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Ärztin: Ich glaube nicht, dass das was bringt

Müsste sie Schulnoten für die Gesundheitsreform der Bundesregierung verteilen, so lägen die "irgendwo bei vier bis fünf," sagt die Kölner Ärztin für Allgemeinmedizin Inge Mirtschink. Der Versuch, den Kostenanstieg bei den Medikamenten zu bremsen, klinge zwar gut, geeignete Kriterien fehlten aber.

Dr. Inge Mirtschink im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.11.2010
    Christoph Heinemann: Wir werden immer älter, das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Da die Menschen in Deutschland viel zu wenige Kinder bekommen, schrumpft die Bevölkerung, oder anders ausgedrückt die Zahl der Beitragszahler.

    Gestern hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen die Neuordnung des Arzneimittelmarktes beschlossen, heute berät das Parlament über einen weiteren Eckpunkt der Gesundheitsreform. Auf der Tagesordnung steht die Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz GKV. Die wichtigsten Regelungen sind schnell vorgestellt. Der Beitragssatz soll von 14,9 auf 15,5 Prozent steigen, der Anteil, den die Arbeitgeber zahlen, soll bei 7,3 Prozent festgeschrieben werden, künftige Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sollen allein von den Versicherten über Zusatzbeiträge getragen werden – mit einer kleinen Einschränkung: für den Fall, dass der durchschnittliche Zusatzbeitrag zwei Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens übersteigt, ist ein Sozialausgleich vorgesehen.

    Noch einmal im Zeitlupentempo: 15,5 Prozent ist der zukünftige Beitragssatz, Arbeitgeberanteil 7,3 Prozent, Zusatzbeiträge kommen und sollten diese Zusatzbeiträge zwei Prozent des Einkommens übersteigen, dann gibt es einen Sozialausgleich.

    Pro und Contra fassen wir kurz zusammen. Wir hören zunächst Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler von der FDP.

    O-Ton Philipp Rösler: Es ist richtig, den Krankenversicherungsbeitrag festzuschreiben, um zu einer stärkeren Entkopplung zu kommen von den Krankenversicherungskosten auf der einen Seite und den Lohnzusatzkosten auf der anderen Seite und den Teufelskreis zu durchbrechen, der da lautet, mehr Gesundheit bedeutet weniger Beschäftigung. Dies ist ein wesentlicher Beitrag für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland insgesamt.

    Heinemann: ... , sagt der Gesundheitsminister. Und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält dagegen.

    O-Ton Karl Lauterbach: Der Privatversicherte ist der Patient erster Klasse, derjenige, der sich Zusatzversicherung und Vorkasse leisten kann, ist der Patient zweiter Klasse, und derjenige, der das alles nicht bezahlt, das ist der Patient der Holzklasse.

    Heinemann: ... , sagt Karl Lauterbach von der SPD. – Am Telefon ist jetzt die Allgemeinmedizinerin, praktizierend in Köln-Kalk, Dr. Inge Mirtschink. Einen schönen guten Morgen.

    Inge Mirtschink: Guten Morgen.

    Heinemann: Frau Mirtschink, Sie kennen die Praxis in des Wortes doppelter Bedeutung. Wie kann man nach Ihrer Erfahrung im Gesundheitssystem die Kosten senken?

    Mirtschink: Na ja, ich bin ja in der Holzklasse eigentlich tätig, wenn man das so sehen kann, und wenn ich Zeit genug habe, in meiner Praxis zu arbeiten, dann kann ich die Kosten insofern lenken, als ich in aller Ruhe sowohl die Anamnese erheben, als auch die Diagnose stellen und Schritt für Schritt eine Therapie einleiten kann. Das bemerke ich oft, dass ich damit auch Medikamentierung lenken kann, dass ich damit auch lenken kann, ob teuere Untersuchungen gemacht werden müssen oder nicht, und das ist auch ein Argument gegen diese viel gescholtenen häufigen Arztbesuche. Tatsächlich kosten die im Moment das System ja nichts, weil eigentlich nur der erste Arztbesuch bezahlt wird. Wenn ich jemanden wieder einbestelle, kann ich gucken, ob die Therapie greift, und kann durchaus eben auch sparen, muss nicht sofort mit allen Mitteln loslegen.

