Doppelalbum. Oscar für den Film, Hunderte Millionen eingenommen. Das nenn ich, wie sagt man so schön heute: Synergie, das ist finanziell nachhaltig. Und von den vier Veranstaltern hat keiner mehr Schulden. Und jetzt?
Bazon Brock: "Wenn sich Tausende junger Leute besinnungslos in einen Ausdruck kollektiver Ekstase integrieren lassen, so dass nur noch eine wimmelnde Masse von bewusstlosen, auf Musikakkorde reagierenden Pawlowschen Hunden in Erscheinung traten, dann war das für uns etwas wie der Schrecken der Barbarei schlechthin. Ganze Pop-Bewegungen, alle diese Massenkonzerte sind generalstabsmäßig organisierte Massenphänomene, bei denen Hunderte von Mitarbeitern eingesetzt werden, um noch die letzten Beleuchtungseffekte hinzukriegen. Von Spontaneität, von freiheitlicher, individualistischer Ausdrucksform kann dort überhaupt gar keine Rede sein."
Der Beginn einer großen Enttäuschung
Aber hallo, Soziologenquatsch, Sündenfall der Gegenkultur und so! Es gab keine Gewalt, es war friedlich, die Leute lagen sich in den Armen. Turn on, tune in, drop out. Das war doch positiv.
Joyce Berner: "Es war einfach Wahnsinn: Ich kam dort an und sah dieses Menschenmeer. Und sie waren ja noch nicht mal alle da. Du kommst über diese Kuppe und blickst plötzlich auf 300 000 Menschen! Allein das war unglaublich. Und diese Menschen hatten eine Vision und ein musikalisches Gefühl. Alles was du mitgebracht hattest wurde weitergegeben, und damit war es weg. Aber wenn du lange genug sitzen geblieben bist, ist etwas anderes zurückgekommen. Alles wurde geteilt, du musstest dich nicht einmal bewegen. Das war wie ein riesiges Familienpicknick."
Bazon Brock: "Ja, selbstverständlich, das ist sehr positiv gewesen. Die Leute, die da im Dreck gelegen haben, die das Ganze als ein Desaster der Desorganisation et cetera erlebt haben und gleichzeitig hinnehmen mussten, das sei der Ausdruck der größten Freiheit und Freude gewesen, die haben für ihr Leben was gelernt. Man kann nur sagen, dass es ein großes Ereignis war insofern, als es den Beginn der großen Enttäuschung einleitete. Und das ist die Quelle der Aufklärung."
Und dann, wie ist es dann weiter gegangen? Alle haben es natürlich nachgemacht, nur nicht so gut. Aber die dabei waren, das war wie im Märchen: They lived happily ever after und brachten uns das Prinzip Praktikum, Videokassette und CD, die Agenda 2010 und die Riesterrente. Und natürlich eine Generation wilder, junger Politiker, stets auf dem langen Lauf zu sich selbst in die Vorstandsetagen der Automobilindustrie und Dow Jones-Konzerne. Was die alles konnten, yoah, kiffen ohne zu inhalieren.
Redaktion: Kerstin Janse
Sprecher: Claus Dieter Clausnitzer, Folker Banik, Mathilde Banik