Dienstag, 19. März 2024

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70 Jahre Grundgesetz
"Eine Verfassung der Freiheit"

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten eine wehrhafte Demokratie gegen autoritäre Bestrebungen schaffen, sagte die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Dlf. Doch die Verfassung lebe nicht vom Text allein. Bürgerinnen und Bürger müssten sie persönlich verteidigen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Jasper Barenberg | 23.05.2019
Die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bei der Vorstellung ihres Buches "Haltung ist Stärke" im März 2017
Einige Grundrechte gerieten unter Druck - das werde von Populisten ganz bewusst betrieben, sagte Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) im Dlf (picture alliance/ dpa/ Michael Kappeler)
Jasper Barenberg: Die Deutschen mögen ihr Grundgesetz. Das bestätigen Umfragen immer wieder. Man kann sogar sagen, ganz anders als zu Beginn wird die deutsche Nachkriegsverfassung heute geradezu verehrt. Was unsere Hörerinnen und Hörer an ihr schätzen, aber auch, wo sie unzufrieden sind oder was sie kritisch sehen, das können Sie in inzwischen 70 Folgen hier jeden Tag im Deutschlandfunk hören in unserer Reihe "Mein Grundgesetz, meine Meinung".
70 Jahre Grundgesetz – vor dieser Sendung konnte ich darüber mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprechen. Und ich habe die frühere Bundesjustizministerin gefragt, ob auch ihr ein Artikel unserer Verfassung ganz besonders wichtig ist.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Artikel fünf, klar: Pressefreiheit, Meinung, Kunstfreiheit uneingeschränkt. Das ist der, der die Demokratie konstitutiv mit begründet und der am meisten im Moment auch unter Beschuss ist.
Barenberg: Ich habe jetzt natürlich vermutet oder mir überlegt, vielleicht nennen Sie auch …
Leutheusser-Schnarrenberger: Artikel eins.
Barenberg: Ja, Artikel eins. Natürlich!
Leutheusser-Schnarrenberger: Oder 13, haben Sie gedacht.
Barenberg: Oder natürlich 13: Die Wohnung ist unverletzlich, weil Sie ja Ihre eigene Geschichte mit diesem Artikel haben. Sie sind 1996 zurückgetreten als Bundesjustizministerin, weil Sie eine Veränderung, eine Ergänzung dieses Artikels nicht mittragen wollten. Damals ging es um den berühmt-berüchtigten großen Lauschangriff.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja.
Barenberg: Wie oft denken Sie noch an diese Zeit zurück und an das, was das mit Ihnen gemacht hat, wie wichtig ist mir das Grundgesetz?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, ich denke insofern immer mal wieder daran zurück, weil ich nach wie vor darauf angesprochen werde, aber weil natürlich wir über Überwachung jetzt der Smartphones, der Online-Durchsuchung, viele andere Dinge reden und ich mir immer sage, was geht denn noch alles, um die Privatsphäre des Einzelnen möglichst sichtbar zu machen, zu durchleuchten, transparent zu machen. Von daher finde ich das nach wie vor so aktuell, weil der Grundgedanke ja heute auch noch da ist, auch wenn es damals die Wohnung war. Heute sind es die Kommunikationsmöglichkeiten, die mobilen Endgeräte, die noch eine ganz andere Dimension auch für die Gefährdung von Privatsphäre ermöglichen.
Barenberg: Sie haben eben zu Beginn gesagt, die Presse-, die Meinungs-, die Versammlungsfreiheit, das ist das, was Sie ganz oben auf Ihre persönliche Liste setzen würden. Und Sie haben gesagt, das ist konstitutiv.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja.
"Ohne Meinungsfreiheit keine Streitauseinandersetzung in einer Demokratie"
Barenberg: Und das, glauben Sie, das ist bis heute nach 70 Jahren immer noch für Sie das Wichtigste am Grundgesetz überhaupt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, denn ohne diese Meinungsfreiheit, die bis fast zu Schmerzgrenzen hin ja auch extensiv ausgenutzt wird, gäbe es keine Streitauseinandersetzung in einer Demokratie, keine lebendige Auseinandersetzung. Ohne die Medien, ohne unabhängige Medien und die Pressefreiheit, ja, da wären wir gleichgeschaltet, was ja manche vielleicht gerne hätten. Die würden gerne nur einseitig immer bestimmte Desinformationen betreiben. Und die Kunstfreiheit kommt ja auch sofort unter Druck, wenn es autoritäre Tendenzen in Staaten gibt. Schauen Sie sich es an in anderen europäischen Mitgliedsstaaten, aber auch darüber hinaus. Und wenn man dann sieht, wie auch mit Erinnerungsstätten umgegangen wird – ein Mahnmal der Schande ist das dann mit einem Mal, das Holocaust-Mahnmal in Berlin -, da, denke ich, merkt man, wie doch gerade dieser zentrale Artikel schwer von Teilen der Bevölkerung und von einigen Politikern unter Beschuss genommen wird.
