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60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland
"Wir brauchen mehr Heimat für alle"

"Der Schlüssel zur Integration steckt in der Kindheit", sagte der Schriftsteller Zafer Senocak im Deutschlandfunk. Mit acht Jahren war Senocak Ende der 60er-Jahre aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Im Gespräch unterstrich der Autor die Notwendigkeit von guten Erinnerungen, um sich in einem Land heimisch zu fühlen.

Zafer Senocak im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 07.12.2015
    Zafer Senocak lächelt für ein Foto.
    Die erste Generation der Gastarbeiter habe viel für Deutschland geleistet, sagte der Schriftsteller Zafer Senocak im Interview mit dem Deutschlandfunk. (imago images / Horst Galuschka)
    Er selbst habe viele gute Erinnerungen an seine Kindheit, erzählte der Publizist im Deutschlandfunk. Bis in die 80er-Jahre habe er keine Ressentiments in Deutschland erlebt: "Es war eine Atmosphäre des Austauschs". Gerade die erste Generation der Gastarbeiter sei "wahnsinnig gut integriert" gewesen in das Arbeitsleben.

    Erst in den 80er-Jahren sei eine Rhetorik der Abwehr und der Abschottung aufgekommen, die es leider heute immer noch gebe. Die Gesellschaft habe damals entdeckt, dass die Gastarbeiter in Deutschland bleiben werden und dass "die Zufuhr von Fremdheit Deutschland verändern wird". Dagegen habe es viel Abwehr gegeben, so Senocak.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Ein paar Jahre in Deutschland arbeiten, Geld für ein Haus sparen und in die Heimat zurückkehren - mit dieser Vorstellung sind die meisten der sogenannten Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Das erste Anwerbeabkommen wurde am 20. Dezember 1955, also vor 60 Jahren mit Italien vereinbart. Aus diesem Anlass werden die Bundeskanzlerin und die Integrationsbeauftragte heute im Kanzleramt die Leistungen der ersten Einwanderer-Generation und ihrer Nachkommen für Deutschland würdigen. Grund für uns, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen, um die es geht.
    Darüber wollen wir reden in den nächsten Minuten mit dem deutsch-türkischen Schriftsteller Zafer Senocak. Er ist uns jetzt verbunden, hat sich für uns in unser Berliner Studio begeben. Schönen guten Morgen!
    Zafer Senocak: Guten Morgen!
    Heckmann: Sie sind ja im Alter von acht, neun Jahren, glaube ich, mit Ihren Eltern nach München gekommen. Was war das für ein Gefühl und was sind Ihre ersten Erinnerungen an Deutschland?
    Senocak: Ja, mit acht Jahren. Das war sehr aufregend, weil ich kam aus Istanbul nach München, also von einer sehr großen Stadt in eine etwas kleinere Stadt, und es gab natürlich riesige Unterschiede. Aber diese Unterschiede habe ich damals eigentlich eher positiv wahrgenommen, muss ich sagen, als eher eine Herausforderung, Neugier war dabei. Ich glaube, dass sehr viel damit zusammenhängt, wie man diese Kindheit erlebt. Der Schlüssel zur Integration steckt ja in der Kindheit. Wenn man später im Laufe des Lebens gewisse nostalgische Erinnerungen an diese Kindheit entwickeln kann, dann ist man auch zuhause. Wenn das aber fehlt, dann entstehen Probleme.
    Heckmann: Ihr Vater ist Publizist gewesen, Ihre Mutter Lehrerin.
    Senocak: Richtig.
    Heckmann: Was war denn eigentlich der Grund, dass Ihre Familie nach Deutschland gekommen ist?
    "Mein Vater war in seiner Seele sehr preußisch"
    Senocak: Ja, genau diese Auswanderung der Türken nach Deutschland. Mein Vater wollte das genauer beobachten, er fand das spannend, und meine Mutter zog nach, muss ich sagen. Die hat eigentlich die Türkei auch etwas ungern verlassen. Aber mein Vater war in seiner Seele sehr preußisch eigentlich, obwohl er nach München gegangen ist, ein Widerspruch, aber er hat sich in Deutschland wahnsinnig wohlgefühlt, dieser Ordnungssinn und auch die Art und Weise des Lebens. Im Grunde genommen haben ja die Zuwanderer Deutschland etwas südländischer gemacht. Das kann man schon sagen. Aber sie sind auch deutscher geworden natürlich. Und diejenigen, die sowieso im Herzen etwas Deutsch waren, die haben sich dann pudelwohl gefühlt.
