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Afrikanische Flüchtlinge
Europa und "die neue Völkerwanderung"

Wöchentlich flüchten Tausende Afrikaner über das Mittelmeer nach Europa. Knapp 4000 von ihnen sind nach UN-Angaben allein in diesem Jahr schon in den Fluten ertrunken. Und doch könnte diese Fluchtwelle erst der Anfang sein, warnt ein äthiopischer Publizist - dann nämlich, wenn Europa Afrikas Despoten nicht endlich die Stirn bietet.

Von Marc Engelhardt | 07.11.2016
    Flüchtlinge aus Afrika stehen in einem Schlauchboot, das im Mittelmeer treibt - sie werden schließlich von einem italienischen Rettungsschiff geborgen.
    Flüchtlinge aus Afrika stehen in einem Schlauchboot, das im Mittelmeer treibt - sie werden schließlich von einem italienischen Rettungsschiff geborgen. (dpa / picture-alliance / Giuseppe Lami)
    Asfa-Wossen Asserate hat einen Alptraum. Den Alptraum, so schreibt er, dass sich Millionen von Afrikanern, getrieben von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, auf den Weg nach Europa machen. Und der Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, der seit bald 50 Jahren in Deutschland lebt, benennt auch die Schuldigen:
    "Ich würde sagen, dass die größten Exporteure von Migranten auf dieser Welt afrikanische Gewaltherrscher und Diktatoren sind, die ihrem eigenen Volk nicht die Möglichkeit geben, in ihren eigenen Ländern ein menschenwürdiges Dasein zu führen."
    "Die neue Völkerwanderung", so heißt Asserates neues Buch. Und weiter im Untertitel: "Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten". Während Europa bereits wegen rund einer Million Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien zu zerbrechen droht, übersieht der Kontinent laut Asserate eine noch viel größere Gefahr für dessen Zukunft als freiheitlicher Kontinent: Den potentiellen Zustrom von Millionen Afrikanern, denen ihre Despoten jede Perspektive rauben. Asserate betont, wie nah Afrika Europa ist: Kaum mehr als ein Dutzend Kilometer entfernt an der engsten Stelle des Mittelmeers. Dass Europa alle seine Küsten abriegeln könnte, so wie es derzeit die europäische Grenzschutzagentur Frontex versucht, glaubt der Autor nicht. Auch deshalb legt er Brüssel eine andere Strategie nahe: Nämlich Afrikas Despoten die Stirn zu bieten.
    "Europa muss endlich Schluss machen mit der fatalen Appeasement-Politik gegenüber Afrikas Potentaten. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, den Regierenden vorzuschreiben, wie sie ihr Land zu regieren haben oder ihnen das Staatsmodell der westlichen Demokratien zu oktroyieren. Aber man sollte die Einhaltung der Grundsätze einfordern, die Afrikas Staaten selbst als verbindlich anerkannt haben. [...] Afrikas Staaten sind nun seit mehr als 50 Jahren unabhängig. Sie erwarten zu Recht, dass der Westen sie als gleichberechtigte Partner wahrnimmt. Dazu gehört aber auch, dass man Kritik zulässt. Regierungen, die das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit missachten und die Menschenrechte mit Füßen treten, verdienen keine Unterstützung."
