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70 Jahre Berliner Luftbrücke
Das süße Bild der Rosinenbomber

Sie war nicht die erste und längste, aber vielleicht die von größter Bedeutung: Die Berliner Luftbrücke, über die die westlichen Alliierten vor fast 70 Jahren rund 2,1 Millionen Tonnen Kohle und Lebensmittel in die Stadt brachten. Die Erinnerung an diese technische und logistische Meisterleistung wird aber auch von zahlreichen Mythen geprägt.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 16.03.2017
    Rosinenbomber auf dem Flughafen Schönefeld in Berlin
    Die Engländerin Jean Stean, die vor 60 Jahren zum Bodenpersonal gehörte, hält am Montag (11.05.2009) auf dem Flughafen Schönefeld ein Care Paket vor einem Rosinenbomber. (picture alliance/dpa/Foto: Bernd Settnik)
    Die Geschichte der Luftbrücke scheint gut erforscht. Doch knapp 70 Jahre nach den Versorgungsflügen der westlichen Alliierten über Berlin stellen Wissenschaftler fest, dass es noch etliche Lücken gibt. Auf der Tagung "Die Berliner Luftbrücke - ein Erinnerungsort des Kalten Krieges?" im Berliner AlliiertenMuseum nahmen Experten zeitgenössische und aktuelle Deutungen der berühmten Hilfsaktion von 1948/49 unter die Lupe. Mit bemerkenswerten Ergebnissen.

    "Ihr Völker der Welt, Ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien: schaut auf diese Stadt und erkennt, dass Ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt."
    Diese Worte Ernst Reuters haben sich ins Gedächtnis gebrannt. Sie stehen synonym für den Aufruf, die seit dem 24. Juni 1948 wegen der russischen Blockade Berlins bestehende Luftbrücke fortzuführen. Was nicht ganz der historischen Wahrheit entspricht: Der Oberbürgermeister forderte am 9. September 1948 vor dem Reichstag vielmehr, kurz nach Zerschlagung des Stadtparlaments Berlin nicht der Sowjetunion preiszugeben.
    Blockade und Luftbrücke sind untrennbar miteinander verbunden. Bernd von Kostka, Leiter des Berliner AlliiertenMuseums, interpretiert beides als erste Konfrontation des Kalten Krieges, die die neu entstandenen Supermächte auf dem Rücken der Berliner austrugen.
    Auch wenn es nicht das erste Unternehmen dieser Art war, gilt die Berliner Luftbrücke, mit der Amerikaner, Briten und Franzosen mehr als ein Jahr lang über zwei Millionen Einwohner aus der Luft versorgten, bis heute als technische und logistische Meisterleistung,...
    "...ein bis damals völlig undenkbares Vorhaben, undenkbar im wahrsten Sinne des Wortes, denn niemand kam auch nur auf die Idee, eine Stadt mit über zwei Millionen Einwohnern komplett aus der Luft versorgen zu können."
    Erfinder der Luftbrücke waren die Briten
    Die Geschichte der Luftbrücke scheint auf den ersten Blick gut erforscht. Auf den zweiten zeigt sich, dass fast 70 Jahre danach immer noch Leerstellen in der Forschung existieren und die Mythen nicht aus der Welt zu schaffen sind, die über den so genannten airlift kursieren.
    "Also die Amerikaner haben es damals wie auch heute am besten verstanden, sich als die Macher und fast als die Hauptnation der Luftbrücke darzustellen. Das ist in einem Aspekt falsch, weil die Erfinder der Luftbrücke nicht die Amerikaner waren sondern die Briten. Der britische Air Commodore Rex N. Waite hat genau dieses Undenkbare gedacht, dass eine gemeinsame Luftflotte der Amerikaner und Briten nicht nur die eigenen Soldaten in der Stadt versorgen könnten, sondern ein Surplus, was mehr eingeflogen wird, auch an die Berliner verteilt wird."
    "Der Insulaner verliert die Ruhe nicht,
    der Insulaner liebt kein Getue nicht..."