    Heckmann: Was sind denn die einprägsamsten Erinnerungen, die Sie aus dieser Zeit mitgebracht haben?
    Senocak: Die Schule. Die Schule war ganz zentral, weil ich das Gefühl hatte, ich kam ja aus der Türkei und da ist ja damals und vielleicht heute auch noch ein bisschen eine sehr autoritäre Struktur. Man küsst den Lehrern die Hände und so, es ist alles ein bisschen seltsam organisiert. Ich kam in die Schule und gleich bei der Einschulung stand ich mit meinem Vater vor dem Direktor und der Direktor ging ins Nebenzimmer und brachte noch einen Stuhl, damit ich mich auch setzen konnte. Das war das einschneidende Erlebnis, das ich gleich zu Anfang hatte, und das ging dann so weiter im Grunde genommen. Ich hatte das Gefühl, ich bin in einem etwas lockereren Land angekommen. Es gab keine Nationalhymne jeden Morgen. Es wurde zwar gebetet, aber ganz kurz. Ich war in München, muss ich noch dazu sagen, und im Grunde genommen war das so eine Art. Im Moment, während ich darüber spreche, kommen so nostalgische Gefühle hoch und wenig eigentlich Schlimmes, was mir widerfahren ist.
    Heckmann: Haben Sie das über die Jahre in Deutschland als freundliches Land, so wie es sich anhört, empfunden, oder haben Sie auch Ressentiments erlebt?
    Senocak: Nein. Ich habe bis in die 80er-Jahre eigentlich keine Ressentiments erlebt, muss ich sagen, auch als ich anfing, als Autor zu arbeiten, meine ersten Gedichte publizierte. Damals fragte mich überhaupt niemand, woher ich komme, ob ich Türkisch schreibe, warum ich das so mache, ob ich über das Leben der Gastarbeiter schreibe und was weiß ich, was dann später so aufkam im Bereich dieser sogenannten Migrationsliteratur. Das war am Anfang überhaupt nicht der Fall. Da war vielleicht ein bisschen Neugier. Ich habe mal auch einen türkischen Text ins Deutsche übersetzt für meine Kollegen und Freunde. Aber es war eigentlich eine Atmosphäre des Austausches eher. Das hat aber auch sehr viel mit den 70er-Jahren zu tun. Wir haben das total vergessen. Die 70er-Jahre sind ein internationales Jahrzehnt und alle, die da aufgewachsen sind, sind auch mit einer internationalen Kultur - denken wir an die Pop-Kultur - aufgewachsen, und das macht sehr, sehr viel aus.
    "Sie waren wahnsinnig gut integriert ins Arbeitsleben"
    !Heckmann:!! Sie haben gerade gesagt, dass das bis in die 80er-Jahre so war. Was hat sich denn dann verändert?
    Senocak: Ja. Es waren auch interessant, die eingespielten Reden von Herrn Kohl und von Herrn Seehofer. Im Grunde genommen gab es in den 80er-Jahren diese Rhetorik, die wir immer noch leider haben, der Abwehr, der Abschottung. Das hat auch ein bisschen mit den Einheimischen zu tun, weil die Mehrheitsgesellschaft hat entdeckt, dass die Menschen, die hier herkommen, bleibend sind, und sie hat auch langsam begriffen, was das bedeutet, dass nämlich diese Zufuhr von Fremdheit oder anders sein - das Südländische habe ich erwähnt - Deutschland verändern wird und auch verändert. Dagegen gab es viel Abwehr und das hat man dann gespürt in den 80er-Jahren.
    Heckmann: Wie haben Sie es konkret gespürt?
    Senocak: Das hat man sofort gespürt auf der Straße. Man hat das gespürt auf den Mauern mit Sprüchen wie "Gastarbeiter geh nach Hause" und anderen Dingen, die noch schlimmer waren, und natürlich auch Wahlerfolgen von rechten Rattenfängern. Damals gab es die Republikaner und die saßen plötzlich in den Parlamenten, auch in Berlin übrigens, nicht nur in Bayern, und das machte schon etwas aus. Die Politik insgesamt rückte ja ein bisschen in diese Richtung.