    Europa kooperiert mit Diktatoren
    "Good Governance", "Gute Regierungsführung", ist der Dreh- und Angelpunkt von Asserates Vision für Afrika: Nur gute Regierungen entwickelten ihr Land, gäben Hilfen an Bedürftige weiter und verhinderten damit Flucht. Asserate kennt Afrika, und in weiten Teilen des Buchs führt er auf, für welche Gräueltaten schlechte Regierungen in Afrika verantwortlich waren und sind. Genauso gut kennt er Europas Regierungen, denen er zu Recht vorwirft, selbst schlimmste Diktaturen alimentiert zu haben und dies weiterhin fortzusetzen - immer im Sinn vermeintlicher Stabilität und der Fluchtbekämpfung. Besonders scharf kritisiert Asserate den Khartum-Prozess, in dem 58 europäische und afrikanische Staaten vor zwei Jahren ausgehandelt haben, Flucht künftig einzudämmen - und zwar mit Hilfe von Geld. Mit dabei sind auch höchst umstrittene Regimes wie jenes im Sudan oder in Eritrea:
    "Will die EU tatsächlich mit einem diktatorischen Regime wie dem in Eritrea kooperieren und es dafür noch belohnen, dass es mit seiner unmenschlichen Politik die eigene Bevölkerung aus dem Land jagt? Will die EU tatsächlich mit Leuten wie Sudans Präsident Umar al-Bashir zusammenarbeiten, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag wegen mutmaßlichen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur vorliegt? Laut dem Aktionspapier jedenfalls soll im Sudan ein 'regionales Trainingszentrum zum Kampf gegen Menschenhandel und –schmuggel' entstehen. Dabei bezahlt die EU bereits heute 200 Millionen Euro an Eritrea im Rahmen eines Projekts zur Bekämpfung der Fluchtursachen."
    Die Antworten auf Asserates Fragen sind eigentlich offensichtlich: Ja, Europa kann, will und wird mit Diktatoren und fragwürdigen Gestalten zusammenarbeiten, um seine Ziele zu erreichen. Europa tut das schon lange. Das sollte Asserate an den guten Absichten Europas selber zweifeln lassen.
    Unterschätztes afrikanisches Selbsthilfe-Potential
    Doch so sehr er Fremdenfeindlichkeit und Populismus in Europa verurteilt, unfaire Handelsverträge und hohe Einreisehürden für Afrikaner kritisiert, sogenannte Migrationspartnerschaften und Rücknahmeabkommen bemängelt - so sehr drückt Asserate Europa gegenüber doch immer wieder ein Auge zu, wie er selber zugibt:
    "Ich mag in dieser Hinsicht blauäugig sein, aber ich sage tatsächlich in vollem Bewusstsein, dass wir hier in der Bundesrepublik Deutschland die größte Demokratie der Welt haben. Und insofern erwarte ich von so einer Regierung auch, dass sie verstehen, dass afrikanische Gewaltherrscher in Zukunft nicht toleriert werden müssen."
    Die Rettung Afrikas liegt bei Asserate letztlich in den Händen der Europäer. Ob Europa Afrika aber retten kann oder auch will, ist eine Frage, die offen bleibt. Zu kurz kommt dagegen die Rolle der Afrikaner. Asserate erwähnt nur am Rand die Proteste, die Burkina Fasos Präsidenten Blaise Compaoré nach 27 Jahren Herrschaft zur Flucht zwangen. Sind es nicht solche aus dem Volk entstandenen Aufstände, die Afrika wirklich retten könnten? Darüber, und über die nötigen Veränderungen in Europa, läse man gerne mehr. Im Zweifel auf Kosten all der geschichtlichen, politischen oder ökonomischen Exkurse, die in den ersten drei Kapiteln viel zu viel Raum einnehmen. Zu seinem eigentlichen, titelgebenden Thema kommt das Buch nämlich erst nach mehr als 100 Seiten.
    "Die neue Völkerwanderung" ist ein umfassendes Buch. Gerade diejenigen, die Afrika nicht gut kennen, können viel über den Kontinent, seine Geschichte und die Nöte erfahren, die viele Afrikaner zur Flucht treiben. Und mit seiner Kernthese hat Asserate unbedingt recht: Europa muss seine Afrikapolitik ändern. Ob Appelle, und ein solcher ist Asserates Buch, das aber erreichen können, bleibt ungewiss. Der Autor gibt darauf keine Antwort.
    Asfa-Wossen Asserate: "Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten"
    Propyläen Verlag, Berlin 2016. 200 Seiten, 20 Euro.