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"97 Prozent der Hartz-IV-Empfänger kriegen keine Sanktionen"

Mehr Sanktionen für unzuverlässige Hartz-IV-Empfänger seien ein gutes Zeichen, sagt Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Die Jobcenter kümmerten sich intensiv um die Menschen. Strafen gebe es außerdem nur in Ausnahmefällen. Grundsätzlich sei das System gut aufgestellt.

Johannes Vogel im Gespräch mit Dirk Müller | 11.04.2013
    Dirk Müller: So viele Sanktionen, so viele Strafen gab es noch nie gegen Empfänger von Hartz IV. Von über einer Million ist nun die Rede, Sanktionen gegen diejenigen, die offenbar gegen die Regeln verstoßen, die die Bedingungen nicht erfüllen, die Jobangebote ablehnen, die krank sind ohne Krankenschein. Mehr Kontrolle ist also die Devise, und diese scheinen sich zu lohnen, denn dann gibt es weniger Geld vom Staat.
    Ein Strafenrekord, ein Sanktionsrekord gegenüber Hartz-IV-Empfängern – das ist weiterhin unser Thema. Am Telefon begrüße ich dazu Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Guten Tag.

    Johannes Vogel: Hallo, Herr Müller. Ich grüße Sie.

    Müller: Herr Vogel, sind mehr Sanktionen ein gutes Zeichen?

    Vogel: Ja. Wir haben ja gerade von Ihrem Korrespondenten das schon sehr schön zusammengefasst bekommen. Erstens muss man wirklich auch noch mal klar sagen: Rund 97 Prozent der Hartz-IV-Empfänger kriegen keine Sanktionen, kommen mit Sanktionen gar nicht in Kontakt. Der Regelfall ist: Alle verhalten sich konstruktiv, alle spielen nach den Regeln, das läuft gut. Und dann gibt es in der Tat natürlich die, die das nicht tun, und dann gibt es die Möglichkeit von Sanktionen. Und wie richtig gesagt wurde: Das kann man schon sehr plausibel mit der guten Arbeitsmarktlage erklären. So soll es ja sein! Der Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig, die Jobcenter können mehr Angebote machen, sich intensiver auch um die Menschen kümmern. Wir wollen ja, dass Hartz IV keine Dauerlösung ist, sondern dass die Menschen wieder den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen, und dann kommt es eben auch häufiger vor in Summe, dass es mal jemanden gibt, der zum Beispiel dann zum Termin nicht erscheint und dass dann eine Sanktion verhängt wird.

    Müller: Sie tun jetzt ein bisschen so, als sei das die Ausnahme. Wenn wir die Zahlen jetzt richtig verstanden haben – es geht um über eine Million Fälle -, das sind doch keine Ausnahmen.

    Vogel: Nun ja, das ist die Gesamtzahl insgesamt an verhängten Sanktionen. Das ist die Gesamtaddition des Jahres, da sind auch Doppelzählungen drin. Wenn einer wirklich ein schwieriger Fall ist und immer wieder, dann wird sozusagen jede einzelne Sanktion hier auch gezählt. Wir haben ja schon gehört: Im Jahresschnitt waren das 2012 150.000. Im Jahr davor waren es 146.000. Wenn man das aber in Bezug setzt zu der Gesamtzahl von Menschen, die im System sind, dann kommt unterm Strich heraus: 3,4 Prozent aller Menschen im System sind mit einer oder mehr Sanktionen belegt worden. Das heißt im Umkehrschluss: 96,6, also rund 97 Prozent, kommen damit nicht in Kontakt. Das gehört dann, glaube ich, auch zum Lagebild dazu und erklärt, was ich eben gesagt habe.

    Müller: Dann reden wir, Johannes Vogel, genau über diese Zahl. Viele sagen – und auch viele in Ihrer Partei, aus der Union, teilweise auch Sozialdemokraten -, im Grunde sind wir, sprich die Arbeitsagenturen, die zuständigen Behörden, nicht nahe genug dran. Fördern und Fordern, aber letztendlich wird nicht genügend gefordert. Stimmt das?

