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Gipfelsturm

Morgens um halb drei starten die Bergsteiger von der kleinen Weisshornhütte aus ihre Tour auf das 4505 Meter hohe Weisshorn. Kein Berg für Anfänger: Die 1600 Höhenmeter sollte man in sechs Stunden schaffen - wenn das Wetter mitspielt.

Von Andreas Burman |
    "Jeder Schweizer Bergbesteiger kennt das Weisshorn. Ich habe es lange als den stolzesten der Berge in den Alpen betrachtet, und die meisten anderen Reisenden teilen diese meine Meinung. Den Eindruck, den es erweckt, verdankt es zum Teil seiner verhältnismäßigen Isolierung, in der es gen Himmel aufsteigt. Es wird von anderen Bergen nicht verdeckt und ringsherum sieht man von den Alpen aus seine hohe Pyramide. Nie vorher hatte ich einen Anblick erlebt, der mich so in tiefster Seele ergriffen hätte. Ich wollte in meinem Notizbuch einige Beobachtungen niederschreiben, es war mir aber unmöglich. Es schien mir etwas Unharmonisches, wenn nicht Entweihendes, wollte ich den wissenschaftlichen Gedanken gestatten, in dieser gehobenen Stimmung sich einzuschleichen, wo schweigende Huldigung der einzig mögliche Gottesdienst war."

    Tief beeindruckt zeigte sich der Engländer John Tyndall Anfang der 1860er-Jahre in seinen Aufzeichnungen. Eigentlich war der Physiker in die Schweizer Alpen gekommen, um Gletscher zu studieren. Wie viele andere, in der Regel ebenfalls englische Zeitgenossen, erlag er dann aber doch den lockenden Berggipfeln. Und während des Goldenen Zeitalters des Alpinismus zwischen 1855 und 1865 , als die bedeutendsten Viertausender bezwungen wurden, gelang ihm einer der schwierigsten: Am 19. August 1861 stand er mit zwei schweizerischen Bergführern auf dem für unbezwingbar gehaltenen 4505 Meter hohen Weisshorn.

    Anderthalb Jahrhunderte später hat es nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Im Gegenteil, betont der international bekannte Zermatter Extrembergsteiger und Bergführer Simon Anthamatten:

    "Als Bergsteiger habe ich natürlich sicher ein anderes Niveau als früher, vor 150 Jahren. Die Tradition verbindet sich mit der Moderne und das fasziniert einen. Also man nimmt genau die gleichen Steine in die Hand wie die Leute vor 150 Jahren. Das ist nicht Fiction, sondern das ist hier und jetzt. Und es ist schön, jetzt mit dem neuen Material und der ganzen 150-Jahr-Erfahrung nochmal dasselbe zu machen. Und von diesen 150 Jahren können wir jetzt die Erfahrung sammeln und heutzutage die Berge mit der gegebenen Sicherheit, die wir bieten können, so besteigen, wie wir das jetzt machen."

    Der Aufstieg beginnt in Randa, einem Dorf auf 1400 Metern Höhe, wenige Kilometer vor dem weltberühmten Zermatt. Vom Bahnhof der Matterhorn-Gotthard-Bahn aus führt der Weg hinüber auf jene Talseite, wo noch immer deutlich der gewaltige Bergrutsch zu erkennen ist, bei dem 1991 rund 30 Millionen Kubikmeter Gestein mit Urgewalt ins Tal brachen.

    Unweit davon, talaufwärts, startet der überraschend schmale Pfad zur Weisshornhütte über teils Tannennadel-bedeckten, teils grasigen oder steinigen und von knorrigen Baumwurzeln durchzogenen Boden. Rasch windet er sich zwischen wuchtigen Felswänden aufwärts, vorbei an niedrigen Sträuchern mit roten Beeren und Alpenrosen. Der warm-würzige Duft des schattigen Bergwalds macht die Sommerhitze etwas erträglicher. Menschen begegnen mir während der 1500 Höhenmeter kaum und wenn, dann sind es Bergsteiger wie David aus dem spanischen Saragossa, mit seinen fünf Gefährten:

    "Das Weisshorn ist schon ein spezieller Berg, denn alle wollen das Matterhorn besteigen. Obwohl ich das noch nicht hinauf bin, halte ich das Weisshorn für schwieriger. Aber es ist wunderschön, schon von weither kann man es gut erkennen, zum Beispiel von Chamonix aus. Ob ich ihn schaffe, weiß ich nicht, versuchen werd' ich's."