    Heckmann: Navid Kermani, der deutsch-iranische Publizist, der hat in seiner Rede zu 60 Jahren Grundgesetz gesagt: Bei allen Konflikten, die es dann ja auch gab, und Ressentiments, bei aller Gewalt bis hin zu Terror, siehe NSU, aber auf das Ganze betrachtet hat die Bundesrepublik eine grandiose Integrationsleistung vollbracht. Würden Sie das so teilen?
    Senocak: Ja. Das ist ja das, was ich beschreibe, was die 70er-Jahre angeht, diese erste Generation. Man spricht immer, man hat sie nicht integriert. Das stimmt doch überhaupt gar nicht. Das ist einfach so eine ganz seltsame nebulöse Einstellung. Man hat sie mental nicht integriert, aber sie waren wahnsinnig gut integriert ins Arbeitsleben in den 60er-, 70er-Jahren und haben viel für dieses Land geleistet. Das ist wichtig, dass die Menschen das Gefühl haben, dass sie was geben können und dass sie auch was nehmen. Das muss immer gegenseitig sein. Wenn es einseitig ist, dann wird es gefährlich. Und diese Frage, ob die Menschen jetzt gut integriert sind oder schlecht, die finde ich eigentlich uninteressant, weil sie auch nicht zu beantworten ist. Für den einen ist es so, für den anderen ist es anders. Das ist so wie gefühlte Temperatur. Das kann man nicht objektiv feststellen.
    Heckmann: Aber diese sogenannten Parallelgesellschaften, die sich gebildet haben in Deutschland, an denen kann man ja auch nicht ganz vorbeigehen. Das war ja ein großes Thema noch vor ein paar Jahren.
    "Warum fühlt sich jemand zuhause?"
    Senocak: Ja. Das ist aber interessant. Ich sage ja: Es gibt diese Rhetorik. Die Parallelgesellschaft, was ist das eigentlich? Wenn Sie in alle Einwanderungsländer schauen, zum Beispiel in die USA, gibt es diese Art von Gesellschaften. Die Frage ist, wie funktionieren die. Sind das sozusagen Durchgangslager, wo die Leute reinkommen und dann aufgenommen werden, empfangen werden und sich dann annähern an das neue Land, oder sind das so Gettos, abgeschlossen? Und ich glaube nicht, dass wir feste abgeschlossene Gettos in Deutschland haben. Das ist eben auch unser Erfolg.
    Heckmann: Aber Faktum ist doch auch, dass viele Menschen der zweiten und dritten Generation beispielsweise offenbar schlechter integriert sind als diejenigen der ersten.
    Senocak: Kann man das so sagen? An was macht man das genau fest? An der Sprache kann man das nicht festmachen. Das Deutsche hat sich weitgehend durchgesetzt. Es gibt kaum noch Menschen in der dritten Generation, die kein Deutsch sprechen. Ich kenne niemanden in dieser Richtung. Vielleicht gefühlsmäßig ja, aber das ist ja das Interessante. Das sind ja emotionale Fragen, über die objektiv zu sprechen sehr schwierig ist. Warum fühlt sich jemand zuhause? Deswegen meinte ich: Es ist sehr wichtig, dass man in der Kindheit ein Gefühl bekommt, was einem später dann Nostalgie verschafft, dass man etwas Positives verbinden kann mit dem Land, wo man aufgewachsen ist, mit der Stimme eines Lehrers, einer Lehrerin, mit dem Geruch von Brot, Brötchen, also ganz einfachen Sachen, an die man sich erinnern kann, die einen sozusagen heimisch werden lassen. Das klingt jetzt heimelig, aber das ist genau auch das, was wir brauchen, einfach mehr Heimat für alle.
    Heckmann: 60 Jahre sogenannte Gastarbeiter in Deutschland. Heute findet dazu ein Festakt in Berlin statt. Wir haben gesprochen mit Zafer Senocak, dem deutsch-türkischen Schriftsteller. Danke Ihnen für das Gespräch!
    Senocak: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.