Es gibt im Journalismus Arbeiten, bei denen ich froh bin, sie nicht übernehmen zu müssen. Dabei sprechen wir von herausragend platzierten Beiträgen, den ganz großen Dingern –Titelgeschichten und Aufmachern, die der Chef noch selbst schreibt, oder mittlerweile auch mal die Chefin. Und die schon durch den Raum, den sie einnehmen, allergrößte Wichtigkeit vermitteln.
Leider ist es bei diesen journalistischen Arbeiten nur so, dass sich die Bedeutung ihres Gegenstands umgekehrt proportional zur Attraktivität des fertigen Beitrags verhält – salopp gesagt: je superwichtiger das Thema, desto größer die Mühe, beim Lesen oder Zuhören nicht einzuschlafen.
Die Rede ist vom Jubiläumsjournalismus und dabei von einer ganz besonderen Spielart: dem Staatliches-Jubliäums-Journalismus. Sowas wie 30 Jahre deutsche Einheit oder 75 Jahre Grundgesetz – die journalistische Begleitung von historischen Ereignissen, die einen selbst noch betreffen, weshalb man etwas ungelenk wohl präziserweise Der-Staat-in-dem-man-selbst-lebt-und-der-ein-Jubiläum-feiert-Journalismus sagen müsste.
Es geht um Bedeutung statt Neuigkeitswert
Die eigene Geschichte kennt man aber eigentlich ganz gut. Das macht einen Großteil der "75 Jahre Grundgesetz"-Beiträge so langweilig. Und es ist ja auch nicht so, dass diese Texte verfasst werden, weil ihr Neuigkeitswert so irre hoch ist, sondern damit Bedeutung plakatiert wird – Verfassung ist wichtig, Staat ist wichtig, also ist es der Beitrag dazu auch.
Das kann man so sehen, das ist aber auch der Grund für die Langeweile: Denn der Jubiläumstext muss so zwei Sachen gleichzeitig machen: informieren und feiern. Was zur Folge hat, dass das Informieren die Laune nicht zu sehr trüben darf. Man kennt das von privaten Geburtstagsfeiern – da sind Reden auf die Jubilarin auch nicht dazu gedacht, am Tag des Festes die problematischen Teile ihres Charakters herauszustreichen.
Die Lobhudelei lässt einen Teil aus
Das Loblied auf 75 Jahre Grundgesetz geht so: Das Grundgesetz ist Zeichen dafür, dass Deutschland aus den Verbrechen der Nazi-Diktatur gelernt hat. Das stimmt. Aber es ist nicht die ganze Geschichte. Denn wenn man auf diese 75 Jahre schaut, dann stößt man darin auf eine bedrückende Kontinuität: Hunderte von Menschen, die durch rechte Gewalt gestorben sind. Mit dem Wissensstand von heute: seit fast 60 Jahren.
Und diese Kontinuität wäre dann die problematische Realität von 75 Jahren Grundgesetz. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland durch rechte Gewalt gestorben sind, ist größer als die der Opfer von DDR-Grenzregime und linksextremer RAF zusammen. Und das bedeutet: Zum Lernerfolg aus der Nazi-Diktatur, für den das Grundgesetz steht, gehört leider nicht, dass der Staat, also Politik, Polizei und Gerichte rechte Gewalt konsequent und hart bekämpfen würde. Und daran könnten Medien dann schon erinnern, gerade zum Jubiläum unserer Verfassung.
Matthias Dell, 1976 geboren, ist freier Redakteur und Autor bei Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. Auf ZEIT ONLINE veröffentlicht er wöchentlich "Tatort"- und "Polizeiruf 110"-Kritiken.