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"Achtung, Gletscherspalten!"

Der Gipfel des Großvenedigers im Hohen Tauern zieht jedes Jahr Tausende Alpinisten an. Doch Österreichs dritthöchster Berg wird oft unterschätzt. Solide Kondition und alpine Kenntnisse sind ein Muss – vor den Wetterlaunen ist man damit noch nicht gefeit.

Von Andreas Burman |
    Vormittag, gegen halb elf, auf dem Gletscher des Großvenedigers. Zu viert stehen wir auf dem Rainertörl-Plateau auf rund 3300 Metern an einer mannshohen Orientierungsstange mit vier Richtungspfeilen. An ihnen hängen vier Klang-Klöppel, die im leichten Wind gegen die metallene Stange schlagen. Ihre Signaltöne verlieren sich in dichtem Nebel und mit ihnen unsere Blicke. Dreihundert Höhenmeter unter dem Gipfel droht uns der Abbruch unseres Aufstiegs. Mithilfe unserer Tourenkarte versuchen wir uns zu orientieren:

    "Also wir sind hier drei-drei-vierunddreißig hoch …"

    "Ja, dann sind wir hier."

    "Ja, ja, also hier, in dem Bereich, da sind wir. Ich würde sagen …"

    "Nee, nee, wir sind ja von hier gekommen, wir sind schon bisschen was entfernt. Aber ist ja egal."

    "Ja." – "Ok, das heißt, wir müssen uns schon in Richtung Aufschwung hier orientieren …"

    "Ja, wir müssen jetzt im Prinzip weiter ..."

    "Also Nord-Nord-West."

    "Aber nicht bis dahin. Nicht bis dahin, sondern links halten davon."

    "Mehr nördlich?"

    Am Morgen des Tags davor, in unserer Unterkunft, einem Gasthof im Dorf Hinterbichl, im hinteren Virgental. Dirk hat gerade noch einmal im Internet verschiedene Wetterprognosen für unsere geplante Skitour auf den Großvenediger verglichen. In den vier Tagen seit unserer Ankunft hatte reichlich schlechtes Wetter unser Vorhaben zunehmend infrage gestellt. Eine kleine Chance bleibt uns allerdings noch:

    ""Ja, wir haben ’ne relativ gute Prognose für morgen, zumindest ein Wetterfenster, das um sieben, acht Uhr beginnen soll, bis zum frühen Nachmittag. Was wir eigentlich ausnützen müssen, so hoch wie möglich zu gehen, nämlich bis zur Defereggenhütte, auf 2900 Meter liegend. Dann hätten wir nur noch rund 750 Höhenmeter bis zum Venediger. Also von dort aus der kürzeste Anstieg und eben die größte Wahrscheinlichkeit, das innerhalb des Wetterfensters dann zu realisieren."

    Mit einem Kleinbus fahren wir vom Dorf Hinterbichl im Virgental in das seitlich abgehende Dorfertal. Recht schmal ist es und schroff, beinahe abweisend ragen die dunklen Felswände der Bergflanken zu den Seiten auf. Im Talgrund liegen zahlreiche herabgepolterte Felsbrocken auf den Wiesen, schmale Geröllhalden ziehen sich von den Felswände herab. Wenn die Virgentaler sagen, sie bewohnten das schönste Ende der Welt, dann ist das Dorfertal sicherlich ihr wildestes Ende.

    Vor den Resten einer Schneelawine endet die Fahrt. Die von mitgerissener Erde schmutzig marmorierte Masse versperrt den Weg auf ganzer Breite. Die Fahrt mit dem Kleinbus hat uns eine gute Stunde Fußmarsch erspart, doch jetzt heißt es: Skischuhe und Skier am ohnehin gut gefüllten Rucksack befestigen und alles schultern. Statt mit vielen PS geht es mit vier MS, vier Männerstärken, zu Fuß weiter:

    ""Ist ja wie in Nepal, da." – "Ja, dafür hab’ ich ja kein Abitur gemacht, dass ich hier schleppen muss wie ein Kamel." – "Also ich schätze, jetzt hat jeder mindestens zwanzig Kilo auf dem Rücken. Und das bei Sommerhitze. Aber so ist der Alpinismus, nichts für Weicheier …"