    Heinemann: Eine kleine Formulierung ließ mich eben stutzen. "Wenn ich Zeit habe", haben Sie gesagt. Was meinen Sie damit?

    Mirtschink: Ja, wenn ich Zeit habe. Ich kann mir meistens die Zeit nehmen, weil wir uns so entschieden haben, in unserer Praxis relativ mit Ruhe zu arbeiten. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, dass wir natürlich in eine finanzielle Klemme geraten, weil wir eigentlich nur pro Patient bezahlt werden, pro einmal Kommen. Das heißt, ich liege zwischen diesen beiden Schwierigkeiten, möglichst viele Patienten durchzuschleusen, oder aber in aller Ruhe zu arbeiten. Aber das ist jetzt erst mal nur das Problem auf dieser Ebene, ich will eigentlich nicht so viel nur über die Arztseite reden.

    Heinemann: Wobei die Ärzte ja klagen, dass genau das ihnen eben nicht bezahlt wird, wenn sie sich Zeit nehmen. Zahlt sich Zeit aus?

    Mirtschink: Ja! Die Zeit zahlt sich aus, weil ich besser verstehe, was mit einem Patienten ist, und weil ich eben tatsächlich Schritt für Schritt arbeiten kann.

    Heinemann: Frau Mirtschink, wenn ich Sie richtig verstanden habe, würden Sie sagen, wir haben eigentlich kein Problem mit der Einnahmenseite. Hieße das jetzt im Umkehrschluss, dass eine Beitragserhöhung eigentlich gar nicht notwendig ist?

    Mirtschink: Dass wir kein Problem haben mit der Einnahmenseite, kann ich so nicht sagen, weil natürlich öfter im Grunde auch mehr Gegenfinanzierungen nötig sind. Ich glaube aber, dass man tatsächlich mit der jetzigen Situation sehr viel einsparen könnte.

    Erstens, wenn tatsächlich die Arzneimittelausgaben kritisch durchleuchtet würden, was jetzt mit diesem neuen Gesetz wieder stark verwässert worden ist.

    Zweitens, wenn auch Therapiemethoden kritischer eingesetzt würden und kritischer durchleuchtet würden. Dazu würde es aber größere Unabhängigkeit der eingesetzten Institute bedürfen, und wie ich das jetzt sehe, ist das IQWIG eigentlich wieder mehr in der Bedeutungslosigkeit versunken, so wie das jetzt eingesetzt worden ist.

    Heinemann: Das Institut prüft die Medikamente. Gestern haben wir übrigens hier im Deutschlandfunk mit dem neuen Vorsitzenden gesprochen.

    Mirtschink: Dem Herrn Windeler.

    Heinemann: Genau! – Sie sprachen gerade vom Verwässern. Was meinen Sie damit genau?

    Mirtschink: Es ist ja vorgesehen in diesem neuen Gesetz, dass neue Medikamente, die besonders teuer sind, nach drei Monaten beurteilt werden sollen, ob sie tatsächlich richtig unnütz sind, statt umgekehrt, dass der Nutzen wirklich erbracht werden muss. Das ist nach drei Monaten unmöglich.

    Heinemann: Wie viel Zeit würden Sie veranschlagen?

    Mirtschink: Im Grunde genommen ist ja das eine Studiensituation, wenn ein neues Medikament auf den Markt kommt, und das dauert nach meiner Erfahrung zwei, drei Jahre, bis man feststellen kann, ob ein Medikament gravierende Nebenwirkungen hat und ob es wirklich einen Zusatznutzen bringt.

    Heinemann: Aber ist es nicht gut, dass die Pharmaindustrie jetzt in Zukunft die Preise nicht mehr einfach festlegen kann, sondern sie aushandeln muss, mit den Krankenkassen zum Beispiel?

    Mirtschink: Das klingt zunächst mal gut, aber da es eigentlich keine klaren, fundierten Kriterien gibt, wie man das machen kann, und die Erarbeitung dieser Kriterien mit den neuen Gesetzen eigentlich nicht festgelegt ist, glaube ich nicht, dass das was bringt.