Barenberg: Da würde ich gleich noch anschließen an diese Frage. Jetzt haben wir aber ein paar Artikel schon genannt: Artikel eins, die Würde des Menschen ist unantastbar, es gibt den Artikel drei, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, den Artikel fünf, eine Zensur findet nicht statt. Es sind häufig sehr nüchterne, sachliche, sehr präzise, knappe Formulierungen. Und viele sagen ja in diesen Tagen oder zitieren dieses Wort, das Grundgesetz ist ein Glücksfall für Deutschland gewesen. Ist das mehr als eine Floskel für Sie?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist für mich mehr als eine Floskel. Es war damals wirklich sehr, sehr vorausschauend, was die Mütter und Väter im Parlamentarischen Rat formuliert haben, denn sie hatten eine Vorstellung, wie denn sich diese Bundesrepublik Deutschland, die damals ja noch besetzt war, entwickeln sollte und dass man eine Verfassung der Freiheit, damals noch als Provisorium angesehen, formuliert hat und deshalb die Grundrechte eins folgende an den Anfang gestellt hat und nicht weiter hinten sie mal nennt, wie das ja in der Weimarer Reichsverfassung war, aber wie es ja auch in der bayerischen Verfassung der Fall ist.
Barenberg: Sie als Liberale sagen, das ist eine Verfassung der Freiheit?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja.
"Wehrhafte Demokratie gegen autoritäre Bestrebungen"
Barenberg: Das ist natürlich nachvollziehbar, eine Verfassung der Freiheit. War das auch damals ein Risiko, das diejenigen eingegangen sind, die an dieser Verfassung gearbeitet haben und sie zusammengestellt haben?
Leutheusser-Schnarrenberger: Es war ja ganz klar, dass man eine Verfassung schaffen wollte, die eben nicht wieder es ermöglicht, dass politische Kräfte, Regierungen so ihre Rechte sich zusammenklauben, dass am Ende die Freiheitsrechte, die Rechte des Bürgers überhaupt keine Rolle spielen. Man wollte eine wehrhafte Demokratie gegen autoritäre Bestrebungen schaffen, und dazu gehören nun mal unverzichtbar Rechte, die den Bürger stark machen. Ich glaube, das war einer der Hauptbeweggründe. Da kommen natürlich Föderalismus, nicht zu viel Zentralgewalt, andere Dinge noch dazu, auch die Möglichkeit eines Parteienverbotes, aber das hat doch alle die Vertreter da der unterschiedlichen Parteien doch schon auch geeint.
Barenberg: Und wenn ich Sie richtig verstehe, dann sehen Sie jetzt schon die Gefahr, dass einige der Grundrechte und damit ja auch der Grundwerte, an die wir uns gewissermaßen alle als selbstverständlich gewöhnt haben, dass die unter Druck geraten - unter Beschuss, haben Sie gesagt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, eindeutig! Wenn ein Wort aus der damaligen Zeit, aus der Nazi-Zeit, Lügenpresse, jetzt zum Standard-Repertoire gehört von Rechtspopulisten, mit dem sie gegen die Medien, ganz besonders gegen öffentlich-rechtliche Medien, gegen Journalisten agitieren, denen immer unterstellen, sie würden da nur mit Falschbehauptungen agieren; es waren noch nie so viele Journalisten da, die auch auf Versammlungen Gefahr oder Angst haben mussten, dass sie Übergriffen ausgesetzt sind, dass man ihnen die Kameras wegreißt. Das ist doch für mich eigentlich unvorstellbar gewesen. Ja, da geraten einige Grundrechte unter Druck, und es wird ganz bewusst betrieben. Ganz bewusst soll damit auch Verunsicherung erzeugt werden, um dann eine Stimmung zu haben, die sagt, können wir doch noch ein bisschen mehr eingrenzen, machen wir noch ein paar Gesetze, ist doch alles so entsetzlich, die jetzt die Meinungsfreiheit begrenzen, dann ist es auch nicht so unruhig im Lande. – Ganz, ganz gefährliche Entwicklungen, und deshalb muss man einfach auch gerade die Bürgerinnen und Bürger aufrufen, das mit zu erkennen, denn die Verfassung lebt und die Grundrechte leben nicht vom Text allein, sondern davon, dass wir uns ihrer bewusst sind und sie auch wirklich verteidigen persönlich.