    Vogel: Nein. Ich glaube, klar muss sein, das Bessere ist immer der Feind des Guten und wir haben immer noch viele Menschen, die langzeitarbeitslos sind, und da geht es mehr darum, dass möglichst jedem Einzelnen eine Chance auf Einstieg und dann auch Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt gegeben wird. Nur wenn ich mir anschaue, wie ist insgesamt die Entwicklung – Sie kennen das ja: Wir haben eine rekordniedrige Arbeitslosigkeit, Rekordbeschäftigung, niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa und auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt. Wir haben den zweiten Aufschwung in Folge in Deutschland überhaupt, wo die Sockelarbeitslosigkeit reduziert werden konnte. Früher ist die über die Jahre und die Konjunkturdellen insgesamt immer weiter angestiegen. Dann würde ich doch sagen, es geht grundsätzlich in die richtige Richtung. Dazu gehört dann aber auch beides, wie Sie sagen: Fördern und Fordern.

    Ich glaube, es ist genau richtig, dass wir als Gesellschaft, als Solidargemeinschaft das Existenzminimum zur Verfügung stellen, garantieren, dass niemand darunter fällt, aber eben auch nicht aus den Augen verlieren, wir wollen ja, dass die Menschen auf eigenen Beinen stehen. Dazu gehört dann Fördern, dazu gehören Fördermaßnahmen, Bildungsmaßnahmen, Qualifikationsmaßnahmen, vieles andere, aber eben auch Fordern. Weil ich glaube, wir würden als Gesellschaft und die meisten Menschen das System doch nicht mehr akzeptieren, wenn jemand, der einfach nicht mitmacht und nicht nach den Regeln spielt, dann keinerlei Konsequenzen zu fürchten hat. Also ich glaube, das System ist grundsätzlich richtig aufgestellt, und ich kann auch nicht erkennen, angesichts der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt und auch der guten Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit, dass ich jetzt den Jobcentern vorwerfen würde, sie sind da zu weit weg von den Menschen. Ich glaube, die Arbeit läuft im Grundsatz gut. Dass wir immer noch besser werden können, ist klar.

    Müller: Ist der Forderungskatalog scharf und konsequent genug oder nicht?

    Vogel: Ich finde, absolut. Der Sanktionskatalog, den wir haben, ist absolut ausreichend und wird auch vernünftig insgesamt angewandt, wie wir, glaube ich, in den Zahlen erkennen können.

    Müller: Jetzt gibt es ja auch Kritiker, viele aus der Linkspartei, aber auch vonseiten der Sozialdemokraten, die da sagen, die ganze Entwicklung, die Sie jetzt beschrieben haben, die Anderen würden sagen schön geredet haben - drei Millionen Arbeitslose sind ja immerhin drei Millionen Arbeitslose, viele davon sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, können nicht davon leben, 2,6 Millionen in Deutschland müssen einen Zweitjob aufnehmen, um sich dementsprechend ernähren zu können, um ihre Existenz sichern zu können -, so rosig, wie die Regierungskoalition es darstellt, ist es nicht. Wo liegen die Probleme?

    Vogel: Sie haben gerade ja sozusagen beides beschrieben, die Frage der Arbeitslosigkeit und was ist, wenn jemand einen Job hat. Ich glaube, wir müssen auch bei der Lösung immer beides im Blick haben. Wir müssen einerseits dafür sorgen, dass die Menschen eine Aufstiegsperspektive am Arbeitsmarkt haben. Aber vor Aufstieg muss natürlich Einstieg stehen. Wenn ich arbeitslos bin, dann bin ich draußen, dann habe ich gar keine Chance. Beides wollen wir reduzieren. Ich glaube, die Zahlen, die ich eben beschrieben habe, sprechen für sich. Ich greife nur noch mal eine heraus, weil ich mich nicht wiederholen will: die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Das muss man sich mal klar machen. Das fängt ja gerade am Anfang des Lebens an, wo junge Menschen gar nicht erst die Chance haben einzusteigen.

    Müller: Herr Vogel, das muss man vielleicht in Relation setzen dazu, dass andere Länder ja mit 50 Prozent zu kämpfen haben, das ist ja nicht unser Maßstab.