    Heinemann: Wobei ja noch die Grundsatzfrage zu klären ist, ob das wirklich alles in die richtige Richtung geht. Wenn die Pharmaindustrie weniger Geld verdient, dann kann sie auch weniger Geld in die Forschung stecken. Das heißt, möglicherweise lebensrettende Krebsmedikamente kommen dann eben erst Jahre später, oder überhaupt nicht auf den Markt. Kann man das wollen?

    Mirtschink: Das ist gerade ein schwieriges Gebiet, das mit den Krebsmedikamenten. Ich möchte erst mal das allgemein zusammenfassen. Ich glaube, dass es eine gemeinsame Forschung geben muss. Es ist sicher sehr geldaufwendig, dass ganz viele Firmen gleichzeitig forschen, dass auch geforscht wird auf Medikamentengebieten, die im Grunde gar nichts Neues brauchen, also zum Beispiel Mittel gegen Bluthochdruck oder auch Schmerzmittel. Da sind wir im Grunde ganz gut ausgerüstet. Es wird eigentlich schon seit Jahren von vielen Leuten gefordert, dass es ein Institut geben müsste, was von allen Pharmafirmen bezahlt wird, was also unabhängige Forschung betreibt. Das wäre sicher sinnvoll und würde auch große Kosten sparen.

    Heinemann: Ich möchte Ihnen Scherereien mit der Pharmaindustrie ersparen. Dennoch die Frage: Kennen Sie oder kennen Kollegen überflüssige Medikamente?

    Mirtschink: Ja, klar.

    Heinemann: Zum Beispiel?

    Mirtschink: Also es gibt das so und so vielte Bluthochdruckmittel, was man nicht braucht. Schmerzmittel habe ich ja eben schon gesagt. Da glaube ich, dass einige überflüssig sind. Ja, das sind so wichtige Sachen. Das Problem: das Gebiet der Onkologie, also der Tumorbehandlung, ist sehr schwierig zu besprechen. Ich glaube, dass auch da zum Teil die Forschung in die falschen Richtungen geht.

    Heinemann: Frau Dr. Mirtschink, auch unsere Korrespondenten sind Menschen aus Fleisch und Blut und gehen regelmäßig zum Arzt, so zum Beispiel Volker Finthammer, unser Europakorrespondent, der uns seine Erfahrungen aus Brüssel schildert, und das hören wir uns bitte gemeinsam an.

    Beitrag Volker Finthammer: MP3-Audio zum Nachhören

    Heinemann: Wir sprechen mit der Kölner Allgemeinmedizinerin Dr. Inge Mirtschink. – Könnte das deutsche Gesundheitssystem am belgischen Wesen genesen?

    Mirtschink: Nein, sicher nicht. Der erste Punkt ist, wir bekommen im Moment 33 Euro als Grundpauschale für einen Patienten als Allgemeinärzte, 33 bis 38 Euro je nach Gebiet in Deutschland. Damit ist das eigentlich abgegolten, was wir tun, ob wir Hausbesuche machen, oder ob der Patient jede Woche einmal kommt. Also gibt es da auf diese Weise gar keine Einsparmöglichkeit, wenn man die Leute aus der Praxis hält. Ich halte es auch für zutiefst unsozial, dass man in Vorkasse gehen muss, weil gerade die Leute, mit denen ich arbeite in Köln-Kalk, das großteils überhaupt nicht können. Von daher halte ich das für schwierig, ich halte es auch für ganz pragmatisch unsinnig, ich wüsste nicht, wie ich das Geld immer eintreiben sollte und hätte auch keine Lust zu dieser zusätzlichen bürokratischen Maßnahme.

    Heinemann: Frau Mirtschink, jetzt kommt die Frage nach der Benotung. Zwischen eins und sechs, welche Note würden Sie der Gesundheitsreform der Bundesregierung erteilen?

    Mirtschink: Die ist irgendwo bei vier bis fünf.

    Heinemann: Oh! Die Versetzung ist gefährdet?

    Mirtschink: Ja!

    Heinemann: ... , sagt die Kölner Ärztin Inge Mirtschink in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Mirtschink: Auf Wiederhören!