    Beliebter ist auch der Europaweg zwischen Grächen und Zermatt genau auf der gegenüber liegenden Talseite. Unverständlicherweise! Denn nur der Weisshorn-Weg allein schenkt dem Wanderer die fantastische Aussicht - auf die Viereinhalbtausender Dom und Täschhorn. Deren riesige schräg aufstrebende, spitze Felstafeln aus Schnee und Eis wirken umso herrlicher, je höher man gelangt und je steiler der Blick auf die kleiner werdenden Dächer Randas geradezu hinab stürzt. Michael, 38, aus München sowie Edeltraud und Dieter, beide Ende 60, aus Göttingen, lassen sich das nicht entgehen:

    "Der Weg ist sehr anstrengend, eigentlich, oder relativ anstrengend, aber die Aussicht eben, oben, wenn man an der Hütte ist und dann auf die Gletscher schaut, das Weisshorn - schon was Besonderes ist, sag ich mal, von der Natur."

    und

    "Dieser Weg ist zwar anspruchsvoll, aber wenn man auf der Weisshornhütte ist, hat man eine Super-Aussicht, also da sind wir begeistert von. Der Weg ist eigentlich gut zu begehen, das muss man schon sagen." - "Man gewinnt schnell an Höhe, und Höhe macht uns nun mal nichts aus. Wir haben zu Hause mit Fahrrädern vortrainiert und Waldlauf. Wir finden das hier super, wir kommen immer wieder her."

    Zwei Stunden sind verstrichen, da öffnet sich der Wald und es geht über eine felsdurchsetzte grüne Hochalm-Landschaft weiter aufwärts. Ein frischer Wind verschafft jetzt angenehme Kühlung.

    Nach insgesamt vier Stunden erscheint schräg über uns die kleine Weisshornhütte. Beinahe trotzig behauptet sie sich auf 2900 Metern am Rand eines weiten Berg-Halbrunds, unbeeindruckt von den herabfließenden gewaltigen Gletscherbrüchen vom sattelähnlichen Mettelhorn vis-à-vis, über die Furcht einflößend schroffen Flanken des Zinalrothorns bis zum dunkel himmelwärts ziehenden mächtigen Ostgrat des Weisshorns schräg oberhalb im Rücken.

    Auf der Terrasse mit Aussicht auf 17 Viertausender sitzen neben einem Holzbrunnen einige Bergsteiger am schlichten Holztisch auf ebenso einfachen Hockern. Hüttenwart Luzius Kuster kommt aus der Küche dazu. Dichtes grau meliertes Haar, längliches, glatt rasiertes Gesicht mit forschenden Augen und ausgeprägten Wangen, ein kariertes Kurzarm-Hemd, lose über einer Jeans getragen. Seine robuste Statur, die Art, wie er sich bewegt, und sein ruhiges, bescheidenes Auftreten zeugen von einem arbeitsreichen Leben, doch der 64-Jährige sieht sich im Innersten zufrieden:

    "Ich bin hier im Paradies, es gibt nichts Schöneres um mich. Ich hab' angefangen, wollte nur einen Sommer machen, und der läuft immer noch. Ja, wenn man anfängt, muss man nicht sofort das Handtuch werfen, da macht man weiter. Da war ja nur eine kleine Hütte, heute ist sie etwas größer, und eine kleine Hütte war dazumal Kochen, Essen, Schlafen im selben Raum. Und die Leute haben ihre Suppe und die Wurst mitgebracht, und der Hüttenwirt hat sie dann nur zubereitet."