    Zu untersuchen, welche Rolle die westlichen Besatzungsmächte – die USA, Großbritannien und Frankreich – bei der Versorgung der drei Sektoren mit Kohle und Lebensmitteln genau spielten, fordert auch Corine Defrance. Die Professorin für Zeitgeschichte an der Pariser Sorbonne relativiert die bis heute vorherrschende Wahrnehmung, die Franzosen hätten bei der Luftbrücke nur eine marginale Rolle gespielt.
    Franzosen bauten den Flughafen Tegel aus
    "Zuerst haben Piloten auch teilgenommen, aber die französischen Flugzeuge waren sehr langsam, alt und sogar gefährlich. Das war keine gelungene Sache. Aber die Franzosen haben eine wichtige Rolle gespielt. Die haben – und damals innerhalb von drei Monaten – einen Flughafen ausgebaut: Tegel, und das war damals die längste Rollbahn, wurde innerhalb von drei Monaten im Herbst 48 gebaut. Und dann konnten die größten amerikanischen Luftmaschinen in Tegel landen. Tegel ist wirklich der große Beitrag der Franzosen."
    Der Flughafen Tempelhof, der bislang als zentraler Ort der im Minutentakt landenden und startenden Transportflugzeuge galt, steht zur Debatte. Anders als die jährlichen Gedenkveranstaltungen am Luftbrückendenkmal seit 1951 suggerieren, war neben Tempelhof im damaligen amerikanischen Sektor auch der Flughafen Gatow im britischen Sektor von bislang unterschätzter Bedeutung.
    Gatow mit den meisten Flugbewegungen
    "Die Amerikaner sind auch nach Gatow geflogen. Ganz nebenbei ist Gatow der Flughafen mit den meisten Flugbewegungen während der Luftbrücke. Nicht Tempelhof, was immer kommuniziert wird, falsch kommuniziert wird, leider, seit vielen vielen Jahren, Jahrzehnten. Dort ist die meiste Tonnage gelandet in Tempelhof. Aber die meisten Flugbewegungen gab es in Gatow."
    "...und brummt es nachts auch laut
    die viermotorigen Schwärmer
    das ist Musik für unser Ohr
    wer red' vom Lärme..."
    Die Luftbrücke als Ereignis, bei dem wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die einstigen Gegner Deutschland und die westlichen Alliierten im wahrsten Sinne des Wortes Hand in Hand arbeiteten, war bereits im Moment des Geschehens von hoher Symbolik. Es setzte sich identitätsstiftend im kollektiven Gedächtnis fest, sagt Jörg Echternkamp. Der wissenschaftliche Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam bezeichnet die Luftbrücke als Erinnerungsort des Kalten Krieges und greift damit einen vom französischen Historiker Pierre Nora geprägten Begriff auf.
    Amerikaner konnten mit der Luftbrücke ihr Image aufpolieren
    "Die Zuschreibung von bestimmten Bedeutungen zu Lasten anderer findet im Grunde in dem Moment statt, wo auch das Ereignis stattfindet, weil es natürlich interpretiert wird. Die Amerikaner nutzen das beispielsweise für eine PR-Aktion, weil sie schnell erkennen, dass sie mit der Luftbrücke ihr Image aufpolieren können. Die Berliner sehen, dass sie sich selbst der Welt in einem ganz neuen Licht darstellen können. Und so gerät Berlin eben schon sehr schnell während der Luftbrücke zu einem Vorposten der Freiheit oder einem Bollwerk der Freiheit gegenüber dem anstürmenden Kommunismus."
    "Völker der Welt! Tut auch ihr eure Pflicht und helft uns in der Zeit, die vor uns steht, nicht nur mit dem Dröhnen eurer Flugzeuge, nicht nur mit den Transportmöglichkeiten, die ihr hierher schafft, sondern mit dem standhaften und unzerstörbaren Einstehen für die gemeinsamen Ideale."
    Blickt man zurück, so setzten sich in der zeitgenössischen Darstellung und Deutung die Heldengeschichten durch, etwa die des Candy-Bombers Gail Halvorsen, der mit kleinen Fallschirmen Süßigkeiten über Tempelhof abwarf. Legendär sind auch der vielfach zitierte Durchhaltewillen der Berliner und die Hilfsbereitschaft der westlichen Alliierten, die Logistik und Transporte finanzierten und nicht zuletzt ihr Leben riskierten, um die Westsektoren bei jedem Wetter anzufliegen.