    Vogel: Absolut! Da haben Sie völlig recht. Aber wir reden ja nicht nur von den Extremfällen wie Spanien, sondern auch Frankreich hat dreimal so hohe Jugendarbeitslosigkeit, Schweden doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit. Also ich glaube, das ist schon gut. Und Sie haben dann die Frage nach der Qualität von Arbeit gestellt. Auch da muss man sagen: Niedriglohnsektor ist zuletzt geschrumpft. Die Einkommensungleichheit nimmt seit 2006 nicht mehr zu. Also die Entwicklung ist auch da, glaube ich, besser, als sie von der Opposition, ich könnte jetzt sagen, schlecht geredet wird, aber natürlich will man sich nicht ausruhen. Ich habe eben gesagt: Es geht um Einstieg, aber auch um Aufstieg. Aber da gibt es eine zentrale Antwort: Das ist das Thema Qualifikation. Deshalb machen wir ja auch mehr, um in die Qualifikation zu investieren.

    Müller: Und deswegen überlegen Sie tatsächlich auch in der FDP, einen Mindestlohn in irgendeiner Form zu ermöglichen, weil der Niedriglohnsektor abgebaut worden ist?

    Vogel: Dazu wollte ich gerade kommen. Ich glaube, dass es dann auch richtig ist, sich in Einzelfällen anzuschauen, wo findet Missbrauch statt. Und ich bin weiterhin der Auffassung – das teilt, glaube ich, auch jeder in meiner Partei -, ein einheitlicher flächendeckender Mindestlohn, der ist brandgefährlich, weil er eben zeigt in den Ländern, die den haben – Frankreich habe ich gerade schon als Beispiel genannt -, er verhindert Einstieg am Arbeitsmarkt. Nur wie gesagt, wir wollen Einstieg und Aufstieg am Arbeitsmarkt. Das heißt, die Menschen müssen natürlich ordentlich bezahlt werden, und wenn es in Einzelfällen Lohndumping gibt, dann muss man auch was dagegen tun können. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, dass wir die Möglichkeit von tariflichen Lohnuntergrenzen haben.

    Wir haben ja zum Beispiel in dieser Legislaturperiode in vielen Branchen allein für über zwei Millionen Beschäftigte tarifliche Lohnuntergrenzen neu eingeführt. Dort wird dann die Lohnhöhe aber nicht durch die Politik, sondern durch die Tarifpartner festgelegt, zum Beispiel in der Zeitarbeit und in der Pflege, und ich glaube, den Weg sollte man weitergehen. Ich persönlich bin der Meinung, wir sollten, auch wenn in weiteren Branchen hier der Bedarf besteht und die Tarifpartner das wollen, eine branchenbezogene Lohnuntergrenze festlegen, dass wir ihnen das ermöglichen sollten, und darüber diskutieren wir jetzt gerade in der FDP und entscheiden auf dem nächsten Bundesparteitag.

    Müller: Wann ist der?

    Vogel: Der ist Anfang Mai.

    Müller: Und dann wird es eine Entscheidung geben, definitiv?

    Vogel: Wir haben im Wahlprogramm zwei Alternativen …

    Müller: Vor der Bundestagswahl?

    Vogel: Genau! Im Wahlprogramm gibt es zwei Alternativen und die FDP ist eine basisdemokratische Partei. Wir sind ja auch die Einzigen, die zum Beispiel sich die Frage des ESM, die ganze Frage der Euro-Rettung in einem Mitgliederentscheid intensiv diskutiert haben. Und der Parteitag wird entscheiden unsere Position vor der Bundestagswahl.

    Müller: Und Sie stimmen dafür?

    Vogel: Ich bin für die sogenannte Variante A, die sagt: einheitlicher flächendeckender Mindestlohn nein, der verhindert Einstiegschancen, der schafft Arbeitslosigkeit. Aber tarifliche Lohnuntergrenzen sind richtig, die sorgen für faire Entlohnung. Und dann ist es auch richtig, den Weg fortzusetzen, und wenn es weitere Branchen gibt, wo wir die brauchen, dann es auch da möglich zu machen. Ich bin dafür, ja.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Vogel: Herr Müller, danke Ihnen! Schönen Tag!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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