    Das ist längst Vergangenheit, heute werden die Lebensmittel mit dem Helikopter herauf geflogen, bereitet Luzius ganze Menüs zu, mittags und abends. Hinzu kommt die geteilte Nacht: Zwar gehen um zehn die Lichter aus, doch um eins klingelt Luzius' Wecker: Aufstehen und Frühstück richten, damit die bis zu 30 Gäste um halb drei zum Berg aufbrechen können, danach Geschirr abwaschen und zurück ins Bett. Um sieben ist die Nacht dann zu Ende. Einen festen Platz haben Frühstück und Nachmittags-Kaffee mit den beiden 20 und 24 Jahre alten Töchtern.

    "Wir nehmen uns die Zeit dafür, und das ist hier oben sehr wichtig. Man lebt auf engem Raum und da muss man schon schauen, dass man miteinander auskommt."

    Einen wichtigen Ausgleich findet Luzius in der Natur, wenn sie ihm stimmungsvolle Sonnenuntergänge schenkt und ihn Steinböcke, Gämsen, Wiesel oder Adler beobachten lässt. Sie bereitet ihm aber auch manche Probleme. 1989 verschob ein Schneebrett die Holzhütte auf ihrem Stein-Fundament:

    "Da hat man mit fünf Seilzügen die ganze Hütte zurückgezogen und dann frisch versteckt."

    Unterhalb einer bis vier Meter dicken Lawinenschutzmauer. Gegenwärtig kämpft Luzius gegen die Wassernot: Der Gletscher zieht sich immer mehr zurück, zudem hat ein schnee-armer Winter das Schmelzwasser verknappt.

    Welchen Luxus die inzwischen seit 111 Jahren bestehende Hütte für die Bergsteiger heute bedeutet, weiß Dave Mitglied des legendären englischen Alpine Club, zu schätzen und erinnert an den Erstbesteiger Tyndall:

    "Vom Weisshorn-Aufstieg schreibt er, wie sein einheimischer Bergführer Wenger mehrmals versuchte, den Boden unter dem Felsüberhang, wo sie biwakierten, aufzulockern, um es ihm bequemer zu machen. Und während der Nacht wurde ihm derart kalt, dass er sich immer dichter an den Überhang drückte, um nicht noch mehr Wärme zu verlieren. Er wäre um jede Erleichterung froh gewesen."

    Um Punkt zwei in der Frühe ist es dann soweit: Mit seinem Schwyzerörgeli, also seiner Quetschkommode, tritt der Zermatter Bergführer Henry ins Schlaflager unter dem Dach. Die Routinierten reiben sich den Schlaf aus den Augen, die anderen haben, angespannt, ihn gar nicht erst finden können.

    Kaum dreißig Minuten und ein schweigsames Frühstück später brechen wir auf.

    "Die 1600 Höhenmeter sollte man schon so in fünfeinhalb, sechs Stunden schaffen, das sollte möglich sein. Das Weisshorn ist sicher kein Berg für Berganfänger oder so was. Ist wirklich eine große Tour, da muss es gute Alpinisten haben und wirklich Leute, die körperlich topfit sind, sonst geht das nicht."

    Mein Bergführer, Jonas, aus St. Niklaus unterhalb Randa, will heute den Gipfel zum 15. Mal machen. Mit gleichmäßigem, ruhigem Schritt laufen wir auf einem schmalen Pfad durch die dunkle Nacht zunächst eine Viertelstunde leicht bergauf zum Fluhgletscher, seilen uns dort an und queren das sehr rutschige, gefrorene Eis. Danach steigen wir erstmals zügig ins Felsgelände auf. Im Schein der Stirnlampe lässt sich von der weiteren Umgebung nicht viel erkennen, nur zeigt sich die zunehmende Höhe, wenn ab und an der Lichtstrahl neben den Schuhen sich in einem steilen Abgrund verliert.

    Und immer wieder gilt auf dem rutschigen Boden: Zwei Schritte vor, einer zurück. Auch zwei, drei heikle Felsplatten queren wir. Wie Jonas im unübersichtlichen Gelände unbeirrt die Route findet, ist ein ums andere Mal erstaunlich. Nach gut zwei Stunden erreichen wir den sogenannten Frühstücksplatz auf 3900 Metern, essen etwas Schokolade, Nüsse und getrocknete Beeren.

