Freitag, 19. April 2024

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Albertine Sarrazin: "Der Ausbruch"
Schreiben in größter Einsamkeit

Albertine Sarrazin, die das Leben einer Kleinkriminellen führte, war ein Star der Pariser Bohème der späten 1960er-Jahre. Ihr Roman "Der Ausbruch" ist gerade neu ins Deutsche übersetzt worden. Darin erzählt Sarrazin sensibel und witzig von der Monotonie eines Gefängnisaufenthaltes.

Von Tanya Lieske | 08.08.2018
    Buchcover: Albertine Sarrazin: "Der Ausbruch"
    Albertine Sarrazin erzählt in "Der Ausbruch" von einem ihrer vielen Gefängnisaufenthalte (Buchcover: Ink Press, Foto: AFPFred Dufour )
    Wie genau sollte man gekleidet sein, wenn man eben nicht damit rechnet, verhaftet zu werden? "Ich bin bestens ausstaffiert, um heute Abend im Knast zu landen: Opossum und Hose", sagt die Erzählerin dieses Romans. Patti Smith, die amerikanische Rockmusikerin, erklärte diesen ersten Satz zu einem der besten Romananfänge der französichen Literatur. Man folgt Patti Smith, die eine große Verehrerin von Albertine Sarrazin ist, gern in ihrem Urteil: Opossum und Hose, grandios! Das Tierfell wird wegen seines Werts sofort beschlagnahmt und die Hose – nun gut. Die Gefangene, sie heißt Anick Damien, weiß bereits, was folgen wird. Jeder Gefängnisaufenthalt beginnt für sie mit einer Leibesvisitation, es soll ja nichts hineingeschmuggelt werden in den Knast. Der Humor, mit dem Anick Damien diese ersten Szenen schildert, ist rauchig, schwarz grundiert und brüchig: Da, wo er Risse bekommt, schimmern die Sprachkunst und die Sensibilität der Autorin durch:
    "Muss auch die Hose ausziehen, das Tragen ist nicht gesund, erleichtert vielleicht das Auf-den-Stuhl-Klettern für die Blutabnahme, genannt Pflaumenbaum, würde allerdings die Einfuhr des Spekulums stören. Also wenn Sie in den nächsten Tagen mit Ihrer Verhaftung rechnen, haben Sie den Hintern immer nackt und einen Koffer mit Wäsche griffbereit."
    Die Frau, die hier spricht, empfiehlt sich dem Leser: Sie hat Biss, Verve und Ironie; und natürlich hat sie Knasterfahrung. Einmal drinnen, schaut sie sich schnell um. Es handelt sich um ein Frauengefängnis der französischen Provinz in den frühen 60er Jahren. Albertine Sarrazin tritt die Haft, über die sie hier schreibt, an einem literarisch imprägnierten Ort an. Sie wird in das Gefängnis von Pontoise gebracht. Pontoise ist eine Kleinstadt nordöstlich von Paris, in der ein gutes halbes Jahrtausend zuvor der poète maudit, der verfluchte Dichter und Kleinkriminelle François Villon geboren wurde. Mit ihm und seiner berühmten "Ballade der Gehängten" beginnt die europäische Gefängnisliteratur. Diese ist seither eine Literatur, die Zeugnis ablegt: von letzten Zeilen, von den Entbehrungen der Haft, von der Not ihrer Verfasser.
    Die Monotonie der Tage im Gefängnis
    Der Schrei aus der Tiefe in Erwartung des sicheren Todes ist allerdings heute nicht mehr die zentrale Trope. Stattdessen findet sich auch bei Sarrazin viel von der Monotonie der Tage, vom Warten auf Irgendwas und Irgendwen, vom Schwanken zwischen Selbstaufgabe und Übermut. Dieser Roman beeindruckt nicht durch seine Handlung, sondern durch die imaginationsreiche Sprache der Anick Damien. Sie bewegt sich leichtfüßig zwischen Argot und Hochsprache, kann selbstironisch und verschlagen sein, ihre Absichten mal durchschimmern lassen oder diese diskret verbergen. Die Übersetzerin Claudia Steinitz bewältigt die vielen Stil- und Ausdrucksebenen mit großer Eleganz. Sie übersetzt derzeit das Gesamtwerk, wird zu gegebener Zeit auch die Gefängnisgedichte von Albertine Sarrazin übersetzen, deren lyrisches Talent immer wieder aufblitzt:
    "Im Knast werden aus endlosen Tagen Wochen wie Blitze und Monate wie ein Windhauch. Und die ganze Wartezeit verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen, kaum ein paar graue Bilder und kurze Szenen im Schädel: Die Bürde des Chronos."
    Anick Damien, die Erzählerin dieses Romans, ist sehr jung, Anfang zwanzig, und sie ist so klein, dass sie in der Anstaltskleidung versinkt. Sie besitzt die Physis der zierlichen Autorin Albertine Sarrazin, die kaum 1,50 Meter groß war; und sie trägt Namen, die diese zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens angenommen hat: Als Anick betrat sie mit 15 Jahren ihre erste Haftanstalt, Damien war der Name, den sie dem unehelich geborenen Kind 1937 in Algiers gab. Für ihren Roman gruppiert Albertine Sarrazin die biographischen Bruchstücke ihres Lebens neu und um. Man weiß heute außerdem, dass sie ihn mit einem Kuli in enger Schrift in Schulhefte schrieb, dass die Anstaltspsychologin diese nach draußen schmuggelte, dass Simone de Beauvoir das große Talent der jungen Autorin erkannte, ihr Mut zusprach und ihr zu einer Überarbeitung riet. Diese hätte allerdings weiter reichen können. Manche Passagen, etwa Anick im Clinch mit den Finessen des französischen Justizvollzugs, entziehen sich schlicht dem Verständnis heutiger Leser.
    Der titelgebende Ausbruch bleibt ein Plan
    Hinzu kommt die kniffelige Entscheidung der Titelgebung. Der Originaltitel des Romans ist "La Cavale", wörtlich: "Der Ausbruch." Ein Ausbruch hat tatsächlich stattgefunden, aber in einem früheren Leben, in einem anderen Roman. Albertine Sarrazin berichtet davon in "Astragalus": Sie sprang 1957 von einer zehn Meter hohen Gefängnismauer, verletzte sich den Fußknöchel schwer, wurde von ihrem künftigen Mann gerettet. Der Mann, Julien Sarrazin heißt er, kehrt nun wieder unter dem literarischen Decknamen Zizi. Mit ihm plant Anick einen weiteren Ausbruch. Doch man begreift rasch, dass der nicht stattfinden wird: Mal ist das Seil zu kurz, mal wird der Fluchtplan vereitelt, mal zerkrümelt die Seife, die einem Dietrich als Vorlage dienen soll.
    "Zi erklärt mir, wie man schöne Abdrücke bekommt, nämlich mit Seife, und wie ich sie ihm am besten zukommen lassen soll, in einer leeren Dose, am besten von einem Camembert. (...). Für diese Abdrücke geht mein ganzer Vorrat drauf: die Seife splittert, die Halbschale bricht, ich muss von vorn anfangen."
    Der zweite Ausbruch der Anick/Albertine bleibt pure Fiktion. Ein Luftvorhaben, ein episches Warten auf Godot mit starkem Verweis auf die repetitive Struktur des Textes. Um Irritationen vorzubeugen, haben deutsche Verleger für frühere Übersetzungen den Titel "Kassiber" gewählt. Das war sehr gelungen, denn das Wort spielt an auf die vielfache Selbstverschlüsselung des Textes. Und es fasst zusammen, worum es hier eigentlich geht: um Schreiben in der größten Einsamkeit, um einen Roman, der nur dann jemals existieren wird, wenn er nach draußen geschmuggelt wird. Was zum Glück gelungen ist.
    Albertine Sarrazin: "Der Ausbruch"
    Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz.
    Verlag Ink Press, Zürich. 528 Seiten, 26 Euro.