    Wahre Leidensfähigkeit will eben gebührend bekundet sein. Immerhin können wir im langsamen Aufstieg die Berglandschaft auf uns wirken lassen. Was wir dabei nicht ahnen: An den würzig-warmen Duft der Nadelbäume sollen wir uns noch am Abend wehmütig erinnern.
    Nach einer halben Stunde zeigt sich über dem Ende des Tals erstmals das breite vergletscherte Massiv des Großvenedigers. Es reicht von der weißen Gipfelkappe mit ihrem kleinen Zipfel zur Linken hinüber zum schrägen Felsaufbau des fast gleich hohen Rainerhorns etwa in der Mitte, und wir erblicken, rechts davon, jetzt auch das Schwarze Aderl: Ein langer, steil aufwärts ziehender dunkler Felsgrat. In dessen oberen Teil liegt auf knapp 3.000 Metern unser Tagesziel, die Defereggenhütte. Jetzt lässt sich gut erkennen, warum es besser ist, das vorhergesagte Schönwetter-Fenster von dort aus zu nutzen, sagt Gerwald:

    "Wir sehen: Der Höhenunterschied von der Hütte zum Großvenediger ist nicht riesig, aber es ist auch eine ganze Strecke. Und da auf dem Gletscher, hat’s einen Spaltentoten gegeben vor einer Woche. Da muss man sich orientieren können. Deswegen brauchen wir da passable Sicht."

    Der Unglücksfall auf dem Gletscher, den Gerwald erwähnt, war der zweite innerhalb eines Monats. Allerdings war er besonders tragisch. Bei der Bergung der Leiche aus einer 40 Meter tiefen Spalte verlor ein Mann der Osttiroler Bergrettung sein Leben, ein zweiter überlebte – wie durch ein Wunder – trotz 36 Knochenbrüchen, ein dritter kam mit gebrochenen Rippen davon. Das Entsetzen unter den Einheimischen, ihre Fassungslosigkeit konnte unser Wirt in Hinterbichl gut in Worte fassen. Erst recht, weil Bernhard Berger selbst seit Jahren der Osttiroler Bergrettung angehört. Und gerade deshalb betonte er aber auch, dass es nur wenige solche Unglücksfälle gibt. Tausende andere Tourengeher kehren mit einem wunderbaren Erlebnis vom Großvenediger zurück, sagte er:

    "Es ist einer der schönsten Skitourenberge, weil er die längste Abfahrt hat. Er hat die größte Überdachung vom Gletscher. Man kann praktisch auf drei Seiten abfahren: Kürsingerhütte, Prager Hütte, Tauernhaus bzw. Johannishütte zu unserer Seite her. Und im Normalfall, von 3.670 kann man runterfahren auf 1800 Meter. Und so viele Berge gibt’s nicht, wo man das machen kann."

    Mit seinem Wissen und seiner Erfahrung hat Bernhard uns dann bei der Vorbereitung unserer Skitour so gut unterstützt, wie er uns in seinem 400 Jahre alten Gasthof mit ehrlicher Gastfreundlichkeit bewirtet hat. Das macht unsere Aufstiegsroute besser.

    ""Da vorne können wir die Ochsenhütte sehen, 2.050 Meter, und ab der Hütte können wir davon ausgehen, dass wir noch rund einen Kilometer haben bis zur Johannishütte. Hoffen dort auf genügend Schnee, sodass wir endlich unseren Ballast abwerfen können, nämlich Skier plus Schuhe. Also hoffentlich in zwanzig, dreißig Minuten weg damit."

    Immer häufiger stapfen wir über immer größere Restfelder von Altschnee. Begleitet vom Rauschen des Dorferbachs unterhalb des Wegs und dem aufgeregten Pfeifen von Murmeltieren auf der anderen Talseite erreichen wir nach einer guten Stunde und den ersten 300 Höhenmetern die bis Juni geschlossene Johannishütte. Endlich steigen wir in unsere Tourenskier:

    Und schon gleiten wir über den wegen der warmen Witterung sehr feuchten und mitunter wegrutschenden Schnee. Das heißt, zweimal müssen wir unsere Skier doch noch über Grasflächen tragen, doch dann haben wir es endgültig geschafft. Rund drei Stunden lang ziehen wir unsere Spur durch nicht zu steiles Gelände aufwärts. Erst als die Deferregenhütte nur einige hundert Meter weg vor uns auftaucht, mahnt Dirk bei einer Hang-Querung zu besonderer Vorsicht.

    "Also ein durchaus steiler Hang, der dann auch im oberen Teil 40 Grad erreicht. Und ein paar Stunden wird die Sonne hier schon aktiv gewesen sein können und hat die Schneedecke aufgeweicht. Und damit besteht natürlich ein Risiko für Lawinenabgänge und Schneebretter und so weiter."

    Dreißig Minuten später öffnen wir den großen Holzriegel der Tür zum sogenannten Winterraum, den Bereich, der auch offensteht, wenn die Haupthütte nicht bewirtschaftet, also geschlossen ist.