    "Ja bis jetzt sind wir gut in der Zeit. Es ist ein bisschen ein mühsamer Aufstieg, weil es sehr wenig Schnee hat. Die ganze Geröll-Passage ist normalerweise alles Schnee. Wir haben dieses Jahr Verhältnisse, von 4000 aufwärts haben wir sehr gut Schnee, überdurchschnittlich gegenüber anderen Jahren. Und unter 4000, da wir ein sehr trockenes Frühjahr hatten, haben wir sehr wenig Schnee. Also normalerweise kann man da schön im Schnee hoch laufen. Das heißt, es ist sehr, sehr viel schwieriger als normalerweise. Bis hierher. Von hier weg sind eigentlich die Verhältnisse gegeben wie andere Jahre auch, und oben ist's sehr ideal."

    Was sich von der unangenehm dunklen Bewölkung leider nicht sagen lässt. Dennoch klettern wir weiter auf dem eigentlichen Weisshorngrat. Und der wird bereits um den markanten Lochmatterturm herum ausgesetzter und etwas schwieriger. Dann rieseln erste Schneeflocken und wir erreichen die Wolkendecke. Was nun? Für den Vorabend war ein kräftiges Gewitter angekündigt, aber ausgeblieben. Sollte es jetzt im Anmarsch sein? Jonas ist sich nicht sicher, kann aber nichts ausschließen. Bei Blitz und Sturm auf dem teils messerscharfen Grat wie auf einem Präsentierteller? Das wollen wir nicht riskieren. Auch wenn es schwer fällt. Nach insgesamt drei Stunden, auf etwa 4100 Metern, kehren wir um.

    Im zunehmenden Tageslicht lässt sich das Gelände nun sehr gut erkennen, zweimal können wir Passagen durch Abseilen bequem überwinden, doch auf den Geröll-Passagen ist der Abstieg schwieriger als zuvor der Weg nach oben. Dreimal rutsche ich aus, hält mich Jonas im Seil oder kann ich mich mit dem Pickel fangen. Einmal müssen wir uns wegen Steinschlag blitzschnell unter einen schützenden Fels flüchten.

    Wiederholt schlägt Jonas mit der Pickelhaue Kerben oder Tritte ins blanke Perma-Eis. Alles eine schweißtreibende Abrackerei. Rund sechs Stunden nach dem Start haben wir wieder den Zustiegspfad erreicht, legen Seil und Sicherheitsgurt ab. Mit uns haben auch andere Seilschaften kehrt gemacht. Enttäuscht müssen wir von unten sehen, dass das Wetter doch gehalten hätte. Alpine Club-Mitglied Derrick aus England nimmt es sportlich:

    "Nun, ich denke, der Berg wird immer hier stehen. Besser, man kehrt um, wenn das Wetter nicht mitmacht. Man kommt wieder und versucht es beim nächsten Mal. Das ist besser, als weiter aufzusteigen und vielleicht in Schwierigkeiten zu geraten. So bin ich nach zwei Tagen hier oben zufrieden, heute etwas höher als gestern (Lachen). Ein anderes Mal."

    Später erfahren wir, dass es einige wenige Seilschaften doch auf den Gipfel gewagt haben. Ihnen bleibt vorbehalten, nachzuempfinden, was Tyndall 150 Jahre zuvor berichtet:

    "Wir standen auf dem höchsten Gipfel des gefürchteten Weisshorns. Die lange zurückgehaltenen Gefühle meiner beiden Gefährten brachen in einen wilden und oft wiederholten Jubelruf aus. Bennen warf seine Arme in die Luft und schrie wie ein Walliser. Wenger stieß den gellenden Ruf des Oberlandes aus."

    Was soll's? Ein wirkliches Abenteuer ist es auch so gewesen, am Ende zählen Erfahrung, Zufriedenheit und das Gefühl, etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. So sehen es auch die anderen, als sie bei Bier, einem roten Dôle oder weißen Fendant Henrys Spiel auf dem Schwyzerörgeli folgen.