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Ägyptisches Nachrichtenportal "Mada Masr"
Unerschrocken gegen die Staatspropaganda

Kritische Journalisten landen in Ägypten schnell im Gefängnis. Lina Attalah lässt sich davon nicht einschüchtern. Als Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenportals "Mada Masr" wird sie zu den einflussreichsten Menschen weltweit gezählt.

Von Anne Allmeling | 12.11.2020
Lina Attalah, Chefredakteurin der Nachrichtenseite Mada Masr, sitzend, kurzhaarig, mit einem roten Schal um den Hals.
Trotzt den Drohungen des ägyptischen Staates: "Mada Masr"-Chefredakteurin Lina Attalah (AP)
Gemütliche Sofas, ein paar Holztische und jede Menge Stühle stehen kreuz und quer im Redaktionsraum von "Mada Masr" – ein bisschen so wie im Wohnzimmer einer WG. Doch hier, im sechsten Stock eines unauffälligen Hauses im Kairoer Stadtteil Dokki, wird hart gearbeitet: Chefredakteurin Lina Attalah und ihr Team haben sich mit gründlichen Recherchen einen Namen gemacht. Auf ihrem Online-Portal berichten die Journalisten über alles, was ihnen wichtig erscheint – und in den meisten anderen ägyptischen Medien keinen Platz findet.
"Es gibt sehr, sehr wenige unabhängige Stimmen, und die können sich kaum über Wasser halten. Alle anderen Medien – egal, ob sie dem Staat gehören oder in Privatbesitz sind – müssen entweder die offizielle Linie vertreten oder sehr gut aufpassen, über was sie berichten, damit sie sich vor Repressionen oder hartem Durchgreifen der Behörden schützen können. Was also bleibt, sind sehr, sehr wenige Stimmen - meist online -, die versuchen, sich durch diese sehr repressive Umgebung zu navigieren. Und das hat seinen Preis."
Demonstranten rufen Slogans während eines seltenen Protestes gegen die Regierung in der Innenstadt von Kairo. Die Demonstranten forderten am späten Freitagabend den Sturz des ägyptischen Präsidenten al-Sisi. Oppositionsmedien berichteten von Demonstrationen auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo, Alexandria, Suez und Mansura. In Kairo seien mehrere Demonstranten von der Polizei verhaftet worden, berichtete die unabhängige Webseite Mada Masr.
Selten gewordenes Bild: Demonstranten fordern in Kairo den Sturz des ägyptischen Präsidenten Al-Sisi (Oliver Weiken/dpa)
Verhaftung nach Bericht über Präsidentensohn
Lina Attalah hat das selbst erlebt: Nach einer besonders sensiblen Geschichte über den Sohn des Präsidenten, der damals dem Geheimdienst angehört haben soll, wurden im November 2019 die Redaktionsräume von "Mada Masr" gestürmt, die Journalistin und zwei ihrer Kollegen von Sicherheitskräften abgeführt. Warum und auf welcher Grundlage, weiß Lina Attalah bis heute nicht:
"Wir haben es nicht mit einer politischen Autorität zu tun, die wir gut verstehen oder mit der wir verhandeln könnten. Sie ist unberechenbar. Deshalb ist es sehr schwierig, sich zu schützen, weil man nicht weiß, wo die Gefahren lauern, wer davon ausgenommen ist und wer nicht. Ich weiß zum Beispiel bis heute nicht, was damals tatsächlich geschehen ist und warum wir wieder freigelassen wurden."
Lediglich einige Stunden hatten Lina Attalah und ihre Kollegen in Gewahrsam verbracht. Dagegen sitzen heute etwa zwei Dutzend Journalisten in ägyptischen Gefängnissen – etliche von ihnen ohne Anklage. Eine Nachfrage des ARD-Studios Kairo beim ägyptischen Informationsministerium blieb bislang unbeantwortet. Ende März 2020 wurde eine britische Journalistin des Landes verwiesen, weil sie in ihrem Artikel für die Zeitung "The Guardian" eine Studie zitierte, die von Corona-Infektionszahlen in Ägypten ausging, die weit höher waren als die offiziellen.
Neue Gesetze schränken Pressefreiheit weiter ein
Auch, wer sich in den sozialen Medien äußert, kann schnell Schwierigkeiten bekommen. Wer dort den offiziellen Zahlen widerspricht, muss mit Geld- und Haftstrafen rechnen. Die ägyptische Regierung unter Präsident Abdel Fatah Al-Sisi hat in den vergangenen Jahren viele neue Gesetze erlassen, die die Pressefreiheit immer weiter einschränken und noch repressiver ist als unter Al-Sisis Vorgänger Hosni Mubarak, sagt Lina Attalah:
"Unter Mubarak hatten wir ein bisschen mehr Spielraum. Vor allem in den letzten fünf Jahren seiner Herrschaft: Da entstanden einige politische Bewegungen, es gab eine mehr oder weniger aktive Zivilgesellschaft, und so gab es auch unabhängigen Journalismus, also Medien in Privatbesitz. Aber heute wird der Spielraum immer enger. Was wir durchmachen, ist beispiellos. Das ist nicht zu vergleichen mit den Einschränkungen unter Mubarak."
"Wir wollen die Geschichten der Menschen hören"
Lina Attalah lässt sich trotzdem nicht einschüchtern. Als sie im Mai 2020 vor dem berüchtigten Tora-Gefängnis in Kairo die Mutter eines politischen Gefangenen interviewte, wurde sie erneut festgenommen. Erst Stunden später kam sie gegen Zahlung einer Kaution wieder frei. Der Staat sehe "Mada Masr" als Feind, sagt Lina Attalah – dabei gehe es ihr und ihren Mitstreitern um etwas ganz anderes:
"Wir sind nicht hier, um die Regierung zu bekämpfen. Wir sind hier, weil wir mit den Menschen sprechen wollen, ihnen andere Geschichten erzählen wollen und ihre Geschichten hören wollen. Und das auf eine interessante Art und Weise kunstvoll – und für mich ist das eine große Motivation. Uns geht es um den Journalismus."
"Mada Masr" twittert in die Welt
In Ägypten ist das Online-Portal von "Mada Masr" mit seinen Berichten auf Arabisch und Englisch blockiert. Die Arbeit der Journalisten hat dennoch enorme Wirkung: Fast 50.000 Menschen folgen Lina Attalah auf Twitter. Das "TIME Magazine" zählt sie in diesem Jahr zu den 100 einflussreichsten Menschen weltweit.