    In den USA kaum negative Töne, Kritik in Frankreich
    Neue Erkenntnisse präsentierten einige Wissenschaftler, die sich mit der Berichterstattung über die Luftbrücke in den Medien der damaligen Zeit beschäftigt haben. Florian Pauls, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des AlliiertenMuseums, hat eine Vielzahl US-amerikanischer Tageszeitungen von 1948/49 verglichen und festgestellt, dass sie in sehr unterschiedlichem Ausmaß über Technik, Infrastruktur und Errungenschaften des Airlift, über Wetterkapriolen sowie Flugzeugunfälle berichteten.
    "Generell war die Meinung schon sehr positiv über die Luftbrücke. Es wurde unterstützt, und negative Töne gab es kaum zu hören. Den einen oder anderen kritischen Ton gab es, Walter Lippmann zum Beispiel, der ja auch den Begriff Kalter Krieg in den Umlauf gebracht hat, hatte auch eine Kolumne im 'Boston Globe' und in der 'Washington Post' gleichzeitig. Und dort hat er durchaus einmal nicht sanfteres, sondern im Gegenteil härteres Vorgehen gegen die Sowjets gefordert."
    Ganz anders sah es im damals sozialistisch regierten Frankreich aus, das unmittelbar unter der deutschen Besatzung und dem Krieg gelitten hatte. Die Franzosen brauchten länger, um sich für die Unterstützung der Luftbrücke zu entscheiden – und Zeitungen wie "L'Humanité" oder "Le Figaro" berichteten kritisch über die alliierte Hilfsaktion.
    Unterschiedliches Bild im geteilten Deutschland
    Aber nicht nur die ausländischen Medien spiegeln ein unterschiedliches Bild der Luftbrücke. Die Hamburger Medienwissenschaftlerin Dr. Sigrun Lehnert hat am Beispiel der deutschen Kino-Wochenschauen analysiert, wie diese in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, in dem zwischen den vier Besatzungsmächten aufgeteilten Deutschland instrumentalisiert wurde. Die "Welt im Film", eine britisch-amerikanische Produktion, lieferte erste Berichte ab dem 9. Juli 1948,...
    "...wo über eine große Krise gesprochen wurde mit dramatischer, düsterer Musik unterlegt. Die Polizei versucht den Schwarzmarkt zu bekämpfen. Es gibt Einschränkungen von Gas und Elektrizität. Es wird von einer Hungerblockade gesprochen, ein Wort, das auch öfter vorkommt. Die lebenswichtige Ladung liegt fest."
    Ganz anders das ostdeutsche Pendant: Die von den Sowjets kontrollierte Wochenschau "Der Augenzeuge" berichtete erst am 30. Juli über "Eine luftige Angelegenheit" – und spielte die Bedeutung der Luftbrücke herunter.
    "Im Berliner Osthafen sind allein vom 1. bis 20. Juli 26.000 Tonnen Kohle und Briketts aus Polen und Sachsen eingetroffen. Ein einziger Lastkahn fasst 600 Tonnen, dieselbe Menge für die auf dem Weg über die Luftbrücke 150 Flugzeuge benötigt werden."
    "Nach diesem Sujet geht es gleich um den Zweijahr-Plan, der besonders erklären sollte wie man beabsichtigt, mit Kohle, Energie, Industrie und Maschinen den Wiederaufbau Deutschlands, aber besonders im Ostteil zu bewerkstelligen. Man merkt dann schon: Berlin wird fürchterlich schlecht versorgt, während es in den Ostzonen aufwärts geht – eben durch den Zweijahr-Plan. Und das wird auch wieder mit heroischer Musik unterlegt."
    Auf der richtigen Seite von Freiheit und Demokratie
    Weil die Luftbrücke sich als positiv besetztes Sinnbild für die westlichen Werte nutzen ließ, entstanden bis zum Mauerbau 1961 vielfältige Formen des Erinnerns: neue Straßennamen wie die nach dem Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone Lucius D. Clay benannte Clayallee, die 1959 gegründete Stiftung Luftbrückendank, mit der die Angehörigen von 78 Opfern der Luftbrücke finanziell unterstützt wurden oder das 1951 eingeweihte Luftbrückendenkmal, die so genannte Hungerkralle in Berlin, Frankfurt am Main und Celle. Sie alle dienten als Symbol dafür, auf der richtigen Seite von Freiheit und Demokratie zu stehen.
