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60. DOK Leipzig
"Ein Ort des kritischen Diskurses"

Das Dokumentarfilmfestival "DOK Leipzig" feiert seine 60. Ausgabe. Zu DDR-Zeiten habe man zwar Weltoffenheit propagiert - die sei der SED aber auch ein Dorn im Auge gewesen, sagte der Historiker Andreas Kötzing im Deutschlandfunk. "Die dogmatischen Funktionäre setzten sich auch langfristig durch."

Andreas Kötzing im Corsogespräch mit Sigrid Fischer | 30.10.2017
    Banner werben am 27.10.2017 in einer Passage in Leipzig für das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK Leipzig
    Die DOK Leipzig zählt mittlerweile zu den wichtigsten Dokumentarfilm-Festivals weltweit (dpa-Zentralbild / Sebastian Willnow)
    Sigrid Fischer: Die DOK Leipzig, unter dem Namen kennen wir sie heute, startet ihre 60. Ausgabe. Gegründet wurde dieses Dokumentarfilm-Festival 1955 aber unter dem Namen "Gesamtdeutsche Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm". Filmemacher aus beiden deutschen Staaten sollten da ihre Arbeiten zeigen. Es hat dann noch mehrmals den Namen geändert, das Festival wurde international und hat die Wende sehr gut überstanden, muss man sagen. Das Jubiläum, das wird schon seit Freitag gefeiert mit einer entsprechenden Retrospektive. Aber ab heute läuft eben das normale Festivalprogramm mit 340 Filmen aus 57 Ländern. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Andreas Kötzing vom Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden hat sich sehr viel mit der DOK Leipzig befasst und ich begrüße ihn jetzt vor Ort in Leipzig. Guten Tag, Herr Kötzing.
    Andreas Kötzing: Hallo, Frau Fischer.
    Fischer: Die Gründungsinitiative ging aus vom "Club der Filmschaffenden der DDR". Was haben die denn bezweckt? Wollten die eine Brücke bauen im Kalten Krieg mit dem Festival?
    Kötzing: Ja, durchaus. Das Brückenbauen war ein interessanter Gedanke, denn zwischen den Filmemachern aus Ost- und Westdeutschland gab es damals durchaus noch das Interesse, sich auszutauschen. Und Leipzig war im Prinzip eine Ergänzung zu zwei anderen Kulturfilmwochen, die es damals bereits gab. Die erste in Mannheim 1952 gegründet, zwei Jahre später kam dann in der kleinen Stadt Oberhausen eine weitere Kulturfilmwoche dazu. Und in der DDR gab es das eben bis dahin nicht, und der Club der Filmschaffenden hat gesagt: Wir brauchen so eine Ergänzung auch bei uns. Und wir wollen tatsächlich versuchen, die Filmemacher aus dem Westen mit einzuladen, um mit ihnen im Gespräch zu bleiben, auch über mögliche Co-Produktionen weiter nachzudenken.
    Allerdings ist dieser deutsch-deutsche Ansatz dort Ende der 50er-Jahre vielen politischen Funktionären – im Osten wie im Westen übrigens gemeinsam – ein Dorn im Auge gewesen. Deswegen hat das Festival dann so eine Art Zwangspause bekommen, hat drei Jahre lang ja gar nicht stattgefunden und ist dann erst 1960 tatsächlich als internationales Festival in der DDR wieder gegründet worden.
    "Weltoffenheit ist immer was sehr Punktuelles"
    Fischer: Eben, dann wurde es international: Afrika, Asien, Lateinamerika kamen auf einmal dazu. Warum dann diese Ausrichtung? Aus den Gründen, die Sie gerade genannt haben, ne? Deutsch-deutsch wollte man nicht mehr, kam man nicht mehr so klar.
    Kötzing: Ja, genau. Und die Alternative war eben, zu sagen: Machen wir es jetzt tatsächlich international. Und in der ersten Hälfte der 60er-Jahre hat man dieses Internationale und dieses Weltoffene durchaus sehr ernst und beim Wort genommen. Also da wurden Filmemacher aus Frankreich, aus Großbritannien, aus den USA nach Leipzig eingeladen, das "cinéma vérité" aus Frankreich, Joris Ivens, Chris Marker sind nach Leipzig gekommen und haben ihre Filme gezeigt. Auch aus den USA das "Direct Cinema", das waren ja damals die wegweisenden Bewegungen im Dokumentarfilm. In Leipzig konnte man sie sehen.