"Uns dieses Schatzes der Grundrechte bewusst sein"
Barenberg: Sind sie uns zu selbstverständlich geworden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ein Stück weit glaube ich das schon, ja, denn wir haben nun mal diese Freiheitsrechte seit 70 Jahren. Deutschland, die Bundesrepublik ist ein freies Land mit vielen Möglichkeiten für den Einzelnen, der sich entfalten kann, und das ist wirklich auch ganz gut abgesichert. Von daher, glaube ich, können wir uns im Moment gar nicht so vorstellen, besonders viele junge Menschen sich gar nicht vorstellen, dass es dann tatsächlich vielleicht Zensur gäbe, oder dass die Freizügigkeit gar nicht so gewährleistet ist, dass man gar nicht möchte, dass man hingehen kann wo man will hier in Deutschland, dass man auch sagt, ja ist doch selbstverständlich, das Smartphone, das müssen wir mal ordentlich durchsuchen, vielleicht finden wir irgendeine Information über einen Gefährder oder über einen Links- oder Rechtsextremisten. – Ich denke: Ja, wir müssen uns dieses Schatzes der Grundrechte ganz, ganz bewusst sein.
Barenberg: Wenn wir uns umschauen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, und wir schauen zum Beispiel in die USA, wir schauen nach Polen, nach Ungarn und seit ein paar Tagen ja auch nach Österreich, wo wir einiges über Machtfantasien oder Allmachtsfantasien gelernt haben, dann sieht man: Außerhalb von Deutschland, in anderen Ländern sind die Institutionen, die demokratischen Institutionen noch viel stärker unter Druck. Wie schätzen Sie das für Deutschland und unser Grundgesetz ein? Halten die Sicherungen, wenn es bei uns darauf ankommt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass wir mit dieser verfestigten Demokratie in unserer Verfassung schon ein ganz gutes Bollwerk haben gegen populistische Bestrebungen, den Einzelnen doch eher in seinen Rechten zu beschneiden gegenüber dann dem Kollektiv, das gestärkt werden soll. Und wo richten sich zu allererst die Angriffe gegen? – Einmal gegen die Presse, das hatten wir schon, aber ganz besonders auch gegen Justiz wie in Polen. Herr Kaczynski sagte, wenn wir die Justiz nicht – ich sage es jetzt mal in meinen Worten – mehr gängeln, dann heben die unsere ganzen Gesetze wieder auf, die endlich mal Polen jetzt hin zu einer illiberalen Demokratie bringen sollen wie in Ungarn. – Ich denke, dass wir hier schon feste Institutionen haben. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes und als ein Gericht, das wirklich die Freiheitsrechte konkretisiert und weiterentwickelt hat, in dem Wahlverfahren der Richter auch verfassungsmäßig abgesichert sein sollte. Wir wissen, für was es zuständig ist, dass die Richter von Bundesrat und Bundestag gewählt werden. Aber wie das Verfahren ist, Mehrheitsentscheidungen und so weiter, das, denke ich, sollten wir im Grundgesetz absichern, denn das sind so die ersten Stellschrauben, an die man rangeht, und das sieht dann so harmlos aus, hat aber gravierende Auswirkungen, weil es nämlich die politische Beeinflussung von Richtern zum Ziel hat.
"Verfassungsgericht noch wetterfester machen"
Barenberg: Und – das muss man vielleicht dazu sagen: Die Regeln für das Bundesverfassungsgericht lassen sich mit einer Stimme Mehrheit auch ändern.
Leutheusser-Schnarrenberger: So ist das eben als einfaches Gesetz. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthält das. Und da könnte ich mir mal vorstellen, dass wir das Verfassungsgericht wirklich auch gegenüber solchen möglichen Bestrebungen noch wetterfester machen. Es wird ja auch übers Wahlrecht nachgedacht, dass da nicht ein Wahlrecht versucht wird einzuführen, das vielleicht einseitige Entwicklungen begünstigt. Das kann ich so pauschal nicht beurteilen; das ist ja eine ganz, ganz komplexe und schwierige Materie. Ich bin aber nicht der Meinung, dass man überall bei den Grundrechten hier und da noch ein Sätzchen hinzufügen sollte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.