    "Völker der Welt, schaut auf Berlin! Und Volk von Berlin, sei dessen gewiß, diesen Kampf, den wollen, diesen Kampf, den werden wir gewinnen!”
    Mit dem Mauerbau und dem späteren Berliner Viermächteabkommen aus dem Jahr 1971, das den Status der Stadt regelte, änderte sich der Umgang mit der Luftbrücke. Die Entspannungspolitik der 70er-Jahre verschob den Blick auf die Ereignisse von 1948/49, sagt Jörg Echternkamp:
    "Man spricht von Stabilität durch Teilung. Die Teilung – so unnormal sie war – wurde zu einer Normalität, politisch dann die Zeichen auf Entspannung. Und in dieser Konstellation passte nun das Erinnern an die erste Berlin-Krise und die Luftbrücke, die als Zeichen des ersten Konfliktes des Kalten Krieges galten, nicht mehr so in die Erinnerungslandschaft."
    In dieser zweiten Phase des Erinnerns blieb das Ereignis Luftbrücke zwar präsent, wurde aber ideologisch nicht mehr so stark aufgeladen.
    Negatives wie die Hungertoten ausgeblendet
    Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 hat sich der Umgang mit dem historischen Ereignis wiederum verändert, resümierten die Historiker. Zwar konnte sich die Meistererzählung der Luftbrücke, die Negatives wie die Hungertoten ausblendete, bis heute halten. Allerdings werden einige Aspekte dieses Narrativs mittlerweile hinterfragt. Wie wirkungsmächtig war die russische Blockade angesichts der Tatsache, dass die West-Berliner sich bei den Bauern im Brandenburger Umland versorgen oder Waren auf dem Schwarzmarkt tauschen konnten? Inwiefern profitierten die Westmächte militärisch von dieser Aktion?
    Der Historiker Gerhard Sälter von der Gedenkstätte Berliner Mauer fordert deshalb, die Luftbrücke aus ihrer isolierten Betrachtung zu lösen, sie stärker historisch zu kontextualisieren und darüber hinaus die damalige Alltagsgeschichte zu erforschen:
    "Wenn man über die kollektive Erinnerung redet, ist es wahrscheinlich sinnvoll, nicht nur über die Luftbrücke zu reden, also die nicht zu isolieren. Sondern Luftbrücke, Blockade, Spaltung als Teil einer Erzählung des Kalten Kriegs zu nehmen, wo der Mauerbau und Mauerfall dazu gehört. Weil sonst glaube ich kriegen wir eine Schieflage, weil das ja eine durchgehende Erzählung zum Teil bildet."
    Die ersten LKW brachten Zement für den englischen Militärflugplatz
    Mehr als 25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Dass die Luftbrücke seitdem zu einem gesamtberliner Erinnerungsort werden konnte, stellt Ulrich Pfeil, Organisator der Tagung und Professor für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine in Metz, auf den Prüfstand:
    "Deswegen auch die Frage: Wo findet man die Luftbrücke in der Ostberliner, in der ostdeutschen Erinnerung? Gibt es mittlerweile, mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, eine gemeinsame Berliner Erinnerung vielleicht an die Luftbrücke? Unser Eindruck ist, dass es immer noch bis heute doch zwei verschiedene Erinnerungen gibt, weil natürlich auch noch die Zeitzeugen gerade hier in West-Berlin da sind, die darüber berichten. Großeltern, die das erlebt haben. Das alles ist natürlich in Ost-Berlin nicht so."
    Aber auch jene leben noch, die das Ende der Blockade im Mai '49, kurz vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR, aus der ostdeutschen Wochenschau kannten:
    "Die ersten Güterzüge beförderten vor allem Kartoffeln und Kohlen, die die Luftbrücke den Berlinern nicht zu geben vermochte. Die ersten LKW-Kolonnen erhielten keine Lebensmittel, auf die die freudig wartenden West-Berliner am Teltow-Kanal hofften, sondern Zement für den englischen Militärflugplatz in Gatow."