    Und das war eben auch dann relativ schnell ein Anziehungspunkt für viele andere Dokumentarfilmregisseure, zu sagen: Wir kommen nach Leipzig, wir zeigen da unsere Filme. Man hat relativ viel Geld auch in die Hand genommen, um diese Filmemacher einzuladen. Aber diese Weltoffenheit – wie so häufig in der DDR – ist immer was sehr Punktuelles. Es schwankt ja immer, diese Kulturpolitik.
    Fischer: Ja, ich wollte gerade sagen, da passte es dann auf einmal, was die gezeigt haben. Wenn Sie sagen, deutsch-deutsch passte das nicht so, aber was die anderen bringen…
    Kötzing: Genau. Diese Kulturpolitik läuft ja immer in Wellen: Mal gibt es mehr Freiräume, mal gibt es weniger Freiräume. Und Sie haben schon recht: Das ist relativ schnell den Funktionären dann auch wieder ein Dorn im Auge gewesen. Es gab viele Leute, die gesagt haben: Diese Öffnung gegenüber dem Westen ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen ein sehr viel stärkeres Propagieren des Sozialismus auf der Leinwand sehen, nach Vorbild der Sowjetunion. Und die dogmatischen Funktionäre setzten sich auch langfristig in Leipzig durch. Die Freiräume der ersten Hälfte der 60er-Jahre haben wir dann später in Leipzig nicht mehr in diesem Maße. Es gibt zwar immer wieder Nischen und Freiräume, ganz propagandistisch hat man das Festival nie ausrichten können und eigentlich auch nie wollen, aber so ganz groß sind die Freiräume eben nicht mehr gewesen.
    Und wir kommen vor allem immer dann an interessante Punkte, wenn es natürlich in den osteuropäischen Staaten knackt: Prag 1968, Biermann 1976, die Solidarność-Bewegung '80/'81. Das sind alles Ereignisse gewesen, die dann zwangsläufig in Leipzig auf der Leinwand eben so nicht stattfinden konnten, weil, wenn es dann um die grundsätzlichen Aspekte gegangen wäre, dann kam es tatsächlich so weit, dass die SED dann immer gesagt hat: "Liebe Leute, es ist schön, Ihr hab hier ein weltoffenes Festival, wir schätzen das sehr. Wir können damit werben für uns, aber bitte nicht so weit, dass wir hier den Sozialismus infrage stellen."
    Wir haben noch länger mit Andreas Kötzing gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Fischer: Aber man hat es nie geschlossen. Man hätte ja sagen können: So, jetzt reichts. Zum Beispiel '65, nach dem elften Plenum des Zentralkomitees der SED, ne?
    Kötzing: Genau. Aber man wusste ja auch, was man an dem Festival hat. Ähnlich wie bei der Buchmesse konnte man mit solchen Veranstaltungen gegenüber den westlichen Festivalgästen ja auch immer sehr gut demonstrieren und sagen: "Schaut mal her, wir sind doch gar nicht nur von Zensur geprägt."
    Schauen Sie, 1987, ein Jahr, das ganz wichtig war für Leipzig, da hat die Festival-Auswahlkommission auf einmal Filme aus der Sowjetunion bekommen, in denen Glasnost und Perestroika ganz groß auf der Leinwand zu sehen gewesen sind. Jugendliche, die Alkohol trinken, verarmte Rentner, Umweltprobleme nach Tschernobyl: Das ist auf einmal in Leipzig auf der Leinwand zu sehen gewesen. Da bricht dann tatsächlich zum ersten Mal richtig dieser ganz große Umbruch sich Bahn, mit dem Ergebnis, dass den Funktionären in der DDR die Haare zu Berge stehen und die sagen: "So was darf hier auf gar keinen Fall wieder passieren." Im Jahr darauf werden die russischen Filme dann ganz besonders stark begutachtet und zensiert, aber es ließ sich natürlich nicht aufhalten. Wir sind dann Ende der 80er-Jahre. Dann war es einfach so weit, dass auch der Umbruch in der DDR ja mehr oder weniger vor der eigenen Haustür hier in Leipzig passiert ist.
    "Man hat in Leipzig einen Markt für Dokumentarfilme geschaffen"
    Fischer: Da muss man jetzt natürlich dann fragen: Es hat so vieles eben nicht die Wende überlebt, gerade im Kultur-, im Kunstbereich. So viele Filmschaffende, Fernsehshow-Menschen, haben die Wende einfach nicht gut überstanden. Warum ausgerechnet dieses Festival DOK Leipzig, das ja immer noch steigende Besucherzahlen tatsächlich vermeldet – wenn es auch eine Delle und einen Einbruch gab, direkt nach der Wende. Aber warum hat das so gut überlebt?
