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Akademisches Prekariat
Widerstand an deutschen Hochschulen wächst

Junge Wissenschaftler an deutschen Universitäten hangeln sich häufig von einem befristeten Vertrag zum nächsten. Die prekären Rahmenbedingungen animieren die Beschäftigen zwar zu Höchstleistungen, führen aber auch zu Ausbeutung und Selbstausbeutung. Auf einer Tagung an der Uni Jena haben junge Akademiker über Alternativen diskutiert.

Von Henry Bernhard | 12.05.2017
    Formeln stehen auf einer schlecht gewischten Tafel am 29.10.2012 in Berlin in einer Vorlesung "Mathematik für Chemiker" im Walter-Nernst-Haus auf dem Campus Adlershof der Humboldt-Universität.
    Nur jeder sechste der an deutschen Hochschulen Beschäftigten arbeitet unbefristet in Vollzeit – fast ausschließlich die Professoren. (picture-allicance / dpa / Jens Kalaene)
    Eine Gruppe junger Akademiker – Studenten, Absolventen, Doktoranden, Dozenten – steht schweigend vor einer Riesen-Flipchart. Der Filzstift kratzt über das Papier. Sie sollen die Frage diskutieren, welche positiven Aspekte sie in ihrer aktuellen Beschäftigungssituation sehen. Diskutieren – aber schriftlich, um Hierarchien und Ängste zu vermeiden. So entstehen kleine Dialoge auf dem Blatt:
    "Ich kann lange schlafen." – Darauf die Frage: "Wie gut?"
    Viele sind froh, im Wissenschaftsbetrieb zu arbeiten, ihren Neigungen nachgehen zu können, mit Gleichgesinnten im Austausch zu sein.
    "Unsicherheit isst mit am Abendbrotstisch der Familie"
    Ein paar Meter weiter diskutiert eine andere Gruppe die Frage, welche negativen Aspekte ihre Beschäftigungssituation mit sich bringt. Da fällt den jungen Akademikern einiges ein. Das Riesenblatt ist vollgeschrieben: Der Druck wird beklagt, die Abhängigkeit vom Lehrstuhlinhaber, die Verengung der Karriereperspektive auf eine Professur, die unbezahlten Überstunden, die fehlende Planungssicherheit in Beruf und Familie. Thomas Engel, ein Arbeitssoziologe, hangelt sich seit 16 Jahren von Vertrag zu Vertrag.
    Thomas Engel: "Na ja, man muss immer gegenwärtig vor Augen haben, dass es nicht klappt und stellt sich auch darauf ein, dass es passieren könnte, überlegt sich eine Argumentation fürs Arbeitsamt. Und die Unsicherheit ist mit am Abendbrotstisch der Familie."
    Sein Kollege Christian Schädlich hat zwei Jahre lang als Lehrbeauftragter gearbeitet, für 19 Euro die Stunde, ohne Bezahlung für Vor- und Nachbereitung, für Prüfungen, für Sprechstunden. Ohne Krankenversicherung.
    Christian Schädlich: "Bei mir war das privat sehr lang sehr schwierig. Ich habe einen Sohn, der ist jetzt vier Jahre alt, und meine Frau war noch nicht fertig mit dem Studium, wollte zum Glück nicht akademisch sein. Das hat sich zum Glück erst entspannt, als sie dann einen Job angetreten hat in der freien Wirtschaft, der war dann gleich unbefristet. Dann ging das gut. Bis dahin war das Leben mit Hartz IV."
    Nur jeder sechste der an deutschen Hochschulen Beschäftigten arbeitet unbefristet in Vollzeit – fast ausschließlich die Professoren. Der Kampf um die sichere Professorenstelle sei hart, meint der Organisator der Jenaer Tagung, Hans Rackwitz, selbst Doktorand.
    Hans Rackwitz: "Um mich in dieser harten Konkurrenz durchzusetzen, dann strenge ich mich eben noch ein bißchen mehr an; sie versuchen sozusagen, ihre individuelle Lösung für dieses strukturelle Problem zu finden. Prekarität wirkt so als Disziplinierungs- und Kontrollregime. Es diszipliniert und kontrolliert die Beschäftigten, animiert sie zu Höchstleistungen, aber auch zu Überausbeutung und Selbstausbeutung."
    Nach der Dissertation sollte man eine Perspektive haben
    Peter Ullrich, Soziologe an der TU Berlin, ist einer der Mitbegründer des bundesweiten "Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft", das fordert, das Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft abzuschaffen.
    Peter Ullrich: "Also, es ist klar, dass man, um dauerhaft wissenschaftlich tätig sein zu können, seine wissenschaftliche Befähigung nachweisen muss. Dazu dient die Dissertation. Danach ist Schluss mit Befristung, da sollte man eine Perspektive haben."
    Es gebe intelligentere Möglichkeiten, als Wissenschaftler prophylaktisch rauszuwerfen oder immer wieder zu befristen. Dafür wollen sich die in Jena Versammelten einsetzen. Ullrich erwähnte gelungene Beispiele.
    Peter Ullrich: "In England beispielsweise bekommen nach der Promotion die Mitarbeiter an Hochschulen in der Regel unbefristete Arbeitsverträge, können sich dann aber weiterentwickeln. Also, Leute, die Personalverantwortung haben, die viele Projekte haben, die besonders anspruchsvolle Bücher schreiben, kriegen dafür auch eine andere Gratifikation, können andere Stellenprofile entwickeln."
    Unterstützung, wenn auch nicht ungeteilt, erhielten sie dabei von Klaus Dörre, Soziologie-Professor an der Uni Jena. Der sorgt sich, dass unbefristete Verträge zu wissenschaftlichem Stillstand führen und den Nachwuchs blockieren.
    Klaus Dörre: "Wenn ich an die bevorstehenden technologischen Umbrüche denke, wenn ich an die Alterung der Gesellschaft denke … Und wenn das die richtige Stoßrichtung wäre, dann, glaube ich, wären Länder wie Thüringen sehr gut beraten, wenn sie attraktive Arbeitsverhältnisse auf jeder Stufe bieten würden. Das wäre, glaube ich, eine größere Attraktion, als einem Exzellenzwettbewerb hinterher zu hecheln, wo aber so furchtbar viel nicht rauszuholen ist."