    Hans-Gerd beginnt sogleich, Holz zu hacken und im gusseisernen Herd ein Feuer zu schüren. Wir anderen gehen mit großen Eimern und Schaufel in den Hang neben der Hütte und holen Schnee, um ihn zum Kochen und Teebereiten zu schmelzen.

    Während draußen das Wetter zumacht, Neuschnee fällt, ist es drinnen leider nicht angenehmer: Der Ofen rußt und qualmt aus allen Ritzen und Löchern. Anstatt durch das Rohr abzuziehen, stehen die beißenden, bläulichen Rauchschwaden dick im Raum. Alle Versuche durchzulüften, sind vergeblich. Nach dem Abendessen, einer dicken Nudelsuppe, und Schokoriegel zum Nachtisch, müssen wir auf den schlichten Etagenlagern im Raum die Nacht wie Räucherwürste verbringen. Noch schlimmer: Die Wolldecken sind so alt und abgewetzt, dass uns selbst unter drei Lagen die eisige Kälte nicht schlafen lässt. Typisch für beliebte Tourenziele, meint Hans-Gerd:

    "Die Berge machen’s. Können sie sich alles erlauben. Wenn Du das Matterhorn im Rücken hast, dann kann die Hörnlihütte das letzte Drecksloch sein. Wird nichts dran getan, weil die Bergsteiger zum Berg kommen. Und hier ist der Großvenediger, und unterm Großvenediger steht der Winterraum vom Defereggenhaus. Und das ist auch so ein Drecksloch. Muss man so sagen."

    Als am Morgen das Wetter wie angekündigt aufmacht, sind wir also heilfroh, endlich wieder in die Tourenbindungen zu steigen und mit einem Check unserer Lawinen-Verschütteten-Suchgeräte aufzubrechen. Nach einer Viertelstunde kündigt Hans-Gerd den eigentlichen Teil unserer Aufstiegsroute an:

    "Wir haben jetzt die Dreitausendmeter-Marke erreicht. Wenige Meter noch, dann biegen wir links ab, steile Rinne runter auf den Gletscher."

    Beim Anseilen auf der Grathöhe erkennen wir zum ersten Mal das Gipfelkreuz unseres Ziels. Es scheint über die schöne, sanft gewellte Fläche des riesigen Gletschers mit einem Spaziergang erreichbar. Bernhard hatte jedoch erwähnt, dass im Winter weniger Schnee gefallen war, die Spalten also nicht so dick verschlossen waren wie sonst. Unser Eindruck ist also trügerisch.

    "Und wir schauen zu, dass wir uns hier nicht mehr unkontrolliert bewegen. Gerade bei Pausen ist das wichtig, wenn wir stehen bleiben. Wichtig ist, dass das Seil gespannt bleibt, und dass wir in der Spur des Vorgehenden bleiben. Und nicht zum Pinkeln irgendwie zwanzig Meter weg und möglichst auch noch ausgeseilt, dass würde ja unsere Sicherheit zunichte machen."

    Wie zur Bestätigung von Gerwalds Worten durchsticht mein Skistock bereits nach wenigen Minuten die Schneedecke und öffnet ein dunkles Loch. "Achtung, Spalte!" warne ich die anderen. Mit gestrafften Seilabständen gleiten wir auf den Skiern höher und höher. Unterhalb des Rainerhorns queren wir eine tief gähnende Spalte über eine schmale Schneebrücke und spuren dann entlang der Bergflanke. Das soll sicherer sein, sagte Bernhard. Zugleich macht leider das Wetter zu. Auf rund 3300 Metern stehen wir dann am Rainertörl im dichten Nebel vor der Frage: Abbrechen oder uns weiterwagen. Nein, beschließen wir, aufgeben wollen wir nun doch nicht so schnell. Also weiter Richtung Gipfel. Um den Rückweg zu sichern, legen wir unsere Spur so breit an, dass wie sie auch im Nebel noch ausmachen könnten. Doch wir haben Glück: Der Nebel reißt auf und wir können die Aufstiegsroute gut erkennen. Eine Stunde später, eine halbe Stunde vor Mittag, haben wir tatsächlich den schmalen ausgesetzten Grat zum Gipfelkreuz gequert. Geschafft!

    "Angekommen am dritthöchsten Gipfel Österreichs, dem Großvenediger" – "Berg heil!" – "Berg heil!" – "Gratulation, Andreas. Herrlich. Gratuliere, Gerwald." "Das hammer g’schafft.""

    Was folgt, ist eine Abfahrt auf der dünnen Neuschneedecke des weiten Gipfelhangs. Zunächst frei, später jeweils zu zweit am langen Seil - aber durchweg mit Hochgenuss.