    Kötzing: Es ist ein kleines Rätsel, muss ich ganz ehrlich sagen. Und es ist vielleicht ein kleines Wunder, dass es tatsächlich überlebt hat. So, wie Sie gesagt haben: Vieles ist damals mit dem Stempel "Sozialismus" belegt worden und dann hat man es abgewickelt. Hier in Leipzig gab es eine ganze Menge engagierter Leute, die das Festival noch aus DDR-Zeiten kannten, die um das Festival gekämpft haben, die gesagt haben: "Heute ist so ein Festival eigentlich wichtiger denn je." Und auf eine gewisse Art und Weise hatten sie damit natürlich nicht unrecht. Dann kam 1995 ein zweites Standbein hinzu zum Festival, der Animationsfilm hat ein eigenes Wettbewerbsprogramm bekommen …
    Fischer: … also, "animierte Dokumentationen" müssen wir sagen, nicht dass wir denken, dass da Disney läuft auf einmal, ne?
    Kötzing: Genau, richtig. Nein! Nein, nein, nein, nein. Es sind zum Teil auch reine Animationsfilme, aber eben politisch-gesellschaftlich relevante Filme, kein reines Unterhaltungsprogramm.
    Und dann, ganz wichtig für das Festival, Anfang der 2000er-Jahre, unter der Leitung von Claas Danielsen, ist die Öffnung für Branchenangebote, für Industry-Angebote. Man hat einen Markt geschaffen hier für Dokumentarfilme in Leipzig, die also hier internationalen Produzenten gezeigt werden und die überhaupt so erst – wenn man es genau nimmt – das Licht der Öffentlichkeit hier erblicken können.
    Diese Angebote haben dazu geführt, dass das Festival international auf eine ganz neue Stufe gehoben wurde. Da war das Festival in den 90er-Jahren tatsächlich nicht. Und das hat man einfach gemerkt in den letzten Jahren: Der Publikumszuspruch ist größer geworden, es kommen mehr Fachbesucher nach Leipzig und inzwischen kann man eigentlich durchaus sagen, dass das Festival mit zu den wichtigsten Dokumentarfilm-Festivals in der Welt zählt.
    "Nach der Angst"
    Fischer: Das hat aber auch dazu geführt, könnte man sagen, dass es sich immer mehr aufgebläht hat, mit immer neuen Reihen. Kann man nicht auch sagen – ich denke auch ein bisschen an die Berlinale, das ist immer so eine Hauptkritik – ufert es irgendwann aus? Die neue Leiterin Leena Pasanen hat auch noch mal jetzt eine neue Reihe dazu gemacht. Ist es dann irgendwann … kriegt es eine Beliebigkeit vielleicht auch?
    Kötzing: Die Gefahr besteht natürlich immer. Also, dieses Wachstumsdogma, dem sich ja so viele Festivals unterworfen haben, das sehe ich persönlich auch sehr kritisch. Ich bin nicht der Meinung, dass es jedes Jahr immer mehr, mehr, mehr werden muss; zumal die Festivals ja kein größeres Budget bekommen und auch keine größere Zahl von Mitarbeitern.
    Fischer: Das Profil der DOK Leipzig war immer politisch ausgeprägt und ist es bis heute. Das Motto heißt dieses Jahr "Nach der Angst". Ich dachte, "Mitten in der Angst" wäre fast passender. Was ist denn da gemeint, "Nach der Angst"? Warum "Nach der Angst"?
    Kötzing: Es greift so ein bisschen dieses Grundgefühl auf, das man derzeit in der Gesellschaft spüren kann. Was machen wir mit diesen aktuellen Bewegungen, die so sehr in die rechtspopulistische Strömung gehen in vielen Ländern? Die Wahlerfolge der entsprechenden Parteien aber auch die Ängste, die sich in der Bevölkerung Bahn brechen. Und es ging nicht nur darum, dieses Gefühl abzubilden, sondern tatsächlich auch die Frage zu stellen: Wie gehen wir denn jetzt tatsächlich damit um?
    Fischer: Heute startet die 60. Ausgabe der DOK Leipzig. Die geht bis zum 5. November und ich habe darüber gesprochen mit dem Historiker und Kulturwissenschaftler Andreas Kötzing – vielen Dank!
    Kötzing: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.